Der unsichtbare Dritte
Die Rolle von Zertifizierern in der Corporate Sustainability Due Diligence Richtlinie
Durch die Richtlinie zu Sorgfaltspflichten in der Lieferkette sollen große Unternehmen in der EU dazu verpflichtet werden, Menschenrechts- und Umweltstandards in der Lieferkette einzuhalten. Doch wer stellt sicher, dass Zulieferer, die nicht selten über die ganze Welt verteilt sind, diese Standards auch wirklich erfüllen? Der Entwurf für die Richtlinie, den die Kommission in der vergangenen Woche veröffentlicht hat, setzt dafür maßgeblich auf unabhängige Dritte: die wiederum privatwirtschaftlichen Zertifizierer. Diese Strategie fördert aber nicht nur Private als „Ersatzbehörden“, die selbst kaum reguliert sind, sondern könnte auch die Marktkonzentration ohnehin schon großer Unternehmen weiter verstärken.
Von den UN-Leitprinzipien über das LkSG zur europäischen Richtlinie
Die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte von 2011 nehmen die Rolle von Unternehmen bei der Prävention von Menschenrechtsverletzungen in den Blick und setzen wesentlich auf deren Selbstverpflichtung. Der Appell an Unternehmen, selbst und freiwillig auf prekäre Geschäfte in Bezug auf Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden zu verzichten, blieb allerdings weitgehend wirkungslos, sodass nun der Gesetzgeber aktiv geworden ist. Das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG, dazu schon hier und hier) ist noch nicht einmal in Kraft und schon macht die Europäische Kommission einen eigenen Aufschlag für eine mindestharmonisierende Richtlinie zu Sorgfaltspflichten im Bereich der unternehmerischen Nachhaltigkeit (Zusammenfassungen und erste Reaktionen zu den wesentlichen Inhalten und Neuerungen im Vergleich zum deutschen LkSG finden sich etwa hier und hier). Gemeinsam ist all diesen Vorhaben eines: Unternehmen sollen durch eigene organisatorische Maßnahmen dafür sorgen, dass in ihrer Lieferkette Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden so weit wie möglich vermieden oder zumindest wirksam kompensiert werden.
Der persönliche Anwendungsbereich der Richtlinie ist – jedenfalls auf den ersten Blick – weiter als der des deutschen LkSG, das am 01.01.2023 in Kraft treten soll. Nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 LkSG sind in der Regel mindestens 3000 Arbeitnehmende notwendig, damit das Gesetz Anwendung findet – ab 01.01.2024 nach § 1 Abs. 1 Satz 3 LkSG nur noch in der Regel mindestens 1000 Arbeitnehmende. Die Schwellenwerte in Art. 2 Nr. 1 lit. a) und lit. b) des Richtlinien-Entwurfs sehen dagegen nur 500 bzw. in sensiblen Branchen sogar nur 250 Arbeitnehmende und bestimmte globale Mindestumsätze vor. Die Kommission selbst geht laut Entwurf (dort S. 14) davon aus, dass die Richtlinie ca. 1% der europäischen Unternehmen erfasst – und damit die 99% Kleinen und Mittelständischen Unternehmen (KMU) nicht erfasst. Der Entwurf weist dennoch etwa in Erwägungsgrund 47 zu Recht darauf hin, dass die Sorgfaltspflichten von den Big Playern etwa über Vertragsklauseln im Sinne von Art. 12 RL-E entlang der Lieferkette gerade auch kleine Unternehmen treffen können. Klar ist auch: Die schlimmsten Menschenrechtsverletzungen passieren in aller Regel am Anfang der Lieferkette.
KMU-Risiken durch die Richtlinie
Nach Art. 1 Nr. 1 lit. a) RL-E müssen daher Großunternehmen, die unter den Anwendungsbereich fallen, nicht nur im eigenen Hause und bei abhängigen Tochterunternehmungen Sorgfaltspflichten in Bezug auf Menschenrechte und Umweltschutz beachten, sondern auch zu „entities with whom the company has an established business relationship“. Abenteuerlich wird die Auslegung des Begriffs der „established business relationship“, die Art. 3 lit. f) RL-E definiert als „a business relationship, whether direct or indirect, which is, or which is expected to be lasting, in view of its intensity or duration and which does not represent a negligible or merely ancillary part of the value chain“.
Aber welche Lieferbeziehungen sind vernachlässigbar und untergeordnet? Zum Beispiel erfordert nahezu jedes elektrische Gerät im Betrieb Batterien – vom Hörgerät über die Taschenlampe bis zur Funkmaus. Vielleicht werden wir in Zukunft häufiger Produkte ohne mitgelieferte Batterien im Laden finden, da deren Rohmaterialien unter teils haarsträubenden Bedingungen abgebaut werden und man die Verantwortung für diese Lieferketten als Hörgerätehersteller nicht aufgebürdet bekommen möchte.
Überdies schafft die Definition einen Anreiz, sich durch kurzfristigere Kontrakte und häufige Wechsel der Zulieferer den Sorgfaltspflichten zu entziehen, was ökonomisch das größte Gift für die kleinen Produzenten darstellt. Das Abfedern von Preis- und Nachfrageschwankungen durch langfristige Abnahmemengen zu fairen Preisen ist eine wichtige Voraussetzung für faire Arbeitsbedingungen.
Branchenstandards und Zertifizierungen als Umsetzungsstrategie
Volkswirtschaftlich ist es günstiger, wenn nur ein Akteur den Betrieb kontrolliert, als wenn horizontal wie vertikal jede:r unmittelbare oder mittelbare Bezieher:in einzeln seine Inspektor:innen in den Betrieb am Anfang der Kette schickt. Aus diesem Grund gibt es Dienstleister, die nach bestimmten Branchenstandards bzw. Zertifizierungskriterien Social Audits durchführen und Arbeitsbedingungen in Fabriken oder Plantagen kontrollieren sollen. Ein Beispiel ist das SA8000-Zertifikat mit über 5000 zertifizierten Unternehmen. Unrühmlicher Inhaber eines solchen Zertifikats durch den italienischen Audit-Anbieter RINA war etwa die für den Textildiscounter Kik produzierende Textilfabrik in Pakistan (S. 12 ff.), in der 2012 bei einem Brand 258 Arbeiter:innen starben.
Auf externe Kontrollanbieter baut auch die Richtlinie: „For the purposes of verifying compliance, the company may refer to suitable industry initiatives or independent third-party verification.“ (Artt. 7 Nr. 4 Abs. 1, 8 Nr. 5 Abs. 1 RL-E). Ebenso laut Definition in Art. 3 lit. h) RL-E („independent third-party verification“) bzw. Art. 3 lit. j) RL-E („industry initiative“) sind Audit-Anbieter mit Expertise und Kompetenz im Bereich Umweltschutz und Menschenrechte also ein wichtiger Baustein der Umsetzungsstrategie. Zudem verlangt der Entwurf, dass der Auditor frei von Interessenkonflikten sein muss und im Übrigen „accountable for the quality and reliability of the audit“. Hier hat man aus der Erfahrung etwa mit dem eingestürzten Staudamm in Brasilien 2019 (S. 14 ff.) gelernt, wo die Tochter der TÜV Süd gleichzeitig zertifiziert und den Betreiber VALE beraten hat. Die Auditoren als Kontrolleure selbstgesetzter, nicht immer ganz transparenter Prüfkriterien, auf die Dritte haftungsbefreiend vertrauen können, ist bisher jedoch selbst nur lückenhaft reguliert und sie sind kaum haftbar zu machen. Um diese Lücken zu schließen, kann sich der deutsche Gesetzgeber bei der Umsetzung der Richtlinie (insb. Art. 17 Nr. 8 RL-E) aber ggf. an den ausführlicheren Vorgaben zur Haftung und Verantwortlichkeit in der Ratingagenturen-VO orientieren bzw. der europäische Gesetzgeber hiervon ausgehend die Richtlinie noch präzisieren. Ratingagenturen prüfen nämlich nicht nur die Bonität, sondern zunehmend auch, wie nachhaltig Geschäftsmodelle börsennotierter Unternehmen sind (hierzu). Ob eine Emittentin es in einen grünen Aktienfonds schafft, hängt auch von solchen Ratings ab – genauso wie ein Produkt nur dann seinen Weg in eine kontrollierte Lieferkette schafft, wenn Zertifizierer es auch für regelkonform befinden.
Nachteile von Zertifizierungen
Wer zertifiziert werden möchte, muss bezahlen. Zu den eigentlichen Zertifizierungskosten kommen oft noch Vorbereitungs- und Anpassungskosten, um die Kriterien des Siegels zu erfüllen. Schon der Einarbeitungsaufwand in die Kriterien, Antragsformulare und Dokumentationssysteme ist nicht zu unterschätzen. Diese Kostenblöcke können bei einem Kleinstbetrieb, der Produkte mit einem Weltmarktpreis herstellt, kaum auf die Ware umgelegt werden, ohne weiter an Wettbewerbsfähigkeit einzubüßen. Für sie ist es also kaum möglich, den Umbau und die Zertifizierung ihres Betriebs nach den Standards eines Siegels zu finanzieren. Die Folgen sind weitreichend: Die Nachfrage nach nicht-zertifizierten Produkten sinkt, und damit auch ihr Preis. Schlimmstenfalls entfällt sogar der gesamte Marktzugang in die EU, sodass nur noch Abnahmemärkte zur Verfügung stehen, die keine vergleichbaren Sorgfaltspflichten vorsehen. Unerwünschte Nebenfolge der Richtlinie könnte also sein, dass sie das Problem zu niedriger Preise für die ohnehin besonders vulnerablen Kleinproduzenten noch verschärft, während die gesteigerte Nachfrage nach zertifizierten Produkten zu höheren Margen bei größeren Einheiten führt, die aufgrund von Skaleneffekten auch die Zertifizierungskosten viel besser abfedern können. Aus Sicht der Importeure ist eine zertifizierte Großproduktion mit kontrolliertem Siegel schlicht attraktiver als eine Reihe von nicht zertifizierten und weit verstreuten schwer kontrollierbaren Kleinbetrieben – selbst, wenn diese sogar höhere Nachhaltigkeitsstandards erfüllen. Am Ende können gesetzliche Sorgfalts- und Dokumentationspflichten für einige wenige Big Player in der EU damit zu einer Ausbreitung neuer Marktstandards führen, die Konsument:innen dann auch von kleinen Marktteilnehmern verlangen werden, für die sie ungleich schwieriger zu etablieren sind. Ähnlich wie sich der kostenfreie Versand und Rückversand im E-Commerce durchgesetzt hat, könnten auch bestimmte Nachhaltigkeitssiegel in Zukunft zu einer Konzentration des Marktes führen.
KMU-Schutzkonzept der Richtlinie
Nicht nur in besagtem ErwG 47 kommt die Sorge der EU zum Ausdruck, dass diese Transaktionskosten KMUs treffen können. Deshalb fordern Artt. 7 Nr. 4 Abs. 2, 8 Nr. 5 Abs. 2 RL-E, dass die Big Player im Anwendungsbereich der Richtlinie in ihren Vertragsverhältnissen mit KMUs die Kosten für externe Kontrollen bei den KMUs selbst tragen sollen, mithin also auch Zertifizierungskosten übernehmen müssten. Hiervon können theoretisch auch KMUs außerhalb der EU profitieren. Was aber, wenn – wie wohl in aller Regel – das europäische Großunternehmen nicht direkt beim Hersteller, sondern bei Zwischenhändlern einkauft? Einkaufskooperativen, wie sie im Lebensmittel-Einzelhandel schon länger bestehen, gewinnen durch die Richtlinie an Attraktivität, weil dort mehrere Big Player ihre Sorgfaltspflichten bündeln und weiterhin mit hoher Marktmacht niedrige Preise durchsetzen können. Außerdem sollen die Mitgliedstaaten KMUs, die unbeabsichtigt mit Kosten belastet werden, subventionieren können (Art. 14 Nr. 2 RL-E). Der KMU-Schutz, den die Richtlinie wiederholt betont, bezieht sich also vorrangig auf den europäischen Binnenmarkt. Das bedeutet allerdings für Kleinstproduzenten außerhalb der EU, dass sich ihr Marktzugang wie eben beschrieben verschlechtern kann.
Nun könnte man einwenden, dass die Richtlinie de lege ferenda ja auch noch weitergehender vorschreiben könnte, dass Zertifizierungskosten von den Big Playern übernommen werden sollen, aber schon die genannte Kostenübernahmepflicht gegenüber dem direkten Vertragspartner wirft Fragen auf. Wenn etwa eine Textilfabrik für drei europäische und zwei andere internationale Modelabels produziert, wer soll dann die Zertifizierung finanzieren? Der erste europäische Kunde vollständig? Alle drei von der Richtlinie erfassten europäischen Kunden als Gesamtschuldner nach Köpfen oder pro rata nach ihrem Auftragsvolumen im Betrieb? Die weiteren internationalen Kunden kann die Richtlinie ohne Anknüpfungspunkt auf ihrem Territorium schlecht verpflichten, obwohl diese gleichermaßen von der Zertifizierung profitieren würden. Auch neue (europäische) Kunden würden bei einem späteren Auftrag von der bereits erfolgten Zertifizierung profitieren, denn die fortlaufende Aktualisierung der Zertifizierung ist in der Regel deutlich günstiger als die Eingangsprüfung inklusive der nötigen Anpassungsmaßnahmen. Für die nicht nach dem RL-E zahlungspflichtigen Nachfrager stehen damit sogenannte Windfall Profits, also Zufallsgewinne, im Raum.
Mehr als Andeutungen
Die EU hat sich die richtigen Ziele gesetzt. Umwelt- und Menschenrechtsstandards in Freihandelsabkommen waren ein guter erster Schritt, doch die Umsetzung außerhalb des eigenen Territoriums können sie kaum garantieren. Hierfür auf Audit-Unternehmen als private Ersatzbehörden zu setzen, hat gegenüber der Unterstützung der betroffenen Länder beim Aufbau eigener Überwachungsstrukturen spezifische Nachteile. Wenn die EU allerdings auf diese externen Kontrolleure setzt, reicht es nicht, deren Verantwortlichkeit und Haftung in der Definitionsnorm nur lose anzudeuten, sondern dies bedarf weiterer Konkretisierung. Zuzulassen, dass Unternehmen die neu gewonnene Verantwortung für Menschenrechte und Umwelt auf schwach regulierte Zertifizierer abwälzen, verbessert in erster Linie die Position von Auditoren, aber nicht notwendig die Bedingungen für die Menschen entlang der Lieferkette.
Hier versuchen die EU und Deutschland Standards für Unternehmen zu erstellen, die sie selbst nicht einmal ansatzweise zu erfüllen versuchen. Wären die EU und ihre Mitgliedsstaaten eine (politische) Lieferkette, könnten Sinti und Roma locker wegen der immensen Rechtsverletzungen durch einige Staaten klagen. Besonders gestört hat nämlich die die Diskriminierung dieser Völker niemand; selbst die Anzahl der Sonntagsreden hatten keine quantitativ durchschlagende Wirkung.
Die praktische Umsetzbarkeit ist schon fraglich: Beispielsweise versagte die EU sehr lange, das finanziell abhängige Ungarn in einem großen Machtverhältnis auf Rechtsstaatslinie zu bringen. Im Vergleich zu China ist das Machtverhältnis gegenüber den Firmen gerade umgekehrt. Wenn es also Golitath nicht schafft, soll es David richten?
Wirklich spannender Beitrag!
Man kann ihn gut auch als Anknüpfung an das als “Brussels Effect” (Anu Bradford) umschriebene Phänomen der normativen und faktischen Wirkungen europäischer Normsetzung auf Staaten und private Akteure außerhalb des europäischen Raums betrachten. So wird die Wirkung insb. von z.B. lebensmittelregulatorischen RL auf weltweite Produkt- und Lieferketten oftmals bewundert, ohne indes die Nachteile wie den Ausschluss von kleineren Produzenten aus dem europäischen Binnenmarkt entsprechend zu würdigen. In diesem Sinne verdeutlicht der Artikel gut die mit dem “Brussels Effect” einhergehende Verantwortung der EU.