Des Kaisers neue Kleider
Die Diskussion der vergangenen Wochen hatte etwas Unwirkliches. Die globalen Finanzmärkte zeigten schonungslos die Konstruktionsschwächen der Währungsunion – und weite Teile der deutschen Öffentlichkeit schauen gebannt nach Karlsruhe. Die dortigen Verfassungsrichter sollten mit juristischen Methoden die Euro-Rettung in geordnete Bahnen lenken. Diese Erwartung an die obersten Juristen des deutschen Nationalstaats konnte nur enttäuscht werden.
Nun trägt das BVerfG gewiss keine Verantwortung für den übersteigerten Medienhype (etwa: Meinungsumfragen zum Entscheidungsausgang). Ganz schuldlos ist der zweite Senat dennoch nicht. Ganz bewusst nährten die Richter in den vergangenen Jahren die Erwartung, dass die Interpretation der Volkssouveränität eine Schlüsselfrage der Euro-Rettung sei. Es ist wie im Märchen von „Des Kaisers neue Kleider“: Wer immer prächtigere Gewänder als Zeichen von Macht und Klugheit anstrebt, steht am Ende nackt da. Dies gilt nicht anders für die Untertanen, die sich im Glanze ihres glorreichen Herrschers sonnen wollten.
Das ESM-Urteil zeigt eindrücklich, dass die Sehnsucht nach den prunkvollen Kostümen des souveränen Nationalstaats eine Illusion ist – aus rechtlichen, institutionellen und konzeptionellen Gründen. Das Fazit kann nur lauten: Höchste Zeit zum (juristischen) Umdenken.
Rechtliche Rückzugsgefechte
Karlsruhe hatte von Anfang an mit der Schwierigkeit zu kämpfen, das Europarecht immer nur aus der Außenperspektive beurteilen zu können. Seit dem Lissabon-Urteil heißt dies ganz konkret, dass sich das Gericht einzig auf die Auslegung des Demokratiebegriffs der Ewigkeitsklausel stützt. Dies war gewagt und bewirkte, dass die stabilisierende und rationalisierende Funktion der Verfassungsdogmatik weitgehend ausfiel (es ist bezeichnend, dass das BVerfG im Obersatz des ESM-Urteils mit Ausnahme der vorletzten Randnummer immer nur sich selbst zitiert). Auch die Demokratietheorie konnte zur Maßstabsbildung allenfalls am Rande beitragen. Zu weit hatte sich das Gericht vom interdisziplinären Forschungsstand entfernt, der die Legitimität transnationalen Regierens nicht vorrangig auf die staatliche Volkssouveränität zurückführt. Karlsruhe entwickelte die Verfassungsvorgaben im Alleingang.
Dennoch erwies sich die Volkssouveränität als Füllhorn. Sie leitete die Entwicklung nationalstaatlicher Kernzuständigkeiten, unter Einschluss des Budgetrechts, das der Europäisierung verfassungsrechtliche Grenzen setzt. Diese ermunterte zur Klage gegen ESM und Fiskalpakt (zumal der Präsident und der Berichterstatter in Zeitungsinterviews eine Volksabstimmung geradezu herbeizureden schienen). Hiernach stand durchaus zu erwarten, dass der Zweite Senat das jüngste Rettungspaket allenfalls mit strikten Grenzen für weitere Maßnahmen passieren lassen würde. Doch es kam anders: Die Idee justiziabler Haftungsobergrenzen begräbt das Gericht unter einem „weiten Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers“ – und dem Übergang zu einer (abgeschwächten) Version einer Fiskalunion erteilen die Richter gleich im Vorfeld ihr Plazet, weil „eine kontinuierliche Fortentwicklung der Währungsunion zur Erfüllung des Stabilitätsauftrags erforderlich werden kann.“ Die beiden verbleibenden Auflagen sind Trostpflaster. Auch wenn die Kläger es anders darstellen: sie haben verloren.
Wohlgemerkt: Ich bleibe bei meiner Ansicht, dass diese Positionierung des Gerichts richtig sind. Noch deutlicher als das Griechenland-Urteil kennzeichnet die ESM-Entscheidung eine erfrischende Ehrlichkeit. Die Volkssouveränität enthält nur wenige justiziable Vorgaben; über die Integrationsgrenzen entscheidet in erster Linie der Bundestag. Dies bekräftigt zu haben, ist der bleibende Verdienst des jüngsten Urteils.
Kulissenwechsel: EZB-Anleihekäufe
Nun lassen sich die Kritiker das Argument der Verfassungswidrigkeit nicht so schnell aus der Hand nehmen. Von daher überrascht es keineswegs, dass speziell die FAZ leichte Andeutungen im ESM-Urteil ausreichen lässt, um eine vermeintliche Attacke des BVerfG gegen die EZB auszumachen (nachdem der Zweite Senat die Klage gegen das erste EZB-Anleihekaufprogramm im Griechenlandurteil noch schlichtweg ignoriert hatte). In der Tat mag einiges dafür sprechen, dass die EZB-Käufe im Zentrum der nächsten Hauptsacheverhandlung stehen werden. Die Rahmenbedingungen werden dann jedoch andere sein.
Die Rechtmäßigkeit der EZB-Anleihekäufe wird nämlich anhand europäischer Rechtsmaßstäbe beurteilt werden müssen, weil die Ultra-Vires-Kontrolle sich auf die Verletzung des Art. 123 AEUV bezieht. Bei dessen Auslegung kommt der Zweite Senat an einer Vorlage an den EuGH nicht vorbei. Dies ist für sich genommen nichts Spektakuläres und begründet insbesondere keinen symbolischen Akt der Unterordnung, weil der EuGH ganz genau weiß, dass das BVerfG sich die Letztentscheidung vorbehält. Dennoch ändert sich mit der Vorlage viel.
Die Zeiten, wo die Euro-Krise durch deutsche Richter (BVerfG) anhand staatlicher Rechtsvorschriften (Art. 79 GG) beurteilt und im Ergebnis nationale Institutionen (Bundestag) gestärkt werden, sind vorbei. Stattdessen rückt das supranationale Recht ins Zentrum, dessen Auslegung einen transnationalen Diskurs einfordert. Hierbei wird sich zeigen, dass die in Deutschland zumeist als selbstverständlich unterstellte Europarechtswidrigkeit der Rettungsmaßnahmen so selbstverständlich nicht ist. Dies gilt für die Bestimmungen zur EZB ebenso wie für den im Deutschen zumeist suggestiv „Bailout-Verbot“ genannten Art. 125 AEUV, dessen Wortlaut gesamtschuldnerische Haftung verbietet – nicht jedoch freiwillige Hilfskredite. Vor dem EuGH werden nicht nur deutsche Stimmen zu Wort kommen. Bei den im Vorfeld des Maastricht-Vertrags rechtspolitisch umstrittenen Artikeln zur Währungsunion ist dies besonders wichtig.
Institutionelle Zweibahnstraße
Ein Hauptproblem des Lissabon-Urteils war und ist die Annahme, dass Demokratie vorrangig im Nationalstaat stattfindet und speziell das Europäische Parlament von Karlsruhe zuerst rhetorisch kleingeschrieben und sodann auch ganz real in seiner Funktionsfähigkeit untergraben wurde. Die anstehende EuGH-Vorlage begründet hierzu einen wichtigen Kontrapunkt. Im Idealfall profitieren hiervon alle supranationalen Institutionen, die in Deutschland bisher vor allem als Zaungäste wahrgenommen wurden. Europa würde hierdurch nur gewinnen. Es kann langfristig nicht gutgehen, die Währungsunion um Elemente einer Fiskalunion zu bereichern und gleichzeitig den öffentlichen Diskurs zu europäischen Themen beinahe ausschließlich auf nationalstaatliche Einrichtungen und Rechtsvorschriften zu konzentrieren. Dies ist kein Plädoyer für eine simple Föderalisierung, in der das Europäische Parlament den Bundestag ablöst, sondern die Hoffnung auf eine komplementäre Zweibahnstraße.
Für die Funktionsfähigkeit der supranationalen Rechtsgemeinschaft ist die EuGH-Vorlage eine notwendige, nicht jedoch eine hinreichende Voraussetzung. Der EuGH, das Europäische Parlament und die EU-Kommission müssen erst noch beweisen, dass sie Europa in der Währungskrise mit ihren Instrumenten verantwortungsvoll führen können. Beim EuGH bin ich hier optimistisch (auch wenn jüngere Urteile nicht immer überzeugten). Dagegen enttäuschte die Kommission zuletzt. Der Vorschlag in Barrosos State-of-the-Union-Rede, dem Demokratiedefizit durch ein neues Statut politischer Parteien in der EU zu begegnen, ist bestenfalls naiv. Politische Führung in der Krise sieht anders aus.
Ein Ausweg aus der Sackgasse
Der mediale Hype um die Bundestags-Abstimmungen zur Euro-Rettung sowie die BVerfG-Urteile zeigt, wie die verfassungsjuristische Stärkung des Nationalstaats in eine politische Alltagspraxis umschlägt, die ihrerseits eine diskursive und identifikatorische Stärkung der nationalstaatlichen Identität mit sich bringt. Das mag das BVerfG mit seiner Europa-Rechtsprechung indirekt auch bezweckt haben. Jetzt reicht es jedoch. Es ist höchste Zeit für eine Neubalancierung des öffentlichen und des juristischen Diskurses. Die Rückkehr zum Nationalstaat bleibt eine Illusion, von der manch Staatsrechtlehrer und Bürger träumen mag, die Deutschland aus guten Gründen jedoch nicht wählen wird. Ein Auseinanderbrechen des Euro ist schlicht zu teuer (ganz zu schweigen von den Folgekosten), rechtlich unzulässig, ahistorisch und politisch nicht gewünscht. Es wird Zeit, hieraus auch im Fachdiskurs die richtigen Konsequenzen zu ziehen.
Das Schöne am Leben ist, dass es von Menschen gesteuert wird, die das Ruder herum reißen können. So kommt manches anders als man denkt. Im Märchen musste ein Kind die Nacktheit des Kaisers offen legen, weil dieser der Illusion von Macht und Klugheit erlegen war. Das BVerfG ist weiser. Es erkannte selbst, dass seine Argumente in eine Sackgasse führten. Der Zweite Senat wird nun gemeinsam mit dem EuGH die gesamteuropäische Rechtsgemeinschaft behaupten. Dies ist Aufgabe genug. Es wäre schade, wenn aufgrund von Grabenkämpfen zwischen Europa- und Verfassungsrecht der Glaube an das Recht insgesamt Schaden nähme. Dass dies verhindert werden kann, ist keineswegs ausgemacht. Luxemburg muss erst noch beweisen, dass es Demokratie und Recht ebenso verantwortungsbewusst schützen kann wie Karlsruhe.
Aber was ist mit den Vorbehalten? Da beginnt doch schon neuer Streit. Kann es sein, dass darin, also bezogen auf “Ersatzunionsrecht”, das neue “ja, aber” liegt? Das mag jetzt gutgehen. Aber es ist eine Einladung an Gauweiler u.a., so weiter zu machen. Die Verfassungsbeschwerde nach dem Lissabon-Urteil, die auf die Beifügung eines solchen Vorbehalts gerichtet war, hatte der 2. Senat noch zurüchgewiesen. Jetzt ist ein Tor geöffnet. Ich weiss nicht, ob dieser Weg kalter Nachverhandlungen ein guter Weg ist. Für die Demokratie in Europa, wie auch immer man sie konzipiert, gewiss nicht.
Die vollständige Dokumentation zu der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsbeschwerden ESM und Fiskalpakt in dieser Linksammlung / Linkliste: http://www.robertmwuner.de/verfassungsbeschwerden_esm.html
[…] vor Gericht riskieren auch Verfassungsrichter nur äußerst ungern." In einem Gastbeitrag für verfassungsblog.de beschäftigt sich der Rechtswissenschaftler Daniel Thym mit der Rolle der Volkssouveränität im […]