Die „Letzte Generation”, die EMRK und das Strafrecht
Die Aktionen der „Letzten Generation“ haben den gesellschaftlichen und juristischen Diskurs der letzten Monate geprägt. Neben mehr Debatten über den Klimaschutz haben sie intensive verfassungsrechtliche, demokratietheoretische und strafrechtliche Diskussionen entfacht. So engagiert die juristische Diskussion jedoch geführt wird, so sehr verharrt sie ganz überwiegend noch im nationalen Recht. Erst Jochen von Bernstorff hat mit dem Einfluss der UN-Menschenrechtspakte die menschenrechtliche Dimension angesprochen. Daneben müssen deutsche Gerichte im Umgang mit der “Letzten Generation” jedoch auch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) bei der Auslegung des Strafrechts beachten. Dies betrifft zum einen Fragen der Kriminalisierung und Strafzumessung, sowie zum anderen die Auslegung des Notwehrrechts von Verkehrsteilnehmer:innen gegen Blockaden der „Letzten Generation“.
Blockierende Klimaaktivist:innen: Friedlich Versammelte oder Kriminelle? Oder beides?
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Görgülü Entscheidung dargelegt, dass deutsche Gerichte die EMRK und die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) „im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung“ zu beachten haben. Sollte die verlangte „gebührende Auseinandersetzung“ mit den Konventionsrechten fehlen, können Betroffene eine Verletzung dieser Rechte in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip durch eine Verfassungsbeschwerde (Artikel 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) bzw. durch eine Individualbeschwerde (Artikel 34 EMRK) rügen.
Doch gilt das auch für Aktivist:innen, die sich auf ihre Versammlungsfreiheit berufen? Die Antwort lautet ja: denn Artikel 11 Abs. 1 EMRK garantiert jeder Person „das Recht […], sich frei und friedlich mit anderen zu versammeln“. Ähnlich wie das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf Artikel 8 GG (z.B. hier und hier), werden auch die Richter:innen in Straßburg nicht müde, die herausgehobene Bedeutung des Rechts auf Versammlungsfreiheit für eine demokratische Gesellschaft und die öffentliche Willensbildung zu betonen (u.A. hier und hier). Konsequenterweise erteilt das Gericht Bestrebungen, den Schutzbereich des Rechts restriktiv auszulegen, regelmäßig eine Absage (hier und hier). Um der Gefahr einer restriktiven Auslegung vorzubeugen, hat der Gerichtshof sogar davon abgesehen, den Begriff der Versammlung zu definieren. Stattdessen stellt er vor allem auf einen von allen Beteiligten gemeinsam verfolgten Versammlungszweck ab. Dies lässt sich bei den Blockadeaktionen der „Letzten Generation“ kaum in Abrede stellen, bezwecken sie doch die Erzwingung effektiverer Klimaschutzmaßnahmen.
Auch dürften die Straßenblockaden „friedlich“ i.S.d. Artikel 11 Abs. 1 EMRK sein. In seinem Urteil Navalnyy v. Russia [GC] stellte der Gerichtshof einmal mehr klar, dass die Friedlichkeit einer Versammlung erst entfalle, wenn die Organisator:innen und Teilnehmenden „zu Gewalt aufrufen oder auf andere Weise die Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft ablehnen.“ Die letztere Einschränkung könnte zwar von denjenigen bemüht werden, die den Aktivist:innen vorwerfen, parlamentarische Prozesse zu umgehen. Doch auch ein solcher Einwand muss anerkennen, dass das Kernanliegen der Blockierenden ein höchst demokratisches ist: das Ende einer Klimapolitik, die den im Klimaschutzgesetz festgelegten Zielen offensichtlich nicht gerecht wird. Auch die Annahme, dass Blockaden „gewalttätig“ sind, dürfte fernliegen. Tatsächlich hat der Gerichtshof in zahlreichen Fällen Straßenblockaden als friedliche Protestform im Sinne des Artikel 11 Abs. 1 EMRK angesehen (z.B. hier, hier und hier). Auch Versammlungen, die eindeutig gegen nationales Recht verstoßen, zum Beispiel aufgrund einer fehlenden Anmeldung, verlieren dadurch nicht ihren „friedlichen“ Charakter.
Darüber hinaus kann sich die „Letzte Generation“ als freiwilliger Zusammenschluss von Personen, die einen gemeinsamen Zweck verfolgen, auch auf den Schutz der Vereinigungsfreiheit – ebenfalls Artikel 11 Abs. 1 EMRK – berufen.
Einflüsse auf das Strafrecht I: Kriminalisierung und Strafzumessung
Damit müssen deutsche Strafgerichte die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit nach Artikel 11 Abs. 1 EMRK bei der Auslegung des nationalen Strafrechts berücksichtigen. Das beeinflusst zunächst die Frage, inwieweit die „Letzte Generation“ als kriminelle Vereinigung, § 129 StGB, und ihre Proteste als Nötigung, § 240 StGB, kriminalisiert werden dürfen.
Grundsätzlich ist der EGMR skeptisch gegenüber der Kriminalisierung von Protest und Vereinigungen. Bereits unterhalb der Kriminalisierungsschwelle werden staatliche Maßnahmen aus Sorge vor einem möglichen chilling effect kritisch gesehen. Konsequenterweise erlaubt Artikel 11 Abs. 1 EMRK daher nur eine äußerst zurückhaltende Anwendung von Strafvorschriften in Fällen, in denen überzeugende und zwingende Gründe dies gebieten. Diese angemahnte Zurückhaltung dürfte nicht nur für Verurteilungen gelten, sondern auch bereits auf Ermittlungsmaßnahmen Anwendung finden. Andererseits lässt der Gerichtshof den Mitgliedsstaaten einen weiten Ermessensspielraum bei der strafrechtlichen Verfolgung von Protesten, die auf eine Störung des öffentlichen Lebens über das notwendige Maß hinaus gerichtet sind, auch da diese nicht mehr zum Kern des Schutzbereiches von Artikel 11 Abs. 1 EMRK gehören.
Eine Einordnung der „Letzten Generation“ als kriminelle Vereinigung i.S.d. § 129 StGB würde allerdings nicht nur deren Protestformen, sondern die Vereinigung selbst kriminalisieren. Das würde ihre weitere Aktivität und Finanzierung derart erschweren, dass es ihrer Auflösung gleichkommen dürfte. Zum Schutze der Vereinigungsfreiheit lässt der EGMR dies nur in den schwersten denkbaren Fällen zu, z.B. bei paramilitärisch auftretenden oder gewalttätigen Organisationen. Selbst repressive Maßnahmen unterhalb der Auflösung dürfen nur in aufgrund einer dringenden Notwendigkeit gegen Vereinigungen getroffen werden, die staatliche Institutionen oder Bürger:innen gefährden. Angesichts dieser hohen Rechtfertigungslast dürfte den EGMR der unflexible Verweis auf die niedrige Erheblichkeitsschwelle des § 129 StGB, nach der die angestrebten Taten im Höchstmaß mit mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe bedroht sein müssen, nicht befriedigen. Stattdessen stärkt Artikel 11 EMRK die bereits nach nationalem Recht überzeugende Ansicht, dass § 129 StGB Straftaten von gewisser Schwere verlangt, die eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit bedeuten. Das dürfte bei der „Letzten Generation“ nicht der Fall sein: sie drängt auf die Einhaltung des Klimaschutzgesetzes und letztlich der Verfassung durch Blockaden, deren Kriminalisierung der EGMR schon nicht ohne Weiteres akzeptiert. Soweit keine schwereren Straftaten im Raum stehen, wäre eine Kriminalisierung der „Letzten Generation“ nach § 129 StGB daher konventionswidrig.
Die strafrechtliche Sanktionierung von Straßenblockaden belässt der EGMR hingegen dem staatlichen Ermessensspielraum, selbst wenn nur geringfügige Störungen verursacht werden (hier, hier und hier). Artikel 11 Abs. 1 EMRK beeinflusst hier aber die Strafzumessung. Teilnehmenden an friedlichen, auch unrechtmäßigen Protesten sollen im Regelfall keine strafrechtlichen Sanktionen drohen. Ausnahmen verlangen nach besonderer Rechtfertigung, insbesondere einer rigorosen Verhältnismäßigkeitsprüfung. Speziell für Straßenblockaden hielt das Gericht Haftstrafen von wenigen Tagen – denen in Deutschland § 38 Abs. 2 StGB entgegensteht – für verhältnismäßig. Bei darüber hinausgehender Haft von wenigen Monaten betonten die Richter:innen, dass sie zur Bewährung ausgesetzt wurde und deswegen kaum Konsequenzen für die Protestierenden hatte (hier und hier). Mehrmonatige unbedingte Freiheitsstrafen würde das Gericht wohl kritisch sehen. Zwar lassen sich Vorstrafen, die aus ähnlichen Protesten herrühren, und die Ankündigung weiterer potentiell strafbarer Proteste strafschärfend berücksichtigen. Ansonsten ergäbe sich ein Widerspruch zur zulässigen Kriminalisierung. Hier kommt aber besonders die Gefahr eines chilling effect zum Tragen, da gerade die mehrfache Teilnahme an Demonstrationen bzw. die künftige Teilnahme sanktioniert wird. Auch hier sollte Artikel 11 Abs. 1 EMRK deswegen zu großer Zurückhaltung mahnen.
Einflüsse auf das Strafrecht II: Notwehr
Wenn die Blockaden strafbar sein können, dürfen Verkehrsteilnehmende die Demonstrierenden dann in Notwehr von der Straße reißen – selbst wenn sie nur zur Sportschau wollen (zur nationalen Diskussion siehe hier, hier und hier)?
Zu einem Notwehrrecht gegenüber Versammlungsteilnehmenden hat sich der EGMR bisher nicht geäußert. Allerdings verpflichtet Artikel 11 Abs. 1 EMRK den Staat, Versammlungen vor Gewalt durch Dritte zu schützen. Der Umfang dieser Schutzpflichten hängt vom Einzelfall ab, wobei Behörden ein weiter Ermessensspielraum zukommt. Schutzpflichten können vorherige Warnungen und spätere Ermittlungen gegen Störer:innen umfassen. Dies gilt im Grundsatz auch für unrechtmäßige Versammlungen. Soweit der EGMR hier Schutzpflichten geringeren Umfangs annimmt, dürfte sich das durch die größeren Schwierigkeiten erklären, unangemeldete Versammlungen zu schützen. Im Übrigen betont das Gericht bei beiden Versammlungen ohne Abstufung die Pflicht zur Deeskalation und Verhinderung von Gewalt (vgl. hier und hier). Soweit der Staat Schutzpflichten auch gegenüber den blockierten Verkehrsteilnehmenden hat, sind diese mit den konfligierenden Pflichten unter Artikel 11 EMRK abzuwägen. .
Diese Grundsätze haben deutsche Gerichte bei der Frage zu berücksichtigen, ob Autofahrenden ein Notwehrrecht nach § 32 StGB zusteht. Anknüpfungspunkt ist hierfür das auslegungsbedürftige Merkmal der „Gebotenheit“ in § 32 StGB. Ein Notwehrrecht gegen Aktivist:innen der „Letzten Generation“ würde Gewalt und letztlich die Versammlungsauflösung durch Private erlauben und ermutigen. Gleichzeitig stünden dem Staat bei Annahme eines Notwehrrechts kaum Schutzmöglichkeiten gegen die erwartbare Gewalt zur Verfügung: Die Polizei kann nicht immer vor Ort sein. Warnungen stünden im Widerspruch zur Rechtslage und würden damit unglaubwürdig. Ermittlungen wären nicht möglich. Da der EGMR dem Schutz auch rechtswidriger Versammlungen hohes Gewicht beimisst, dürfte die Fortbewegungsfreiheit der Verkehrsteilnehmenden allein nicht ausreichen, um eine solche Schutzlosstellung der Demonstrierenden zu rechtfertigen. Stattdessen bedürfte es wohl außergewöhnlicher Umstände, die den Rechten der Verkehrsteilnehmenden besonderes Gewicht verleihen; zum Beispiel die – wohl häufiger argumentativ bemühte als vorkommende – blockierte Fahrt ins Krankenhaus wegen einer bevorstehenden Geburt.
Demgegenüber lässt sich nicht einwenden, dass Demonstrierende durch die Wahl ihrer Protestform bewusst auf staatlichen Schutz verzichten. Unrechtmäßige Demonstrationen verlieren den Schutz aus Artikel 11 Abs. 1 EMRK nicht. Der unterschiedliche Grad an Schutzpflichten erklärt sich aus der beschränkten Reaktionsfähigkeit des Staates und dient nicht der Bestrafung der Demonstrierenden für die fehlende Anmeldung.
Damit scheint es mit der EMRK unvereinbar, § 32 StGB in Richtung eines generellen Notwehrrechts gegen die Proteste der „Letzten Generation“ auszulegen. Die EMRK steht der berühmt-berüchtigten Schneidigkeit des deutschen Notwehrrechts insoweit in nichts nach. Solange keine weiteren außergewöhnlich gewichtigen Rechtsgüter für die Autofahrenden streiten, dürfte Artikel 11 Abs. 1 EMRK blockierte Sportschauliebhaber:innen unter ihnen auf die Mediathek verweisen.
Fazit
Die zuständigen deutschen Strafrichter:inn