23 November 2021

Die Bundesanwaltschaft als Kind ihrer Zeit

Coverbild Staatsschutz im Kalten Krieg von Friedrich Kießling, Christoph Safferling, ISBN-978-3-423-28264-2Friedrich Kießling/Christoph Safferling: Staatsschutz im Kalten Krieg: Die Bundesanwaltschaft zwischen NS-Vergangenheit, Spiegel-Affäre und RAF, 2021

Viele wichtige Bundesbehörden haben die NS-Belastung ihres Personals in der Gründungsphase untersuchen lassen. Der Historiker Friedrich Kießling, der einen Forschungsschwerpunkt in der Kultur- und Ideengeschichte der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit hat, und der Strafrechtler Christoph Safferling, der mit der „Akte Rosenburg“ bereits durch ein vergleichbares Forschungsprojekt in Erscheinung getreten ist, haben nunmehr die institutionelle Nachkriegsgeschichte der Bundesanwaltschaft aufbereitet. Die gründliche Untersuchung befördert eine Fülle aufschlussreicher sowie lesenswerter Details und Arabesken ans Licht. Durch das Dickicht der Seilschaften, der Liebesaffären, der Konkurrenzen zwischen Bundesanwälten und Ministerialverwaltung und der Exzentrik der Zeit (z. B. der Führerschein als Sonderqualifikation für eine Betrauung Verkehrsrechtssachen) wird illustriert, wie ein elitärer, leistungsstarker und robuster Beamtenapparat in der selbstbewusst gelebten, aber eben auch nicht unbefleckten Tradition der Reichsanwaltschaft entstand und sich nach der Spiegel-Affäre in eine tiefgreifend liberalisierte Republik einfügen musste, als der öffentliche Druck überhandnahm.

Die Erblast der Parteigenossen

Der bekannte Fall Wolfgang Fränkel ist nach den Verfassern „ohne Zweifel einer der größten NS-Skandale in der alten Bundesrepublik“ (S. 252). Bundesanwalt Fränkel wurde als Nachfolger von Max Güde Generalbundesanwalt (GBA) und konnte auf eine ungebrochene Karriere verweisen, die in seiner Zeit in der Reichsanwaltschaft (1936-1943) Fahrt aufnahm. Er fiel dort durch eine exzessive Beantragung der Todesstrafe auf, nutzte oftmals die Nichtigkeitsbeschwerde, um aus seiner Sicht zu milde Urteile korrigieren zu lassen, und drang mit seinem Fanatismus selbst Anfang der 1940er Jahre beim Reichsgericht nicht immer durch. Dass er seinen Aufstieg ab 1947 gleichwohl ungebremst fortsetzen konnte, lag auch an der Deckung durch Kollegen, deren Kumpanei mit Fränkel, der 1962 als untragbar in den einstweiligen Ruhestand versetzt wurde, offenbar nie nachteilige Folgen zeitigte.

Vermeintliche Strenge bei der Überprüfung ehemaliger NSDAP-Mitglieder, so zeigen die Autoren, diente meist eher der Rechtfertigung, jemanden doch einzustellen, weil er ja einer rigiden Überprüfung standgehalten habe, die sich oft weitgehend auf Selbstauskünfte stützte. Wer seine Biographie elastisch an die neuen staatsrechtlichen Verhältnisse anpasste, stieß durchweg auf Wohlwollen. NS-Lebensläufe wurden normalisiert. Vergleichbar mit anderen Mythenbildungen wurde die Differenz von einer „sauberen“ regulären Justiz und einer belasteten Sonderjustiz konstruiert, die Breite der Mitverantwortung für den NS-Terror camoufliert. Noch Mitte der 1960er Jahre waren zehn von elf Bundesanwälten frühere Parteigenossen der NSDAP.

Opportunisten und Konformisten als Aufbauhelfer

So wesentlich anders dürfte es freilich bei keiner von Rechtsstäben dominierten Behörde in der Nachkriegszeit ausgesehen haben. Die akademischen „Eliten“ mit Verwaltungserfahrung waren überwiegend braun. Es standen keine Kohorten von Dissidenten und Remigranten zur Verfügung, um Ämter zu übernehmen. Mit konsequenter Wertethik allein war kein neuer Staat zu machen. Zu viele waren diskreditiert – nicht nur alte „PGs“. Zu den systemübergreifenden Konstanten gehört bis heute indes ein habituell prägender Karrierismus der Juristenstäbe. Vielleicht war für die erfolgreiche Reintegration der ins NS-Regime Verstrickten in den demokratischen Rechtsstaat weniger eine aufrichtige Läuterung entscheidend (die Studie belegt immer wieder die Resistenz gegen ein echtes Umdenken), sondern ein strategisches Ausnutzen opportunistischer Beweglichkeit. Der Mitläufer dort blieb Mitläufer hier, er „funktionierte“ eben.

Das ist gewiss hässlich. Aber was wäre die Alternative gewesen? Ein Zusammenbruch der Rechtspflege hätte den Aufbau eines demokratischen Rechtsstaats womöglich viel stärker beschädigt als die beschönigte Erblast der NSDAP-Mitglieder. Der Pool stromlinienförmiger Karrieristen, die sich jeder politischen Ordnung anpassen, half jedenfalls, Institutionen am Laufen zu halten oder wieder aufzubauen. Marlene Grunert hat anlässlich der Buchvorstellung nochmals mit Recht darauf aufmerksam gemacht, dass das Gelingen eines Aufbaus demokratischer Strukturen mit kontaminierten, aber kaum verzichtbaren Personalressourcen weiterhin Gegenstand von Forschung ist. Welche Auswirkungen nun die NSDAP-Parteimitgliedschaft auf die praktische Arbeit der Behörde und ihre staatspolitische Grundhaltung hatte, bleibt bislang weitgehend opak. Beispielsweise der frühere GBA Max Güde, der bei den Verfassern nicht zuletzt aufgrund seines offensiven Umgangs mit der NS-Vergangenheit und seiner liberalen Offenheit durchweg gut wegkommt, war ebenfalls unauffälliges NSDAP-Mitglied.

Etatismus – ein Rückstand des NS-Staates?

Ein traditionsreicher autoritärer Etatismus erscheint mit den Verfassern als Erklärungsansatz für eine „schneidige“ Ausrichtung der Behörde plausibler. In der Tat ging es auch um die Frage, was der Staatsschutz schützt: den Staat oder die konkrete Verfassungsordnung (S. 281)? Ein altbackener Etatismus wird als Ausdruck zeitgenössischen Staatsdenkens auch auf die Strafverfolgung abgefärbt haben. Er war jedoch gerade kein Proprium des NS-Rechtsdenkens, das dynamischere Bezugspunkte hatte („Bewegung“, Volksgemeinschaft und Führer), mit einer dem Politischen entrückten und neutralisierten Staatsidee aber letztlich nichts anzufangen wusste. Die radikale Linke wiederum fremdelte weniger mit dem Staat als mit der konkreten freiheitlich-pluralistischen Verfassungsordnung, mit der nicht nur ein autoritärer Konservativismus erst Frieden schließen, die sich aber auch erst langsam (zumal mit dem BVerfG als Geburtshelferin) entfalten musste.

Rechtspositivismus als Risiko oder Chance?

Irritierenderweise fremdeln die Verfasser mit angeblich „problematischen rechtspositivistischen Implikationen aus der Zeit der NS-Justiz“ in der Rechtsstaatsidee (S. 286). Positivismus ist eine der Grundbedingungen moderner Rechtsstaatlichkeit und gerade für eine Demokratie unverzichtbar. Die NS-Rechtsdoktrin war hingegen stramm anti-positivistisch. Eine Rückkehr „zu der für Tiefe gehaltenen Dunkelheit der Metaphysik“ (Hans Kelsen) war ebenso Programm wie ein Denken in irrlichternden Ontologien vermeintlich natürlicher Ordnung. Das ist alles gut untersucht. Wollen die Verfasser hier wirklich die längst widerlegte These reanimieren, der Rechtspositivismus habe die Juristen im NS-Staat wehrlos gemacht? Das war eine wohlfeile Ausrede gerade derjenigen, deren ungebrochene Karrieren die Studie mit Recht kritisiert.

Die auf andere Weise anti-positivistische (Pseudo-)Naturrechts-Renaissance der Nachkriegszeit war vor allem autoritär-restaurativ. Die Verfasser weisen selbst auf die heute eher skurril wirkenden Sehnsüchte nach einer neuen Anti-Moderne als Unrechtsbewältigungsstrategie hin (S. 276). Die Flucht in das vermeintlich Übergesetzliche erlaubte eine Verdrängung und zugleich ein bequemes Abwälzen von Verantwortlichkeit durch eine selektive Bestrafungsmaschinerie, die es erlaubte, dass sich alle irgendwie als Opfer von Hitler, Himmler und SS-Schergen fühlen konnten. Echter Rechtspositivismus hätte vor allem kritisches Potential gehabt und verdeutlicht, dass das Recht eine menschengemachte Ordnung ist, unter der es konkret möglich war, rassistische Verfolgung, Kriegsverbrechen und Massenmord zu legalisieren. Die Frage, wie jeder zum Entstehen und Fortbestand dieser Ordnung beigetragen hat, ließe sich dann präziser beantworten.

Antikommunismus als demokratischer Sündenfall?

Der starke Fokus der Studie auf den unbarmherzigen Umgang mit Kommunisten, der eine beinharte etatistische Gangart des GBA belegen soll, wirkt bisweilen ungewollt verzerrend. Die KPD der jungen Bundesrepublik war keine harmlose linke Radikal-Opposition Andersdenkender, die jede pluralistisch-demokratische Rechtsordnung schlicht aushalten muss, sondern – mit allen Schattierungen im Einzelnen – tatsächlich noch verlängerter Arm eines stalinistischen Regimes. Man musste kein Alt-Nazi sein, um die Aktivitäten der KPD im „Frontstaat“ der 1950/60er Jahre als ernste Staatsgefährdung wahrzunehmen. War das Ziel, tragende „Verfassungsgrundsätze außer Kraft zu setzen“ (S. 306), etwa von einer kommunistenfressenden Bundesanwaltschaft herbeifantasiert? Die KPD selbst war in ihrem Verbotsverfahren hier aufrichtiger.

Entsprechendes gilt für den Antikommunismus, dessen Vielschichtigkeit die Verfasser selbst einräumen. Ist etwa das Anprangern von Menschenrechtsverletzungen im Ostblock verdächtig? Kann man dem altbundesrepublikanischen Antikommunismus ohne Blick auf die Realität sozialistischer Diktaturen des Ostblocks wirklich gerecht werden? Die heute befremdliche Verbissenheit der Auseinandersetzungen in der frühen Bundesrepublik war sicher auch, aber doch nicht nur ein Kulturphänomen des Kalten Krieges. Zu Überreaktionen führende Vulnerabilitätserfahrungen und Konflikte hatten ihre eigenen Freiheitskosten und haben bisweilen gesellschaftliche Liberalisierungen verzögert, bisweilen vielleicht aber auch erst katalysiert.

Die Entradikalisierung und Verrechtsstaatlichung der Auseinandersetzungen – bei allen Problemen expansiver Tatbestandsauslegung im Staatsschutzstrafrecht – sprechen auch die Verfasser an. Die anti-totalitäre Ausrichtung des Rechts, die sich gegen Gewalt- und Willkürherrschaft unabhängig von ihren Motiven richtet, war in den Parteiverbotsurteilen zu SRP (1952) und KPD (1956) vom BVerfG besiegelt worden, das hier eher seiner Zeit voraus war und in den Urteilsgründen bereits die Matrix eines modernen demokratische Pluralismus vorzeichnete. Es ging eben nie um „irgendeinen“ Staat. Auch die Agitation der KPD richtete sich nicht gegen den Staat als solchen, sondern gegen dessen freiheitliche Ordnung, gegen Pluralismus und Demokratie.

Fälle machen noch keine Politik

Auch die Verfolgungsstatistiken des GBA sind nicht zwingend politisch aussagekräftig. Schließlich folgen die Fälle den sozialen Konflikten, und diese sind nicht immer symmetrisch verteilt. Etwa die Feststellung, dass die „juristische Bekämpfung des Rechtsradikalismus durch die Bundesanwaltschaft […] überwiegend eine Sache von Einzelaktionen“ geblieben sei (S. 382) – die Verfasser bemühen sich hier um Fairness und Differenziertheit – lassen kaum Schlussfolgerungen zu, solange man nicht erfährt, um welche Delikte es ging und ob überhaupt eine Zuständigkeit des GBA begründet war. Dass der Antitotalitarismus „einen klaren antikommunistischen Überhang“ gehabt hat (S. 386), lag wohl nicht zuletzt an der realen Bedrohungslage, weil Linksextremismus im Kalten Krieg Projektion eines landesverratsfähigen System-Gegenentwurfs war, der dem bis in die letzte Faser diskreditierten Rechtsextremismus so nicht zur Verfügung stand. Auch heute gibt es etwa im Vergleich zu islamistisch motivierten Staatsschutzdelikten nur wenige Verfahren beim GBA, schon weil für die meisten rechtsextremen Gewalt- und Äußerungsdelikte die Staatsanwaltschaften der Länder zuständig sind. Würden neue Strukturen eines rechtsextremistischen Terrorismus mit breiterer Basis entstehen, würde sich auch das blitzschnell ändern.

Moralismus

Bisweilen wird die Studie mit ihrem unterschwelligen Hang zum Moralisieren im Juristischen etwas ungenau: So gab es z. B. keine „Schelte“ des EuGH wegen der Abhängigkeit der deutschen Staatsanwaltschaften (so aber S. 124); es wurde lediglich festgestellt, dass politisch weisungsabhängige Staatsanwaltschaften keine EU-Haftbefehle ausstellen dürfen. „Verfassungstreue“, „Grundrechtsverwirkung“ und „Parteiverbot“ sind nicht einfach „geläufige Vokabeln“ des zeitgenössischen Staatsrechts (S. 295 f.), sondern Bestandteile der Verfassung (Art. 18, 21 Abs. 2, 33 Abs. 5 GG), die sich heute gerade in Auseinandersetzungen mit dem Rechtsextremismus zu bewähren haben. Dass man „in Karlsruhe die Lage voll im Griff hatte“, weil der Staatsschutzsenat des BGH – potzblitz! – auch über die Revisionen in Staatsschutzsachen entschied (S. 321), wird eine juristische Leserschaft eher nicht überraschen. Ist es schließlich wirklich mangelnde Ernstnahme der Verfassung, wenn tatsächlich nicht ganz einfache Auslegungen von Art. 103 Abs. 2 GG und § 79 Abs. 1 BVerfGG nicht von Anfang an klar waren (S. 339)?

Autoritärer Zeitgeist und liberaler Wandel

Auch eine Strafverfolgungsbehörde war nur ein Kind ihrer Zeit. Wenn man z. B. die öffentlichen Debatten im Kontext des Auschwitz-Prozesses nachliest, war die Bundesanwaltschaft vielleicht nur Spiegel der Wirtschaftswunder-Gesellschaft, die ihre Schuld mit Schwarzwaldmädel- und Heinz-Erhardt-Filmen verdrängte. Die enge Fokussierung der Studie auf die Bundesanwaltschaft als Institution ist – notabene – kein Defizit. Die Detailstudie einer einzelnen Behörde und ihrer NS-Vergangenheit ersetzt aber keine vergleichende Gesamtbetrachtung, die Institutionen in die – bisweilen hässlichen – gesamtgesellschaftlichen Kontexte einordnet und nüchtern fragt, inwiefern eine Behördenkultur insoweit eigentlich auffällig war. Schon ein Blick auf innerjuristische Diskurse, den die Verfasser punktuell, aber vielleicht nicht konsequent genug wagen, wäre aufschlussreich. Etwa die menschenverachtende Verfolgung Homosexueller (S. 448 ff.) bis in die 1970er Jahre entsprach offensichtlich keiner Agenda, die die Bundesanwaltschaft hätte formulieren müssen. Es war ein kruder Zeitgeist, der selbst die Billigung des vergleichsweise unverdächtigen BVerfG in Entscheidungen fand, deren Begründungen heute zum Fremdschämen anregen.

Markieren Anti-Pluralismus, Homogenitätssehnsüchte und Staatsromantik nicht einfach einen gesellschaftlichen Mainstream der Nachkriegszeit, dessen Verkrustung erst langsam durch Liberalisierungsprozesse aufgebrochen werden musste? Und lässt sich die von den Verfassern konzise nachgezeichnete Wandlung der Behördenkultur nicht zumindest teils auch durch personelle Veränderungen von unten nach oben erklären? Die beständig gewachsene Behörde lebt gerade von den Leistungen der unteren Ränge. 1970 stand aber anderes Personal zur Verfügung als 1950.

Portrait einer Behördenkultur

Die Stärke der Studie liegt darin, durch ihre plastische Personalisierung und den hohen Detaillierungsgrad die Ambivalenz, die Schattierungen, die Unvollkommenheiten und die Farbigkeit von Persönlichkeiten des Rechtslebens zu veranschaulichen, die im Reich subsumierender Aktenwühler nur selten monochrome Helden oder Schurken sind. Am Ende ist man bereichert durch filigrane Einblicke in die Behördenkultur. Über die Frage, ob die Bundesanwaltschaft überdurchschnittlich NS-belastet war, ob sich ihre staatstragende Mentalität im Wandel von der dominanten Grundhaltung anderer Behörden unterschied und wie sich die nachgezeichneten Wandlungen in die bundesrepublikanische Gesellschaftsgeschichte einfügen, erfährt man vergleichsweise wenig. Wahrscheinlich wären die Befunde hierfür schlicht zu unauffällig, wenn man nicht heutige Wertmaßstäbe anlegt, sondern historisierende Vergleiche im Zeitkontext anstellt.

Die Institutionengeschichte zeigt freilich einmal mehr: Ein unpolitisches Rechtsverständnis, das die deutsche Juristenausbildung mit ihrer dogmatischen Erbsenzählerei traditionell vermittelt und die epistemische, ethische, historische und kulturelle Matrix von Recht in „Grundlagenfächer“ auslagert, produziert zwar funktionstüchtige Verwaltungsstäbe, aber eben auch systemindifferenten Opportunismus und Konformismus.