Der hohe Preis der Effektivität
Schmerzgriffe und ihr negativer Einfluss auf das Vertrauen in eine rechtsstaatlich und fair handelnde Polizei
Schmerzgriffe sind innerhalb einer polizeilichen Ordnungslogik praktikabel, da sie eine effektive und zügige Kontrolle des Versammlungsgeschehens ermöglichen. Exemplarisch ist dies bei der polizeilichen Bewältigung von Protestaktionen der Letzten Generation deutlich geworden. In diesem Kontext und allgemein bei friedlichen Versammlungen sind Schmerzgriffe jedoch abzulehnen, da sie rechtlich unzulässig sind. Die der Rechtslage entgegenstehende polizeiliche Deutung als legitime und angemessene Eingriffstechnik überzeugt nicht und steht auch dem differenzierteren gesellschaftlichen Blick auf die Ziele der Letzten Generation entgegen. Schmerzgriffe können daher auf lange Sicht geeignet sein, das gesellschaftliche Vertrauen in eine fair und rechtsstaatlich handelnde Polizei zu beeinträchtigen.
Effektivität und Praktikabilität im Umgang mit Sitzblockaden
Die Polizei löst Sitzblockaden in der Mehrzahl der Fälle auf eine für die Versammlungsteilnehmer schonende Art und Weise auf. Bei Protestaktionen der Letzten Generation werden festgeklebte Hände überwiegend behutsam gelöst, um die Demonstrierenden anschließend von der Straße zu tragen. Bekannt ist aber auch, dass Personen durch Überdehnung des Handgelenks dazu veranlasst werden, einem Platzverweis nachzukommen (s. hier und hier). Auch bei der Räumung anderer Sitzblockaden agiert die Polizei mitunter wenig feinfühlig. In einzelnen Fällen drücken die Beamten gegen empfindliche Körperstellen wie die Nasenscheidewand, um die Demonstrierenden mittels des extremen Schmerzreizes zu zwingen, an der Auflösung der Sitzblockade mitzuwirken.
Innerhalb der Polizei werden Schmerzgriffe und Nervendrucktechniken traditionell als Selbstverteidigungstechnik gelehrt. Sie dienen ihrem Grundverständnis nach dazu, dass sich Beamtinnen und Beamte wirksam gegen Gefahren für Leib oder Leben verteidigen können. Bei der Kontrolle von friedlichen Versammlungslagen tritt der ursprüngliche Zweck der Eingriffstechnik in den Hintergrund, weil es nicht mehr darum geht, gewalttätiges Verhalten auf Beamte abzuwehren. Um Sitzblockaden aufzulösen, sollen Personen zu Handlungen gezwungen werden, deren Verhalten allenfalls im Grenzbereich der Widerstandsdelikte einzuordnen ist (z.B. durch Unterhaken bei anderen Personen oder Umklammern von Gegenständen), von denen aber keine Gewalt in Richtung der Beamten ausgeübt wird. Die betroffene Person soll durch den Schmerzreiz dazu gebracht werden, die polizeiliche Anweisung zu befolgen, im Kontext von Sitzblockaden also aufzustehen und sich von der Örtlichkeit zu entfernen.
Diese Form der Einsatzbewältigung ist angesichts ihrer Effektivität hoch praktikabel. Das alternativ in Frage kommende Wegtragen von Demonstranten ist zeitintensiv, für die Beamtinnen und Beamten körperlich anstrengend und es erfordert einen erhöhten Personaleinsatz. Der Druck auf bestimmte Nervenpunkte oder das Überdehnen von Gelenken hingegen erfordert von den Beamten nahezu keinen Kraftaufwand.
Polizeiliche Praktikabilitäts- und Ordnungslogiken
Die Rechtmäßigkeit von Schmerzgriffen wird zunehmend angezweifelt, weil bei der Auflösung von Sitzblockaden mildere, gleich geeignete Einsatzmittel zur Verfügung stehen und die über Schmerzzufügung erfolgende Willensbeugung unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit bedenklich ist. Der Kritik ist beizupflichten. Die Blockadeaktionen der Letzten Aktion sind im rechtlichen Sinne als friedliche Versammlungen einzuordnen. Hieran ändern auch die fehlende Anmeldung und die strafrechtlichen Vorwürfe der Nötigung nichts, da eine Versammlung erst dann unfriedlich wird, wenn die Teilnehmenden zur Gewalt aufrufen oder die Grundlagen der demokratischen Gesellschaft ablehnen. Beides ist bei der Letzten Generation nicht der Fall. Die Letzte Generation hat sich als oberstes Gebot gewaltfreies Verhalten auferlegt, und zwar explizit auch gegenüber Polizeibeamten und anderen „Entscheider:innen des Systems“. Dies wird auch praktisch so umgesetzt, da sich die Protestierenden auf Sitzblockaden beschränken, ohne anderen Menschen körperlichen Schaden zuzufügen.
Rechtlicher Kritik und theoretischen Erwägungen weicht die Polizei regelmäßig aus, indem sie auf vermeintlich zwingende Erfordernisse der Einsatzpraxis verweist. So geschieht es auch bei der polizeilichen Rechtfertigung von Schmerzgriffen. Ihr Gebrauch sei zulässig, weil auf diese Weise polizeiliche Ressourcen geschont und durch das Wegtragen vermeintlich bestehende Verletzungsrisiken minimiert werden würden. Mit diesen Einwänden dürfte die Polizei allerdings kaum durchdringen, da es ihr nur in eng umgrenzten Ausnahmefällen gestattet ist, unter dem Gesichtspunkt der Schonung personeller Ressourcen auf Schmerzgriffe zur Durchsetzung von Platzverweisen auszuweichen. Zunächst liegt es in der Verantwortung der Polizei, ausreichende personelle Ressourcen zur Bewältigung ihrer Aufgaben bereitzustellen und erforderlichenfalls weitere Beamte im Wege der Amtshilfe anzufordern. Ausnahmen können sich nur ergeben, wenn andere staatliche Aufgaben vorrangig zu erfüllen sind, wobei diese Fallkonstellation wegen der hohen Schutzwürdigkeit von Versammlungen praktisch nur eine geringe Rolle spielen dürfte. Theoretisch denkbar sind Fallgestaltungen, bei denen widrige Witterungsbedingungen (z.B. Straßenglätte) oder unwegsames Gelände konkrete Anhaltspunkte dafür liefern, dass das Wegtragen ausnahmsweise eine erhöhte Verletzungsgefahr (z.B. auf Grund von Stürzen) für die Beamtinnen oder Beamten oder die Demonstrierenden nach sich zieht und nachweisbar auch keine Hilfsmittel (z.B. Matten oder Rollbretter) zum Einsatz kommen können. Die Beweislast für diese Ausnahmefälle liegt bei der Polizeibehörde und angesichts des hohen Rangs der Versammlungsfreiheit sind hohe Anforderungen an die Plausibilität der Darlegung zu stellen. Die bisher in diesem Zusammenhang seitens der Polizei vorgetragenen pauschalen Mutmaßungen und ins Blaue hinein aufgestellte Behauptungen („Ich habe Rücken“) genügen diesen Anforderungen jedenfalls nicht. Es gilt daher, dass zur Durchsetzung von Platzverweisen gegenüber Teilnehmern von Blockadeaktionen allein das Wegtragen rechtlich zulässig ist. Schmerzgriffe sind hingegen kein im rechtlichen Sinne erforderliches Mittel und damit im polizeilichen Umgang mit Sitzblockaden unverhältnismäßig.
Rechtliche Kriterien beeinflussen allerdings nur bedingt, ob Schmerzgriffe innerhalb der Polizei als verhältnismäßig angesehen werden. Neben den beschriebenen Praktikabilitätserwägungen stehen polizeispezifische Ordnungsvorstellungen, die nur zum Teil mit rechtlichen Kriterien korrespondieren. Für das Protest Policing, das heißt die Art und Weise, wie Polizei mit Versammlungen umgeht, ist die polizeiliche Lageeinschätzung relevant. Die polizeiliche Lage ist ein Ordnungskonstrukt, das polizeiliches Handeln strukturiert und Auskunft darüber gibt, welche konkreten Maßnahmen im Einzelfall zu treffen sind. Versammlungslagen und die dabei getroffenen strategischen Entscheidungen sind gekennzeichnet von einer dichotomen Kategorisierung von Protestierenden als friedlich/normal und professionell/unfriedlich. Dass Sitzblockaden alle Voraussetzungen für eine friedliche Versammlung im Rechtssinne erfüllen, tritt bei der Lageeinschätzung in den Hintergrund und wird durch repressive polizeiliche Ordnungsvorstellungen überlagert. Für Teilnehmer an Sitzblockaden werden härtere Strafen gefordert, ihnen wird Fanatismus attestiert, die Polizei soll Demonstrierende bis zu zwei Monate in Gewahrsam nehmen können und unter Vorwegnahme justizieller Entscheidungen wird die Letzte Generation zur kriminellen Vereinigung gelabelt. Indem die Protestbewegung innerhalb der polizeilichen Ordnungslogik auf diese Weise als unfriedlich und auf diffuse Weise als gefährlich eingeordnet wird, werden die mit Schmerzgriffen und Nervendrucktechniken verbundenen juristischen Grenzüberschreitungen ausgeblendet. Vielmehr werden sie als legitime Praxis zur Kontrolle potentiell gefährlicher Demonstranten wahrgenommen.
Schmerzgriffe und das Bild der Polizei in der Öffentlichkeit
Für die Polizei bleibt die Einordnung von Schmerzgriffen als legitime Praxis solange unproblematisch, wie sie die Deutungshoheit über das Protestgeschehen behält. Anders sieht dies erst dann aus, wenn Ambivalenzen und Graubereiche innerhalb der Protestbewegung öffentlich erkennbar werden. Zuletzt zu beobachten war dies im Kontext der Querdenker-Proteste (siehe Stephanie Schmidts lesenswerte Ethnografie zur Polizeiarbeit, dort S. 212 ff.), bei denen „die Verortung der Personen als normale Bürger (…) für die Polizei zu einem Hindernis“ geworden ist, Zwangsmaßnahmen anzuwenden, obwohl von den Demonstranten Gewalt auch gegen Polizeibeamte ausging. Die Polizei musste sich öffentlich vorhalten lassen, nicht hart genug durchgegriffen zu haben und rechtfertigte dies damit, dass es sich um „Menschen unserer bürgerlichen Mitte“ gehandelt habe und es unverhältnismäßig gewesen wäre, gegen die Teilnehmer unmittelbaren Zwang anzuwenden.
Mit umgekehrten Vorzeichen müsste diese denkwürdige Argumentation eigentlich auch für die Klimaproteste der Letzten Generation gelten. Indem die Polizei auf die konkrete Lagebewältigung und die Wiederherstellung der situativen Ordnung fixiert ist, droht ihr aus dem Blick zu geraten, dass die gesellschaftliche Einstellung gegenüber der Letzten Generation differenzierter ausfallen und die Anwendung von Schmerzgriffen nicht mittragen dürfte. Eine große Mehrheit der Bevölkerung sieht den Klimawandel als ernstes Problem an, unterstützt Maßnahmen zum Klimaschutz und fordert die Einhaltung der Klimaziele. Klimaschutz hat Verfassungsrang (Art. 20a Grundgesetz) und bei den Zielen des Pariser Klimaabkommens geht es um Regelungen im Range eines Bundesgesetzes. Es dürfte in großen Teilen der Bevölkerung anschlussfähig sein, dass sich die Letzte Generation für die Einhaltung einer gesetzlich normierten (Klima-)Ordnung einsetzt. Letzteres ist übrigens auch ein Umstand, der durchaus mit dem auf Ordnungserhalt ausgerichteten Selbstverständnis der polizeilichen Akteure übereinstimmt.
Ein gesellschaftlicher Rückhalt für die Anwendung von Schmerzgriffen lässt sich auch nicht daraus ableiten, dass ein großer Teil der Bevölkerung zwar die Ziele, aber nicht die Protestformen der Letzten Generation teilt. Schmerzgriffe mögen zwar anders als andere Formen der Gewalteinwirkung keine körperlich sichtbaren Verletzungen nach sich ziehen, sie beeindrucken aber die Öffentlichkeit durch wirkmächtige Bild- und Videoaufnahmen, die ein robustes und ersichtlich schmerzhaftes Vorgehen zeigen. Für das polizeiliche Selbstverständnis wiederum ist es zentral, in der Öffentlichkeit gut dazustehen und alles daran zu setzen, das Bild einer problemlosen und professionell handelnden Organisation zu wahren. Es verwundert daher nicht, dass einzelne Akteure innerhalb der Polizei schon frühzeitig den Versuch einer Bagatellisierung unternommen haben, indem der gezielte Druck gegen empfindliche Körperstellen als gewöhnliches Zwangsmittel dargestellt und den Demonstrierenden eine Inszenierung vorgeworfen worden ist. Diese polizeiliche Einschätzung überzeugt nicht und dürfte auch in der Öffentlichkeit nicht verfangen. Die Einsatztechnik wird explizit zur Selbstverteidigung gegen Gefahren für Leib oder Leben der Polizeibeamten gelehrt. Ihr ist also immanent, dass sie treffsicher und hoch wirksam einen extremen Schmerz bei der betroffenen Person auslöst.
Schmerzgriffe widersprechen einer rechtsstaatlich handelnden Polizei
Gegen die Anwendung von Schmerzgriffen sprechen bereits die rechtlichen Bedenken, die von der Polizei als eine an Recht und Gesetz gebundene Institution (s. Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz) ernst zu nehmen sind. Als weiterer Aspekt ist hervorzuheben, dass die Polizei mit der Anwendung von Schmerzgriffen das gesellschaftliche Vertrauen in eine rechtsstaatlich und fair handelnde Organisation herausfordert. Insgesamt betrachtet genießt die Polizei nach wie vor ein sehr hohes Vertrauen, zugleich sprechen sich viele Bürgerinnen und Bürger für eine stärkere Kontrolle der Institution aus und sie sind weniger als früher bereit, das Handeln der Beamtinnen und Beamten unhinterfragt hinzunehmen. Spürbar ist dies für die Polizei bereits jetzt, da sie es bei der Letzten Generation mit Demonstrierenden zu tun hat, die auf Grund ihres mehrheitlich akademisch geprägten Hintergrunds und der zivilgesellschaftlichen Vernetzung über die nötige Beschwerdemacht verfügen, um die polizeiliche Definitionsmacht herauszufordern und sie gegebenenfalls mit gerichtlicher Hilfe in ihre gesetzlich normierten Schranken weisen zu lassen.
Wie das beim Verwaltungsgericht Berlin anhängige Verfahren über die Rechtmäßigkeit von Schmerzgriffen ausgeht, ist dabei für das Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei gar nicht so bedeutsam. Entscheidend ist, ob polizeiliches Handeln als fair wahrgenommen und der polizeiliche Umgang mit Bürgerinnen und Bürgern als respektvoll erlebt wird. Schon einzelne Fälle, in denen dem Anspruch an eine regelgeleitete Polizeiarbeit tatsächlich oder auch nur vermeintlich nicht genüge getan wird, können das Vertrauen nachhaltig beschädigen. Erlebbar ist dies für Beamtinnen und Beamten im dienstlichen Alltag, wenn Zeugen nicht oder nur lückenhaft bei der Aufklärung von Straftaten mitwirken oder Gefahrensituationen und Straftaten nicht mitgeteilt oder zur Anzeige gebracht werden. Es ist also nicht nur aus Rechtsgründen abzulehnen, gegen im verfassungsrechtlichen Sinne friedliche Protestformen mit Schmerzgriffen vorzugehen. Es steht auch dem Selbstverständnis einer rechtsstaatlich und bürgerorientiert handelnden Polizei entgegen und ist geeignet, Vertrauen in die Polizei zu zerstören.