Der Fall Puigdemont – ein europäisches Problem!
Still geworden war es um Carles Puigdemont, ehedem 130. Präsident der Generalitat de Catalunya und seit einem halben Jahr auf der Flucht vor einem Haftbefehl der spanischen Justiz wegen „Rebellion“ (Art. 472 des spanischen Strafgesetzbuches) sowie der Veruntreuung öffentlicher Gelder (Art. 432, 252 des spanischen Strafgesetzbuches). Bis zu seiner Festnahme am 25. März 2018 – jenem Tag, an dem aus dem Konflikt zwischen der katalanischen Sezessionsbewegung und Spanien auch ein deutsches Problem geworden ist. Am Oberlandesgericht im beschaulichen Schleswig und – folgt Puigdemont dem Rat seines Anwalts – gegebenenfalls auch an der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe soll es nun liegen, ob er an Spanien ausgeliefert und es seinen Anhängern dort gelingen wird, ihn zum Opfer einer ungehemmten spanischen Zentraljustiz zu stilisieren.
Doch ist die Auslieferung von Carles Puigdemont nun tatsächlich allein der deutschen Justiz überantwortet? Zweifel sind angebracht. Denn blickt man genauer auf den EU-Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl, wird schnell deutlich: Es stellen sich eine Reihe europarechtlicher (Vor-)Fragen, zu deren Auslegung allein der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) berufen ist.
Dies betrifft zunächst den Vorbehalt der beiderseitigen Strafbarkeit. Bekanntlich räumt der Rahmenbeschluss den Mitgliedstaaten die Befugnis ein, die Überstellung des Beschuldigten davon abhängig zu machen, dass die Handlungen, derentwegen der Europäische Haftbefehl ausgestellt wurde, eine Straftat nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats darstellen, unabhängig von den Tatbestandsmerkmalen oder der Bezeichnung der Straftat. In Umsetzung des EU-Rahmenbeschlusses hat der deutsche Gesetzgeber von dieser Befugnis Gebrauch gemacht. Danach ist die Auslieferung nur zulässig, wenn die dem Beschuldigten vorgeworfene Tat auch nach deutschem Recht den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht, oder wenn sie bei „sinngemäßer Umstellung des Sachverhalts“ auch in Deutschland strafbar wäre. Dieses Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit hat der EuGH – freilich im Fall eines einfachen Einbruchsdiebstahls – jüngst dahingehend präzisiert, dass die zuständige Behörde des um Überstellung ersuchten Staates „nicht zu prüfen [habe], ob das vom Ausstellungsstaat geschützte Interesse verletzt wurde, sondern ob dann, wenn die betreffende Straftat im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, dem diese Behörde zuzurechnen ist, begangen worden wäre, ein ähnliches, vom nationalen Recht dieses Staates geschütztes Interesse als verletzt gegolten hätte“ (Urteil vom 11. Januar 2017, C-289/15, Grundza, Randnr. 49).
Aber bedeutet dies nun tatsächlich, dass den spanischen Verfolgungsorganen gemäß dem EU-Rahmenbeschluss ein sehr spezifisches Staatsschutzdelikt des deutschen Strafrechts zugutekommen kann? Einen Tatbestand wie den „Hochverrat“, der einzig und allein den Bestand der Bundesrepublik Deutschland – nicht Spaniens – schützt und der schon aufgrund der verfassungsrechtlichen Besonderheiten des deutschen Föderalismus auf die spanische Verfassungsordnung nicht einfach übertragen werden kann? Müsste in diesem Zusammenhang dann nicht auch geprüft werden, ob das deutsche Grundgesetz – entgegen den vagen Andeutungen des BVerfG (Nichtannahmebeschluss vom 16. Dezember 2016 – 2 BvR 349/16) – anders als die spanische Verfassung aufgrund freier (wenngleich gewiss: tumultartiger) Abstimmungen ein Sezessionsrecht einzelner Bundesländer erlaubt (kann es z.B. dem Saarland verwehrt sein, sich in freier Selbstbestimmung Frankreich an- oder mit Luxemburg zusammenzuschließen?)? Wollte – wovon der deutsche Umsetzungsgesetzgeber offenbar ausging (BT-Drs. 15/1718, S. 18) – der Rahmenbeschluss zum EU-Haftbefehl solche hochpolitischen Angelegenheiten, die notwendig auf das spezifische Verfassungs- und Föderalismusverständnis der jeweiligen Mitgliedstaaten und seine historischen Erfahrungen zurückgehen, wirklich erfassen und somit eine Auslieferung von den Zufälligkeiten des jeweiligen Festnahmeortes abhängig machen?
Anders als die Generalstaatsanwaltschaft in Schleswig Holstein (Medien-Information vom 3.4.2018) wird man dies mit guten Gründen bezweifeln können: Ausweislich seines zwölften Erwägungsgrundes soll nach dem EU-Rahmenbeschluss ein Europäischer Haftbefehl abzulehnen sein, wenn „objektive Anhaltspunkte“ dafür vorliegen, dass der Haftbefehl Personen betrifft, die auch aus Gründen ihrer „politischen Überzeugung“ verfolgt werden. Wie immer man dies versteht – dem Unionsgesetzgeber dürfte durchaus bewusst gewesen sein, dass es politisch brisante Auslieferungsbegehren geben mag, die so tief in die innere Verfasstheit und Ordnung des Ausstellungsstaates eingreifen, dass sie das Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten und ihren Bürgern eher belasten als fördern können. Es ist alles andere als eindeutig – geschweige denn vom EuGH geklärt –, dass die Gerichte und Justizbehörden des Vollstreckungsstaates in einem solchen Falle, der zwangsläufig als Einmischung in die domaine reservé des Ausstellungsstaates eingreift, zu einer Überstellung gezwungen sind. Denn es ist nach dem EU-Vertrag keineswegs nur die „nationale Sicherheit“, sondern es sind ggf. auch die „Wahrung der territorialen Unversehrtheit“ sowie die „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung“, die explizit in „die alleinige Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten“ gestellt werden (Art. 4 EUV).
Unabhängig vom Vorbehalt der beiderseitigen Strafbarkeit schließt sich hieran eine weitere Frage an: Sind die deutschen Justizorgane gemäß dem EU-Rahmenbeschluss ausnahmsweise zur Verweigerung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls berechtigt? Und wenn ja: Welches sind die europarechtlichen Maßstäbe, nach denen sich ihr dann bestehendes Auslieferungsermessen beurteilt?
Vom Gerichtshof brauchten diese Fragen bislang nicht näher erörtert zu werden. Der EuGH hat zwar stets – und zu Recht – betont, dass die Vollstreckung eines ordnungsgemäß ausgestellten Haftbefehls nur in den in diesem Rahmenbeschluss abschließend aufgezählten Fällen abgelehnt werden darf und seine Vollstreckung nur an eine der Bedingungen geknüpft werden kann, die in diesem Rahmenbeschluss aufgeführt ist. Stets hat er aber den Justizorganen des ersuchten Mitgliedstaates ein kleines Hintertürchen offen gelassen: Er hat nämlich auch zum EU-Rahmenbeschluss stets hervorgehoben, dass „unter ‚außergewöhnlichen Umständen‘ Beschränkungen der Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten möglich sind“, d.h. von einer Überstellung abgesehen werden darf (Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C-404/15 und C-659/15 PPU, Randnr. 82; Urteil vom 29. Juni 2017, C-579/15, Popławski, Randnr. 19; Urteil vom 23. Januar 2018, C-367/16, Piotrowski, Randnr. 49).
Handelt es sich bei jenen Staatsschutzdelikten, die Carles Puigdemont vorgeworfen werden, um „außergewöhnliche Umstände“, die vorliegend eine Ausnahme von den Grundsätzen des EU-Rahmenbeschlusses rechtfertigen? Auch darüber lässt sich trefflich streiten. Gewiss begründet nicht jedes ungewöhnliche Auslieferungsbegehren einen außergewöhnlichen Umstand, der die Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung infrage stellen kann. Auf der anderen Seite spricht – auch im Lichte von Art. 4 EUV – viel dafür, dass der EU-Rahmenbeschluss überfordert würde, wenn man ihn auf Fälle wie den vorliegenden anwendet, in denen dem Vollstreckungsmitgliedstaat zugemutet wird, zur Eskalation eines innerstaatlichen Konfliktes beizutragen. Das Königreich Belgien dürfte jedenfalls zu dieser Frage eine andere Auffassung einnehmen als etwa die spanische Regierung.
Wie dem auch sei: Für die Klärung dieser originär europarechtlichen Fragen sind weder das OLG Schleswig noch das BVerfG der geeignete Ort – schließlich geht es um die letztinstanzliche Auslegung eines Rechtsaktes, zu der allein der EuGH berufen ist. Käme das OLG Schleswig seiner Vorlageverpflichtung nicht nach, riskierte es allein deshalb einen Grundrechtsverstoß (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG), der ggf. zur Aufhebung seiner Entscheidung führen könnte.
Hier werden wichtige Fragen aufgeworfen, die allerdings nicht der EuGH klären muss.
1. Tatsächlich ist dem Unionsgesetzgeber bewusst gewesen, “dass es politisch brisante Auslieferungsbegehren geben mag, die so tief in die innere Verfasstheit und Ordnung des Ausstellungsstaates eingreifen, dass sie das Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten und ihren Bürgern eher belasten als fördern.” Er, der Unionsgesetzgeber, hat sich dennoch dazu entschieden, den politischen Charakter einer Straftat nicht als Auslieferungshindernis anzuerkennen, weil er einen mutual trust in die Rechtsstaatlichkeit selbst politisierter Verfahren fingiert. Innerhalb der EU, deren Mitgliedsstaaten sich dieses Vertrauen wechselseitig bescheinigen, ist daher ausreichend, einen Auslieferungshindernis für den Extremfall vorzuhalten, dass eine Person erkennbar nur wegen ihrer “politischen Überzeugung” verfolgt wird.
Von einer ausschließlich “politischen” Verfolgung unter dem Deckmantel der Strafverfolgung kann aber im Fall von Puigdemont nicht ausgegangen werden. Das zeigen das Ersuchen (das ich mit meinen Spanischrestkenntnissen gelesen habe) und auch Gesamtumstände: Spanien ist nicht die Türkei. Der Rechtsstaat funktioniert und hat es selbst gegen die ETA getan, Spanien respektiert den EGMR etc.
2. Zur beiderseitigen Strafbarkeit: Wenn das Unionsrecht den Staaten freistellt, eine beiderseitige Strafbarkeit zu verlangen oder darauf zu verzichten, kann es nicht zugleich eine intensive Prüfung für den Fall verlangen, dass ein Mitgliedsstaat die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit vorschreibt. Der Weite Maßstab des EUGH ist daher mE zwingend, auch die GStA Schleswig scheint diesen verwendet zu haben. Einfachgesetzlich richtet sich der Prüfungsumfang also ausschließlich nach den Standards des IRG. Danach ist ein Abgleich der Tatbestandsmerkmale erforderlich, nicht das hypothetische Durchspielen sämtlicher vorgelagerter oder nachgelagerter Rechtsfragen.
@Michael Kubiciel
zu 1) Im Grundsatz einverstanden. Die Abschaffung der Möglichkeit der Auslieferungsverweigerung bei politischen Taten ist in Ordnung. Im Detail sieht der RbEuHb ohnehin genug Sicherungen vor gegen einen eventuellen Mißbrauch (u.a. der Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit, das “Selbsteintrittsrecht”, wenn die Tat zum Teil im eigenen Hoheitsgebiet begangen wurde etc.).
Was die Sicherungsvariante “politische Verfolgung” betrifft, so greift es m.E. zu kurz, zu schreiben “davon kann nicht ausgegangen werden” und dies kursorisch mit “Spanien ist nicht die Türkei” und ähnlichen Makrobetrachtungen zu begründen. Man sollte – insbesondere natürlich das OLG – auch hier “hart am Sachverhalt” arbeiten und alle Besonderheiten der laufenden Strafverfahren in Spanien in den Blick nehmen. Es ist – anders als Sie schreiben – insbesondere nicht lediglich eine Frage, ob Puigdemont “nur wegen seiner politischen Überzeugung verfolgt wird”. Sowohl der Erwägungsgrund 12 RbEuHb als auch der diesen insoweit umsetzende § 6 Abs. 2 IRG gehen weiter. Ich bin selbst der Meinung, daß eine Strafbarkeit wegen Untreue (vorbehaltlich aller Details) hier sehr naheliegend ist. Und da politische Ziele nicht von der Beachtung des Rechts freistellen, ist eine Verfolgung wegen einer solchen etwaigen Straftat im Amt keine Verfolgung wegen einer politischen Überzeugung. Nach Erwägungsgrund 12 RbEuHb besteht aber ein Ablehnungsrecht (wenn nicht gar eine Ablehnungspflicht) auch dann, wenn “die Stellung dieser Person aus einem dieser Gründe [u.a. politischer Überzeugung] beeinträchtigt werden kann”. In § 6 Abs. 2 IRG ist diese Variante so ausgedrückt: “oder daß seine Lage aus einem dieser Gründe erschwert werden würde”.
Ich halte es für sehr wohl möglich (!), daß hier bei genauer Analyse ein solcher Fall bejaht werden könnte. Das wird man sich genau ansehen müssen. Sollte sich im gegenwärtigen aufgeheizten Klima in Spanien die spanische Justiz – trotz ihres bislang grundsätzlich unzweifelhaften rechtsstaatlichen Ethos – im Rahmen ihres Abwehrkampfes gegen den Separatismus in eine Maßlosigkeit verrannt haben (die man menschlich nachvollziehbar finden kann), die auch droht, die Kriterien des “allgemeinen” Strafrechts gerade gegenüber diesen Beschuldigten zu infizieren, so könnte man m.E. das “aus einem dieser Gründe erschwert” bejahen. Das wäre zu untersuchen.
zu 2) Auch hier einverstanden. Als Ergänzung nur: Bezüglich der beiderseiten Strafbarkeit bringt das genannte EuGH-Urteil keine neue Erkenntnis. Der EuGH sagt mit seinem Maßstab nichts anderes als daß das, was im deutschen IRG explizit geregelt ist (§ 3 Abs. 1: “oder wenn sie bei sinngemäßer Umstellung des Sachverhalts auch nach deutschem Recht eine solche Tat wäre”), auch für die Rahmenbeschlüsse gilt, obwohl dort diese Umstellungsklausel fehlt.
Was die GStA Schleswig betrifft, so hat sie – entgegen ihrer mißverständlichen Pressemitteilung von Dienstag – die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit im Hinblick auf die Ausliefe