„Der Sinn der ganzen Strategie“: Die AfD und eine offene Flanke der Thüringer Verfassung
Als am 5. Februar dieses Jahres der Thüringer Landtag im dritten Wahlgang den FDP-Landeschef Thomas Kemmerich mit 45 zu 44 Stimmen einigermaßen überraschend zum neuen Ministerpräsidenten gewählt hatte, kommentierte das der parlamentarische Geschäftsführer der rechtsradikalen Alternative für Deutschland (AfD), Stefan Möller, mit den Worten: „Ja, das war ja auch Sinn der ganzen Strategie. Wir haben also versucht Herrn Kemmerich als Gegenkandidaten überhaupt erstmal aufs Podium zu locken. Das hat er auch gemacht. Und dann haben wir ihn planmäßig gewählt.“ Offenbar ohne über die Folgen einer möglichen Wahl Kemmerichs nachzudenken, hatten CDU und FDP mit der AfD des Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke kooperiert, um die Wiederwahl des bisherigen Ministerpräsidenten der Partei Die Linke, Bodo Ramelow, zu verhindern. Kemmerich hatte jedoch weder ein Kabinett, ein Regierungsprogramm noch eine parlamentarische Mehrheit, da der selbsternannte „Anti-Höcke“ mit der AfD, die ihn erst ins Amt gehievt hatte, anschließend nicht zusammenarbeiten wollte.
“Mit einer simplen parlamentarischen Finte”, so die Wochenzeitung Die Zeit, war es der AfD gelungen, die parlamentarische Demokratie in Thüringen vorzuführen. Der rechtsradikale Publizist und Aktivist Götz Kubitschek feierte den AfD-Coup wie folgt: „So konstruktiv-destruktiv wie Höcke hat aus dieser Partei heraus noch keiner agiert. In Thüringen jemanden so auf einen Stuhl setzen, daß es in Berlin einem anderen Stuhl die Beine abschlägt: Das taktische Arsenal der AfD ist um eine feine Variante reicher.“ Nicht erst seit Februar dieses Jahres geht es der AfD mithin um die „Unterhöhlung und Delegitimierung der Demokratie“, wie es der Historiker Volkhard Knigge, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, kürzlich auf den Punkt brachte.
Diese Einschätzung wurde nach dem Rücktritt Kemmerichs als Ministerpräsident am 8. Februar umgehend bestätigt. Da Die Linke, SPD und Bündnis 90/Die Grünen erneut auf ihren in der Thüringer Bevölkerung überaus populären Kandidaten Bodo Ramelow setzen, CDU und FDP diesen aber auch als „Übergangsministerpräsidenten“ nicht mitwählen wollen, ist bislang kein Kandidat in Sicht, der die gemäß Art. 70 Abs. 3 der Thüringer Verfassung (VerfTH) in einem ersten Wahlgang notwendige absolute Mehrheit aller Landtagsabgeordneten (d.h. 46 von 90 Stimmen) erreichen könnte. Vor diesem Hintergrund hat der AfD-Fraktionschef im Bundestag, Alexander Gauland, seinen Thüringer Parteifreunden bereits empfohlen, „das nächste Mal Herrn Ramelow zu wählen, um ihn sicher zu verhindern“, da Rot-Rot-Grün nicht auf die Stimmen der Rechtsradikalen angewiesen sein möchte.
Das Stichwort Neuwahlen verweist jedoch auf ein Folgeproblem, das in der bisherigen Debatte noch gar nicht in den Blick genommen wurde. Bodo Ramelow tritt derzeit dafür ein, ihn für eine kurze Zeit zum Ministerpräsidenten zu wählen. In den darauf folgenden Monaten will er dann ein Haushaltsgesetz für das Jahr 2021 durch den Landtag bringen und das derzeit vor dem Thüringer Verfassungsgerichtshof durch die AfD angegriffene Wahlrecht (Stichwort: Paritätsgesetz) verfassungsfest machen, um anschließend vorgezogene Neuwahlen durchzuführen. Hierfür möchte Ramelow die Vertrauensfrage stellen.
Mit dem Hinweis auf die Vertrauensfrage nennt der Linken-Politiker den vermeintlich einfacheren der beiden in der Thüringer Landesverfassung vorgesehenen Wege, eine vorzeitige Landtagsauflösung zu erreichen. Gemäß Art. 50 Abs. 2 VerfTH erfolgt eine vorzeitige Neuwahl entweder, wenn der Landtag seine Auflösung mit einer Zweidrittelmehrheit aller Abgeordneten (d.h. mindestens 60 von 90 Stimmen) beschließt, oder „wenn nach einem erfolglosen Vertrauensantrag des Ministerpräsidenten der Landtag nicht innerhalb von drei Wochen […] einen neuen Ministerpräsidenten gewählt hat“. Für die Selbstauflösung wäre es aus Sicht von Rot-Rot-Grün daher notwendig, die CDU von einer Zustimmung zu überzeugen, da man nicht mit der AfD zusammen stimmen will. Dies erscheint angesichts der aktuellen dramatischen Zustimmungsverluste für die Christdemokraten jedoch wenig wahrscheinlich.
Demgegenüber, so die gängige Lesart, wäre das Stellen der Vertrauensfrage der elegantere und leichtere Weg, da der Ministerpräsidenten ihn allein gehen könnte. Doch genau dies ist nicht der Fall. Verlöre Ramelow (oder ein anderer „Übergangsministerpräsident“) die Vertrauensfrage, hätte der Landtag 21 Tage Zeit, einen Nachfolger zu wählen. Hierfür wäre jedoch möglicherweise gar keine Mehrheit nötig, denn gemäß Art. 70 Abs. 3 VerfTH ist in einem dritten Wahlgang gewählt, wer „die meisten Stimmen erhält.“ Über die Bedeutung dieses Passus hatte es bereits 2014 und erneut im Vorfeld der jüngsten Ministerpräsidentenwahl eine breite Diskussion mit gegensätzlichen juristischen Gutachten gegeben. Rot-Rot-Grün vertritt dabei auf Basis eines Gutachtens des Düsseldorfer Rechtswissenschaftlers Martin Morlok die Auffassung, dass im Falle nur einer Kandidatur in einem dritten Wahlgang eine einzige Ja-Stimme genügen würde, selbst wenn alle anderen Abgeordneten mit „Nein“ votierten.
Unabhängig davon, dass diese Streitfrage letztverbindlich nur vom Verfassungsgerichtshof in Weimar geklärt werden könnte, ermöglicht diese Regelung der AfD ein neuerliches „konstruktiv-destruktives“ Agieren: Nach einer gescheiterten Vertrauensfrage müsste sie lediglich die Neuwahl des Regierungschefs beantragen und selbst einen Kandidaten für das Ministerpräsidentenamt nominieren. Die demokratischen Parteien könnten durch die Aufstellung und Wahl eines Gegenkandidaten zwar verhindern, dass ein AfD-Ministerpräsident ins Amt kommt, doch der Weg zu Neuwahlen wäre definitiv verbaut. Alternativ könnte Rot-Rot-Grün seine Auffassung zur Interpretation der strittigen Verfassungsklausel ändern, aber dann wären Die Linke, SPD und Bündnis 90/Die Grünen erst recht bloßgestellt.
Der Morlok’schen Interpretation folgend zeigt sich jedenfalls ein Widerspruch in der Thüringer Verfassung, der von ihren Müttern und Vätern Anfang der 1990er Jahre sicherlich nicht gewollt war. Während Art. 70 Abs. 3 VerfTH die Abgeordneten zur Mehrheitsbildung und zur Wahl eines Ministerpräsidenten gleichsam zwingen soll, will die Vertrauensfrage im Falle eines Mehrheitsverlusts der regierungstragenden Parteien die Neuwahl des Landtags ermöglichen. Hierfür sollten offenkundig niedrigere Hürden zu überwinden sein als bei einer Selbstauflösung; ansonsten ergäbe es wenig Sinn, überhaupt einen zweiten Weg zu vorgezogenen Neuwahlen vorzusehen. Nun zeigt sich jedoch, dass eine Vertrauensfrage faktisch höhere Hürden überwinden muss, um zur Auflösung des Landtages zu führen, da sämtliche Fraktionen zumindest stillschweigend zustimmen müssen, während eine Selbstauflösung auch gegen den Widerstand von bis zu einem Drittel der Abgeordneten möglich wäre.
Für die Lösung der aktuellen politischen Krise in Thüringen ergibt sich daraus, dass das Stellen der Vertrauensfrage durch einen im Laufe der kommenden Tage oder Wochen gewählten neuen Ministerpräsidenten der AfD erneut die Tür zur Desavouierung der parlamentarischen Spielregeln öffnen würde. Die demokratischen Parteien sollten daher vorgezogene Neuwahlen nur über den Weg einer Selbstauflösung des Landtages anstreben. Darüber hinaus wäre über eine Änderung der Thüringischen Verfassung nachzudenken, um den hier skizzierten Widerspruch aufzulösen. Möglich wäre beispielsweise, die Formulierung „die meisten Stimmen“ in Art. 70 Abs. 3 VerfTH durch „die Mehrheit der abgegebenen Stimmen“ zu ersetzen, wie dies etwa in Art. 65 Abs. 2 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt oder in Art. 60 Abs. 2 der Verfassung des Freistaates Sachsen der Fall ist.
Man könnte ja vielleicht taktische Spiele entsprechend den taktischen Spielen der AFD ebenfalls betreiben.
In einem dritten Wahlgang könnte die Linke für einen eigenen Kandidaten nur so viele Stimmen abgeben, wie die AFD Abgeordnete hat.
Die anderen Parteien bis auf die AFD könnten sich einer Stimme enthalten.
Dadurch sollte, entsprechend fortgesetzt, gewährleistet sein, dass entweder ein Minsterpräsident der Linken ohne ausdrückliche Zustimmung anderer gewählt ist, oder kein Ministerpräsident gewählt ist und der Landtag sodann später aufzulösen ist.
Das wird kaum funktionieren: Spätestens in einem 4. Wahlgang würde die AfD nicht mehr all ihre Stimmen ihrem eigenen Kandidaten geben, und der Kandidat der Linken wäre gewählt. Dass die AfD keinerlei Skrupel hat, aus taktischen Gründen den eigenen Kandidaten fallen zu lassen, hat man ja am 5. Februar eindrucksvoll gesehen.
Ja, wieso sollte man nicht gegebenenfalls notfalls einen Ministerpräsidenten wählen, wenn die AfD eine Parlamentsauflösung zu verhindern versuchen sollte, um ein Parlament und dessen Mitglieder bloßzustellenwarum sollte man sich hier zwangsläufig von vornherein möglichen parlamentarisch destruktiven “Taktikspielen” geschlagen geben müssen?
Natürlich nicht. Aber wenn man Neuwahlen erreichen will (und das ist die Prämisse meines Beitrages), dann wäre – so die These – die Selbstauflösung mit Zweidrittelmehrheit der einzige Weg, auf dem man solche “Taktikspiele” umgehen kann.
Es kann eventuell zudem ein Gewählter die Wahl stets nicht annehmen….
Ihre Argumentation geht aber wie selbstverständlich davon aus, dass sich das Wahlverfahren bei der Wahl eines neuen Ministerpräsidenten im Fall des Artikels 50 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ThürVerf nach Artikel 70 Abs. 3 ThürVerf richtet. Diese Annahme ist aber nicht zwingend. Vielmehr gibt die Thüringer Verfassung auch an dieser Stelle Anlass zur Interpretation.