Der Wert der Gleichheit
Die größte Gefahr des autoritären Populismus für die liberale Demokratie besteht darin, dass er die politische Gleichheit aller Bürger*innen zu verneinen versucht. Häufig wird die liberale Demokratie mit ihren Institutionen und Verfahren gleichgesetzt. Was die liberale Demokratie im Kern auszeichnet – dass sie ihren Bürger*innen den Status als freie und gleiche Mitglieder des politischen Gemeinwesens gewährt – gerät so manchmal in Vergessenheit. Dabei ist es gerade dieses demokratische Grundprinzip, das autoritäre Populist*innen in Deutschland und darüber hinaus heute angreifen. Umso erfreulicher ist es, dass das Oberverwaltungsgericht NRW (OVG NRW) den Angriff auf die politische Gleichheit zum Kernstück seines Urteils gemacht hat, mit dem es die Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz für rechtmäßig erklärte.
Was heißt eigentlich Demokratie?
Was meinen wir, wenn wir sagen, dass der autoritäre Populismus eine Gefahr für die liberale Demokratie darstellt? Was steht wirklich auf dem Spiel, wenn es heißt, dass die Demokratie zu erodieren droht? Um diese Frage zu beantworten, muss zunächst geklärt werden, was Demokratie an sich bedeutet. Heute wird Demokratie häufig gleichgesetzt mit den Institutionen und Verfahren, die sie ausmachen: Wahlen, Mehrheitsprinzip, Gewaltenteilung, Parlament, Regierung, Verwaltung mit föderativen und kommunalen Einrichtungen, Medien. Auch das grundgesetzliche Demokratieprinzip reduziert die Demokratie auf bestimmte institutionelle und prozessuale Aspekte: Volkssouveränität, Wahlen und Abstimmungen, Legitimation, Repräsentation und Parlamentarismus, Mehrheitsprinzip und die Rolle der politischen Parteien.
Während eine solche institutionenenzentrierte Betrachtungsweise den Vorteil hat, dass sie die demokratische Qualität von politischen Systemen messbar und vergleichbar macht, kann sie jedoch auch zu geradezu ungeheuerlichen Kategorisierungen führen: So klassifizierte Juan José Linz1), eine Koryphäe der politikwissenschaftlichen Regimeforschung, das Apartheidsregime in Südafrika als „racial ‚democracy‘“. Linz erkannte zwar, dass es paradox ist, ein Regime, in dem nur ein Bruchteil der Bevölkerung wählen durfte, als Demokratie zu kategorisieren und setzte „Demokratie“ deswegen in Anführungszeichen. Dennoch blieb die Bezeichnung als „Demokratie“ haften. Ähnliches gilt natürlich für den Mythos, dass die USA die „älteste Demokratie der Welt“ seien – obwohl in den ersten Jahren ihres Bestehens Millionen Menschen legal versklavt wurden, weiße Frauen dort erst seit 1920 und Schwarze Menschen2) erst seit 1965 an Wahlen teilnehmen durften. Wie diese Beispiele zeigen, verschleiert ein Fokus auf demokratische Institutionen und Verfahren wie Wahlen allein den Blick auf den Kern dessen, was wir heute als Demokratie verstehen.
Auch aktuelle politik- und rechtswissenschaftliche Forschung zum Prozess des democratic backsliding, einer modernen Form der Autoritarisierung, betrachtet jedoch in erster Linie den Umbau und Abbau von demokratischen Institutionen. So definiert Nancy Bermeo democratic backsliding als „state-led debilitation or elimination of any of the political institutions that sustain an existing democracy“. Wie Steven Levitsky und Daniel Ziblatt in ihrem 2018 erschienenen Buch „Wie Demokratien sterben“ beschreiben, vollziehen sich die meisten demokratischen Erosionsprozesse heute nicht mehr in Putschen und Kriegen. Vielmehr werden sie durch gewählte autoritär-populistische Regierungen verursacht und erscheinen auf den ersten Blick sogar rechtmäßig, weil diese Regierungen die Erosionsprozesse beispielsweise als Wahlrechtsreformen oder Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung darstellen und von Gerichten genehmigen lassen. „Das tragische Paradox des Abgleitens in den Autoritarismus über Wahlen besteht darin,“ so Levitsky und Ziblatt, „dass die Mörder der Demokratie deren eigene Institutionen benutzen, um sie zu töten – schrittweise, fast unmerklich und ganz legal“.
Ein institutionelles Demokratieverständnis greift zu kurz
Um die eigentliche Gefahr des autoritären Populismus richtig zu verstehen, greift ein rein institutionelles Demokratieverständnis jedoch zu kurz. Das ist auch die These des politischen Theoretikers Jan-Werner Müller, der gleich zu Beginn seines 2022 erschienenen Buchs „Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit“ fragt: „Was ist wirklich entscheidend für die Demokratie? Sind es primär Wahlen oder verschiedene Grundrechte wie die Meinungsfreiheit, oder geht es um etwas schwerer zu Fassendes wie kollektive Einstellungen, zum Beispiel dass die Bürger bereit sind, einander zivilisiert und mit Respekt zu begegnen?“
Müller argumentiert, dass es notwendig sei, „über Regeln und Normen hinaus[zu]gehen und nach den Prinzipien [zu] fragen, die ihnen Halt geben“, kurz gesagt, „nach deren Geist.“ So sei eine Regel wie das Mehrheitswahlrecht nicht etwa deshalb gut, weil sie die besten Ergebnisse hervorbringt oder besonders effizient ist, sondern weil sie „ein Ausdruck der Achtung der Gleichheit der Bürger“ sei. Als einziges politisches System gewähre die Demokratie allen Bürger*innen einen Status als freie und gleiche Mitglieder des politischen Gemeinwesens. Politische Gleichheit in diesem Sinne, zu verstehen als formale und materiale Gleichbehandlung aller Bürger*innen durch staatliche Institutionen und durch andere Mitglieder der Gemeinschaft, ist laut Müller ihr wichtigstes Alleinstellungsmerkmal. Die Idee der Wahl als einziges Kernelement der Demokratie sei hingegen ein „Vorurteil der Modernen“ – eine verzerrte Verkürzung unserer Zeit.
Der populistische Volksbegriff
Autoritäre Populist*innen negieren den Status mancher Bürger*innen als freie und gleiche Mitglieder des politischen Gemeinwesens und führen eine Hierarchisierung ein. Dies ergibt sich aus der symbolischen Konstruktion des Volks, die im Zentrum jeder Form des Populismus steht (vgl. lateinisch populus, „Volk“, als Wurzel des Begriffs Populismus). Autoritäre Populist*innen erheben, wie Jan-Werner Müller in einem früheren Buch argumentiert, den Alleinvertretungsanspruch des wahren, reinen Volks. In der Populismus-Forschung, wie hier bei Cas Mudde, wird dabei vor allem die Abgrenzung des (einfachen – wahren – reinen – homogenen) Volks von den (korrupten – unmoralischen – parasitären) Eliten als charakteristisch beschrieben. Interessant dabei ist, dass der Begriff des Volks, wie Mudde herausstellt, „keinen wirklichen Inhalt“ hat, sondern allein auf den erfundenen Idealvorstellungen der Populist*innen beruht. Dennoch benötigen autoritäre Populist*innen Unterscheidungskriterien zwischen denjenigen, die zum Volk gehören und jenen, die außen vor bleiben sollen.
Natürlich ist nicht jede Formulierung eines Volksbegriffs demokratiegefährdend. Denn auch eine Demokratie muss definieren, wer zum Volk dazugehört, und wer nicht (vgl. altgriechisch dḗmos, „Staatsvolk“). Dabei ist die Frage, wer über die Zusammensetzung des demokratischen Volks entscheiden darf, ein klassisches demokratietheoretisches Dilemma: Es ist unmöglich, auf demokratische Art und Weise zu entscheiden, wer Teil des Volks ist, weil dazu bereits feststehen müsste, wer zum Volk gehört und diese Entscheidung treffen darf („democratic boundary problem“).
Lässt sich dennoch ein Unterschied zwischen einem demokratischen und einem populistischen Volksbegriff bestimmen? Jan-Werner Müller führt zwei Unterscheidungskriterien ein. Erstens sei ein demokratischer Volksbegriff nie (beispielsweise anhand rassistischer Kriterien) vorherbestimmt und immer falsifizierbar: Er müsse eine reine Hypothese bleiben und damit jederzeit politisch anfechtbar sein. Zweitens sei ein Volksbegriff nur dann demokratisch, wenn er „ein unverzichtbares Element der Demokratie an sich“ anerkenne – den Status aller Bürger*innen als Freie und Gleiche. Denn wenn dieser Status nicht mehr gilt, schreibt Müller, „dann ist das Spiel vorbei.“
Politische Gleichheit als Kernelement der Demokratie
Gelangen autoritäre Populist*innen an die Macht, so verlieren manche Bürger*innen jedoch ihren Anspruch auf politische Gleichheit. Während Populist*innen vorgeben, das Volk im Ganzen zu vertreten und einen zu wollen, versuchen sie in Wahrheit jedoch zu spalten. „Schließlich“, so Müller, „impliziert die Rede vom ‚wahren‘ oder ‚echten‘ Volk, dass manche nicht ganz ‚echt‘ seien – Menschen, die nur vorgeben, dazuzugehören, und das Gemeinwesen in irgendeiner Weise untergraben könnten oder bestenfalls Bürger zweiter Klasse wären.“ Populist*innen unterscheiden somit auch anhand rassistischer Kriterien, wer Teil des wahren Volkes sein darf und wer nicht. Wie real solches Gedankengut in autoritär-populistischen und rechtsextremen Kreisen auch in Deutschland ist, zeigten zu Beginn des Jahres die in den CORRECTIV-Recherchen aufgedeckten Remigrationspläne. Dabei mögen die autoritär-populistischen Bemühungen, rassifizierten Bürger*innen ihren Status abzuerkennen, zwar der Anfang sein. Das Ende sind sie nicht: Auch Frauen, behinderte Menschen und LGBTIAQ+ müssen damit rechnen, dass autoritäre Populist*innen ihnen nur einen abgewerteten Bürger*innenstatus zuerkennen.
Aus rechtswissenschaftlicher Perspektive versteht auch Anna-Katharina Mangold (die gemeinsam mit Nick Markwald zu diesem Symposium einen sehr lesenswerten Artikel zu Einfallstoren transfeindlicher Diskriminierung beigetragen hat) Gleichheit als Gelingensbedingung der Demokratie. Fragen der Gleichheit werden im deutschen Rechtssystem, wie Mangold und Mehrdad Payandeh im Vorwort zum von ihnen herausgegebenen Handbuch Antidiskriminierungsrecht schreiben, heute meist als Fragen der Diskriminierung behandelt. Diskriminierung definiert Mangold in ihrer Monographie im Umkehrschluss als „Verweigerung der Gleichbehandlung wegen der tatsächlichen oder vermeintlichen Zugehörigkeit zu einer kategorial bestimmten Personengruppe“. Dabei begründe im deutschen Recht das von Mangold so beschriebene „Übersetzungsprogramm“ der Menschenwürde den Anspruch auf Diskriminierungsfreiheit – und damit auf „demokratische Gleichheit“. Lässt ein Staat zu, dass manche Bürger*innen auf Grund ihrer vermeintlichen Gruppenzugehörigkeit (durch seine eigenen Organe oder durch Private) diskriminiert werden, begebe er sich „in Widerspruch zu seiner eigenen Grundbedingung: der demokratischen Gleichheit“, argumentiert Mangold. Denn wenn der Status einer Person als freies und gleiches Mitglied des politischen Gemeinwesens nicht mehr gilt, ist auch ihre menschliche Würde verletzt.
Vor diesem Hintergrund ist zu begrüßen, dass auch das OVG NRW Angriffe auf die politische Gleichheit ins Zentrum seines Urteils für die Beobachtung der AfD als Verdachtsfall stellt. So sah das Gericht den „begründeten Verdacht, dass es den politischen Zielsetzungen jedenfalls eines maßgeblichen Teils“ der AfD entspreche, „deutschen Staatsangehörigen mit Migrationshintergrund nur einen rechtlich abgewerteten Status zuzuerkennen.“ Dies stelle nach Art. 3 Abs. 3 GG eine „unzulässige Diskriminierung aufgrund der Abstammung“ dar, „die mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren ist“ (für eine ausführliche Diskussion siehe auch den sehr lesenswerten Beitrag von Berkan Kaya in diesem Symposium). In Übereinstimmung mit Jan-Werner Müllers Überlegungen zu den Gefahren des autoritär-populistischen Volksbegriff erkennt das Gericht also an, dass die größte Gefahr, die von der AfD für die Demokratie ausgeht, darin besteht, dass sie manchen Staatsbürger*innen ihre politische Gleichheit verwehrt.
Gegenseitige Anerkennung
Die Demokratie hat die paradoxe Aufgabe, ihre eigene Grundbedingung der politischen Gleichheit aller Staatsangehörigen zu gewährleisten. In erster Linie ist das die Aufgabe des Gesetzgebers und der Gerichte. Gelingen kann dies jedoch nur, wenn sich auch die Bürger*innen selbst im Alltag und in der Politik gegenseitig als Freie und Gleiche anerkennen. Dazu gehört es, dass wir alle daran arbeiten, eigene (unbewusste) Vorurteile und Zuschreibungen gegenüber vermeintlich „Anderen“ zu reflektieren und abzubauen. Die hohen Stimmanteile der AfD in Deutschland und anderer autoritär-populistischer Parteien in Europa und darüber hinaus, deren Politik fundamental auf der Infragestellung demokratischer Gleichheit aufbaut, lassen jedoch wenig Hoffnung aufkommen. Wie schnell migrationsfeindliche politische Propaganda in rassistische und islamfeindliche Gewaltausschreitungen umschlagen kann, die selbstverständlich auch keinerlei Unterschied zwischen Asylsuchenden und (rassifizierten) Bürger*innen machen, ließ sich zuletzt voller Schrecken in Großbritannien beobachten. Dass dies ohne Zweifel auch in Deutschland möglich wäre, zeigt die Geschichte der letzten dreieinhalb Jahrzehnte, die sich am besten als unvollständige Liste berüchtigt gewordener Ortschaften zusammenfassen lässt: Mölln, Solingen, Rostock-Lichtenhagen, Hanau, Halle. Dass es nicht (wieder) so weit kommt, liegt in unser aller Verantwortung.
References
↑1 | Linz, Juan José (1975): Totalitarian and Authoritarian Regimes. In: Greenstein, Fred I. and Nelson W. Polsby (Hrsg.): Handbook of Political Science, Volume 3: Macropolitical Theory, Reading, Mass.: Addison-Wesley, S. 326. |
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↑2 | In diesem Beitrag wird „Schwarz“ großgeschrieben. Das folgt der Empfehlung der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland. Die Großschreibung macht deutlich, dass es sich um eine konstruierte Zuordnung handelt, die die alltäglichen Erfahrungen Schwarzer Menschen prägt, und nicht um eine reale Eigenschaft, die auf die Farbe der Haut zurückzuführen ist. |
Die Aussage, dass Schwarze in den USA erst seit 1965 wählen dürfen, ist unzutreffend. In diesem Zusammenhang sei nur auf den 15. Zusatzartikel verwiesen.
… naja, das mit dem 15. Zusatzartikel funktionierte aber nicht so richtig, s. etwa hier:
https://en.wikipedia.org/wiki/Black_suffrage_in_the_United_States
Die Aussage der Autorin, die ich angegriffen habe, sagt aus, dass Schwarze in den USA bis 1965 nicht wahlberechtigt gewesen seien. Das ist schlichtweg unzutreffend und wird auch nicht dadurch richtig, dass es ihnen auch noch nach Inkrafttreten des 15. Zusatzartikels vielerorts faktisch verwehrt war, dieses Recht tatsächlich wahrzunehmen.