22 April 2016

Die Causa Böhmermann: Ein Tiefpunkt und noch ein Tiefpunkt und noch ein Tiefpunkt

Die Frage, die der Fall Böhmermann aufwirft, ist nicht, ob Böhmermann sich strafbar gemacht hat oder nicht und die Bundesregierung ihre Ermächtigung zur Strafverfolgung erteilen durfte oder nicht. Sondern die Frage ist, ob es Sinn macht, in diesem Fall mit dem Recht zu kommen. Das hängt auf einer ersten und vordergründigen Ebene davon ab, ob das Recht auf diesen Fall überhaupt eine Antwort oder jedenfalls eine einigermaßen klare Antwort hat. Hat es eine Antwort?

In meinem Kolloquium über öffentlich-rechtliche Tagesfragen, in dem ich den Fall gerade zur Diskussion stellte, waren die Meinungen dazu geteilt; viele Teilnehmer hatten ersichtlich Schwierigkeiten, sich überhaupt eine zu bilden. Das Erdogan-Gedicht für sich gesehen, war die einhellige Meinung, geht zu weit, es ist ein absoluter Tiefpunkt, tiefer hinunter geht es eigentlich nicht. Aber wird es nicht durch seine Einbettung und den Kontext, in den es gestellt ist, gerettet, indem es nämlich gerade als ein Beispiel dafür hingestellt wird, was überhaupt nicht geht? Das ist in diesem Blog – wie andere sekundiert haben: überzeugend – demonstriert worden. Aber dagegen ließe sich die Gegenfrage stellen, ob der Inhalt des Gedichts– nennen wir es einmal weiterhin so – nicht von einer solchen Art ist, dass es völlig egal ist, wie und worin man ihn einbettet. Darf man, wenn man nur vorher sagt, dass man es nicht ernst meint, wirklich alles sagen? Die Zeitschrift Titanic veröffentlichte einst ein Titelbild mit einem toten Björn Engholm in der Badewanne und der Unterzeile „Das ist nicht komisch, Herr Engholm“. Als Engholm dagegen juristisch vorging und dies öffentlich mit der Aussage rechtfertigte, er müsse sich diesen „Schmutz“ nicht gefallen lassen, konterte Titanic in der nächsten Ausgabe mit mehreren Fotomontagen, unter denen stand: „Das ist wirklich Schmutz, Herr Engholm“. Eine zeigte Engholm, wie er als Soldat im Vietnamkrieg einen gefangenen Vietcong erschoss, eine andere ihn mit entblößtem Unterkörper und grotesk vergrößertem Geschlechtsteil. Geht das nicht doch zu weit? Und zwar für sich und aus sich heraus, ohne dass es auf irgendwelche distanzierenden Unterzeilen oder überhaupt irgendeine Art der Einbettung ankommt? Im Fall Engholm zielte die Redaktion ersichtlich auf ein Zelebrieren dessen, was alles vom Recht her verboten ist, und damit verband sich unterschwellig zugleich ein bewusstes Vorführen der öffentlichen Person: Seht her, das können wir mit dem machen.

Und anders als beim Nachlegen der Titanic gegen Engholm ist im Fall Böhmermann bei genauerer Lektüre auch gar nicht so klar, ob hier wirklich alles so unernst ist, wie es in der äußeren Einkleidung – alles ja bloß Schmähkritik – hingestellt wird. Wenn eine Zeile in dem betreffenden Gedicht lautet, Erdogan unterdrücke Minderheiten und trete auf Kurden ein, hat das ja einen realen Hintergrund. Oder wenn es außerhalb des Gedichts, also in dem, was man die Rahmenhandlung nennen könnte, ganz unsatirisch heißt: Wer Rechte anderer einschränkt, dem gehören selbst die Rechte eingeschränkt – wofür das Gedicht dann selbst gleich einmal vormacht, wie das geht. Dazu häuft es antitürkische oder antimuslimische – zuletzt vielleicht auch einfach: rassistische – Klischees in einer Weise auf, von der auch Muslime oder Türken, die mit Erdogan nichts am Hut haben, bekannt haben, dass sie sich dadurch gekränkt fühlen. Die Sache mit den Schafen und der Ziege etwa ist ein solches Klischee, das bis heute in rechtsradikalen Kreisen schenkelklopfend gepflegt wird. Nun sagen Böhmermanns Verteidiger: Das weiß er ja alles selbst, er will ja bloß spielen. Aber darf man wirklich mit allen Klischees so spielen? Und wenn es um Späße aus und mit der Intimsphäre geht, hört der Spaß jedenfalls juristisch schnell auf, wie Leute, die sich im Medienrecht besser auskennen als ich, mit guten Argumenten aus der Rechtsprechung des BVerfG geltend gemacht haben.

Versetzt man sich deshalb für einen Moment aus der Perspektive des Rechtsanwenders heraus und versucht, auf die ganze Debatte von oben zu blicken, müsste man also eigentlich sagen: Juristisch ist die Lage ziemlich offen (weshalb, nebenbei bemerkt, die Bundesregierung – Grundrechtsbindung hin oder her – durchaus nicht nur politisch, sondern auch juristisch gute Gründe gehabt mochte, die Ermächtigung zur Strafverfolgung zu erteilen und die abschließende Klärung der Justiz zu überlassen). Tatsächlich dürfte jeder rhetorisch zumindest mäßig begabte Jurist in der Lage sein, mit Hilfe der Abwägungstopoi, die jedem Studenten bereits in der Grundrechtsvorlesung eingehämmert werden, hier jedes beliebige Ergebnis überzeugend zu begründen: einerseits „schlechthin“ konstituierende Bedeutung der Meinungsfreiheit für die Demokratie, grundsätzliche Vermutung für die freie Rede, laxere Maßstäbe für Personen des öffentlichen Lebens, niedrigere Schwellen bei eigener Mitveranlassung, andererseits eben unzulässige Schmähkritik, Verbot der bewussten Herabwürdigung, Obacht bei Berührung der Sexualsphäre undundund – da sollte sich für jeden etwas finden lassen. Das ist, wie ein Kollege, mit dem ich mich über die Sache unterhalten habe, trocken diagnostizierte, eben die Folge, wenn alle Begriffe in endlosen Abwägungsprozeduren zerschossen werden. Und wie immer in diesen Fällen sagen die Lösungen, die daraus konkret entwickelt werden, mehr über denjenigen, der das Recht anwendet, als über den Inhalt des Rechts selbst.

Das muss man nicht beklagen, es ist die Realität unseres Verfassungsrechts. Es eröffnet aber vielleicht die Möglichkeit, zu dem vorzustoßen, was man das Problem hinter dem Problem nennen kann. Dieses liegt nicht darin, ob dem türkischen Präsidenten als Person hier ein schweres Unrecht widerfahren ist oder ob es nicht im Gegenteil am Ende doch den Richtigen getroffen hat. Es liegt vielmehr in der Frage, wie wir uns den politischen und gesellschaftlichen Diskurs in unserem Land künftig vorstellen und welche Maßstäbe wir daran anlegen wollen. Und ob es nicht für eine zunehmende Verdummung, wenn nicht Verrohung dieses Diskurses steht, wenn er so geführt wird, wie es Böhmermann uns nun in seiner Extremform vorgemacht hat. Es ist ja durchaus bezeichnend, dass sich immer mehr vermeintliche Komiker oder Satiriker an die Kaskade der Beleidigungen angehängt haben und vor der türkischen Botschaft schon die ersten Demonstrationen angemeldet wurden, auf denen das Erdogan-Gedicht öffentlich verlesen werden sollte. Überhaupt lässt sich beobachten, wie die Verhöhnung mehr und mehr ein geläufiges Stilmittel nicht nur des Unterhaltungsbetriebs, sondern auch der Auseinandersetzung mit Politik wird. Leute, die darüber lachen, finden sich immer. Kürzlich erschien dazu in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ein lesenswerter Beitrag, der der Frage nachging, was es für die politische Kultur einer Gesellschaft bedeutet, wenn in heute gängigen Satireformaten die meisten Politiker bloß als hilflose Tölpel dargestellt werden und immer mehr Bürger gerade daraus ihr Bild von Politik beziehen. Diesmal trifft es eine Figur, auf die man jedenfalls bei uns gefahrlos einschlagen kann, was soll daran eigentlich schlimm sein? Und mal ehrlich: War das nicht auch schon längst mal fällig? So kann man denken, so denken viele. Aber es bleibt die Frage, ob es nicht auch in der Auseinandersetzung mit solchen Leuten Grenzen gibt, die man besser nicht überschreitet. Und ob es nicht eine Kultur der Debatte – auch der Satire – gibt, die man, ohne groß darüber zu reden, einfach respektiert. Früher hätte man es Anstand genannt, noch altmodischer vielleicht bürgerlichen Anstand. Davon ist heute nicht mehr groß die die Rede. Und so gesehen könnte man das Ganze nicht nur wegen der Gossensprache, die hier öffentlich vorgeführt worden ist, auch als ein Symptom dafür behandeln, wie viel davon schon verloren gegangen ist.

Wenn man die Sache so sieht, geht es in diesem Fall gar nicht um die alte und wahrscheinlich auch bald als solche auftauchende Klausurfrage, ob sich Böhmermann hier strafbar gemacht hat. Es geht vielmehr um die noch ältere Frage des Verhältnisses von Recht und Moral, um die Frage also, ob mit Hilfe des Rechts bestimmte moralische Standards durchgesetzt werden sollen, welche Freiräume das Recht für unmoralisches Verhalten lassen kann und von welcher Schwelle an es dann doch einmal einschreiten müsste. Insoweit ist es möglicherweise kein Zufall, wenn diese Frage neuerdings auch in den verschiedensten anderen Zusammenhängen wieder auf die Tagesordnung kommt, etwa in den jüngst publik gewordenen Plänen der Bundesregierung, künftig per Gesetz gegen sexistische Werbung vorgehen zu wollen. Auch hier geht es darum, mit Hilfe des Rechts Grenzen zu ziehen, die offenbar aus dem Blick geraten sind. Und natürlich geht es auch um die Wahrung irgendwelcher Formen von Anstand. Es ist deshalb durchaus eine Ironie für sich, wenn ausgerechnet der Minister, der gegen einen um sich greifenden Sexismus auf Regulierung und Verbot setzt, nun im Fall Böhmermann öffentlich für die Freiheit der Zote eintritt. Natürlich: In all diesen Fällen gibt es gute Gründe für die Auffassung, das alles müsse dem Diskurs selbst regeln, der Staat dürfe hier mit seinem Recht nicht hineinregieren, alles andere sei schlimmster Paternalismus. Verfassungsrechtler kleiden das in einem Fall wie diesem typischerweise in den Satz, auch die unsinnige oder abwegige Meinung stehe unter Schutz und auch die schlechteste Kunst sei Kunst. Das praktische Ergebnis ist dann, dass jeder Schrott geschützt wird. Demgegenüber könnte man aber durchaus die Frage stellen, ob es nicht auch die Aufgabe des Rechts wäre, hier zumindest ab und an ein paar Grenzpflöcke einzuschlagen, die zeigen, dass es an dieser Stelle nicht weitergeht. Vielleicht gibt es ja selbst in solchen Äußerungsformaten wie der Satire immer wieder einmal Tiefpunkte, die dann auch durch das Recht als solche markiert werden könnten. Ob es am Ende groß hilft, steht sowieso auf einem anderen Blatt.


SUGGESTED CITATION  Volkmann, Uwe: Die Causa Böhmermann: Ein Tiefpunkt und noch ein Tiefpunkt und noch ein Tiefpunkt, VerfBlog, 2016/4/22, https://verfassungsblog.de/die-causa-boehmermann-ein-tiefpunkt-und-noch-ein-tiefpunkt-und-noch-ein-tiefpunkt/, DOI: 10.17176/20160422-135944.

53 Comments

  1. DPZ Fr 22 Apr 2016 at 16:02 - Reply

    Der Kommentar macht ein paar gute Punkte, was die allgemeine Eskalation der Debattenkultur angeht.

    Er verfehlt aber – wie die meisten derart gelagerten Kommentare – den Punkt in Sachen Böhmermann: Die Kontextualisierung, um die es in der Satire ging, war keine ‚Einbettung‘ oder ‚Haftungsausschluss‘, keine salvatorische Klausel – sondern der eigentliche Inhalt. Das ist eben das Problem, wenn man Kontext nur als Nebeneinander denken kann, im Sinne einer – auf Intention gerichteten – graduellen Relativierung und nicht, wie es in diesem Fall vom Material her geboten ist, als komplexes reflexives Verhältnis.

    In der Logik des Kommentars gesprochen: Das Gedicht war der eigentliche Kontext – es erfüllte keine andere Funktion als als Köder, Projektionsfläche und Demonstrationsobjekt zugleich zu dienen – und zwar präzise in der Form, in der es vorgetragen wurde. Weswegen ja auch etwaige Abschwächungsforderungen, die auf der scheinbaren Evidenz von ‚zu weit (gegangen)‘ basieren, von dieser Satire die Abschaffung ihrer Funktionsweise fordern. Die Kontextualisierung selbst war der Inhalt. Also nicht irgendeine Intention, sondern die Performance selbst war das, worum es ging. Die müsste man allererst in ihrer vollen Komplexität verstehen *), bevor man sie beurteilt.

    Ansonsten ergeht sich der Kommentar in einigen Ton-Argumentationen, die wegen ihrer fragenden Vorgehensweise zu keinem Kriterium vorstoßen, obwohl genau diese abwägende – und für juristische Kommentare offenbar typische – Frageweise zu Beginn klar problematisiert wird. Und er ergeht sich in – zumindest – der Implikation mehrerer assoziativer Fehlschlüsse von der Form ‚guilt per association‘, die also einen Text ohne hinreichendes Kriterium für seine Rezeption verantwortlich machen. Dass damit seine Interpretation von Böhmermanns Performance assoziativ gestärkt wird, ist klar. Aber überzeugend ist das leider nicht.

    Kurz: Die Fragerichtung stimmt – aber sie greift leider in mehrerlei Hinsicht zu kurz.

    *) Das zeigt übrigens an, dass ich hier kein Argument der Form ‚es ist kompliziert‘ vorbringe – die Komplexität ist eine bestimmte und sie ist auch vollständig beschreibbar. Das ist auch keine bloße Behauptung, sondern kann gezeigt werden. Eben deswegen stellt diese bestimmte Komplexität aber auch den zu beurteilenden Sachverhalt dar – und nicht eine reduktionistische Perspektive, die sich aus juristisch-hermeneutischen Gewohnheiten (Fragen nach Intention, Gewichtung von Inhalten, wo der Zusammenhang von Inhalt und Operation zentral ist usw.) her ergäbe. Der juristische Blick, auch wenn oder gerade weil er sich diskursanalytisch betätigt, verbleibt hier unterhalb der sachangemessenen Beurteilung dieser Satire – und ich würde behaupten: aus systematischen Gründen.

  2. Gesine Fr 22 Apr 2016 at 16:22 - Reply

    Um mal wieder die gute alte Idee vom Gesellschaftsvertrsg zu bedienen: geht es nicht genau darum? Wir schließen uns in Gesellschaften (heute zumeist Staaten) zusammen, um dadurch Sicherheit und Wohlstand zu erlangen- aber all das hat seinen Preis, eben den der Freiheit. Jetzt ist es eben Aufgabe dieser Gesellschaften, immer wieder auszutarieren, wie hoch dieser Preis ist, und ob er ggf. angepasst werden muss. Soll konkret heißen: In meinem freien privaten Raum darf ich tun und lassen, was ich will. Aber sobald andere Menschen berührt werden, gehört ein gewisses Maß an -man mag es nennen, wie man möchte: Anstand, Respekt, Achtung- dazu.
    Ihre Frage, ob zur Wahrung dessen das Recht eine Antwort hat, finde ich interessant. Was mir allerdings Bauchschmerzen bereitet, ist die Frage, warum zunehmend das Recht auf solche Fragen immer wieder die Antwort haben muss. Ich möchte an anderes erinnern: Als eine französische Zeitung Bilder von Kate Middleton veröffentlicht hat, die sie mehr oder weniger vollständig bekleidet, zeigten, haben die britischen Zeitungen sich quasi unisono gegen diese Veröffentlichung gestellt.

    Nun: es geht mit der Richterkeule. Dafür haben wir einen Verfassungsstaat. Aber dass es die Keule sein muss, weil für einige Bürger Respekt in der Verfassung, aber nicht im eigenen Verhaltenscodex steht, finde ich beunruhigend.

  3. schorsch Fr 22 Apr 2016 at 16:51 - Reply

    Die Formel von der Beleidigung mit Disclaimer („Darf man, wenn man nur vorher sagt, dass man es nicht ernst meint, wirklich alles sagen?“), die dieser Tage überall zu finden ist, scheint mir eine ziemlich schlechte Beschreibung des Böhmermann-Auftrittes. DPZ hat das alles bereits in viel schöneren Worten geschrieben. Aber man muss doch immer wieder darauf hinweisen, dass Erdogan in seiner Karriere ca. 10.000 zivil-, straf- und disziplinarrechtliche Verfahren wegen Beleidigung betreiben hat lassen und dass er kurz vor dem Sketch in eklatanter Verkennung der Meinungsfreiheit gerade des öffentlichen Rundfunks versucht hatte, mit diplomatischen Mitteln gegen eine deutsche Satiresendung vorzugehen. Von hier aus erschließt sich der Inhalt des Witzes. Und der hat mit dem Inhalt des Gedichtes tatsächlich eher wenig zu tun.

  4. pj Fr 22 Apr 2016 at 18:07 - Reply

    @DPZ: Gegen die Behauptung „Die Kontextualisierung selbst war der Inhalt“ spricht m.E., dass, anders als die selektive Wiedergabe von Vulgaritäten in manchen Medien nahelegt, das Gedicht sehr wohl einen eigenen Sprachwitz abseits jeder politischen Dimension hat. Man denke sich Erdogan/die Türkei einfach mal weg. Wie hätte denn das Publikum reagiert? Reimpaare á la „hört man flöten […] hat Schrumpelklöten“ kann man sich genau so gut auch völlig dekontextualisiert im Karneval vorstellen. Um darüber zu lachen, braucht es keinen satirischen Kontext.

    Das deutet darauf hin, dass dieses hier kontextuell eingebettete Gedicht durchaus ein nicht unbedeutendes Wirkeigenleben hat. Man kann nicht so tun, als wäre der einzige Inhalt der Performance die politische Satire. Ich halte es daher schon für richtig, gedanklich zwischen Gedicht und dessen Einbettung zu differenzieren.

  5. Jessica Lourdes Pearson Fr 22 Apr 2016 at 18:37 - Reply

    Vielen Dank, Jan Böhmermann! Du hast es geschafft, dass Juristen, Philosophen, Politik- und Sprachwissenschaftler Seit‘ an Seit‘ mit besorgten Bürgern und treuen Untertanen die Bedeutung von Begriffen wie „Ziegenficken“ (mit und mit ohne Kontext) erörtern und sogar einen völkergewohnheitsrechtlichen Rechtssatz der Staatenehre entdecken (für den Übung und Staatenpraxis freilich nur im Kreise überempfindlicher Diktatoren zu bestehen scheint und der erstaunlicherweise offenbar schon durch die Beschimpfung eines einzelnen Politikers durch eine Privatperson verletzt wird).

  6. DPZ Fr 22 Apr 2016 at 21:06 - Reply

    @pj: „Gegen die Behauptung ‚Die Kontextualisierung selbst war der Inhalt‘ spricht m.E. dass […] das Gedicht sehr wohl einen eigenen Sprachwitz abseits jeder politischen Dimension hat“

    Ich sehe nicht, wie das im Widerspruch zu meinem Argument steht. Meine Aussage „Die Kontextualisierung selbst war der Inhalt [lies: der Inhalt der Satire]“ impliziert logisch ja nicht, dass damit das Gedicht selbst keinen inhaltlichen Wert aufweisen kann – im Gegenteil: Damit es so funktionieren kann, wie ich es oben angenommen habe – „als Köder, Projektionsfläche und Demonstrationsobjekt zugleich“ – ist präzise die von Ihnen angesprochene Gestaltung notwendig.

    Ich behaupte, dass die Auslegungsrichtung zu verändern ist: nicht vom Gedicht her, als inhaltlich hauptsächlicher Ausgangspunkt, den Kontext zu erschließen – und diesen dann als Relativierung, ‚Einbettung‘, ‚Disclaimer‘ etc. misszuverstehen -, sondern umgekehrt, das Gedicht von der Performanz der Kontextualisierung her zu verstehen.

    Das Gedicht erfüllt eine Funktion, die es nur erfüllen kann, wenn es „einen eigenen Sprachwitz abseits jeder politischen Dimension hat“. Ihr Karnevalsbeispiel, auch oder gerade weil es dazu angetan ist, Ihre These vom „eigene[n] Sprachwitz“ zu belegen, widerspricht meinem Argument also nicht nur nicht, sondern bestätigt es. Gerade weil das Gedicht „ein nicht unbedeutendes Wirkeigenleben hat“, erfüllt es perfekt seine Funktion in der Performanz der Satire.

    „Man denke sich Erdogan/die Türkei einfach mal weg. Wie hätte denn das Publikum reagiert?“ – Das ist eine Frage, die man unmöglich sinnvoll beantworten kann, weil mögliche Kontexte unendlich sind. Zudem: Wenn man „sich Erdogan/die Türkei einfach mal weg[denkt]“, passiert ja genau das, was ich oben kritisiert habe: Man schneidet den wesentlichen Kontext (Erdogans Reaktion auf die Extra-3-Satire) weg und macht sich seinen Gegenstand damit zurecht. Dass man sich dazu natürlich stets die passende Rezeption ausdenken kann, ist trivial, beweist aber genau deswegen auch nichts.

    Texte und Kontexte lassen sich nicht wie empirische Dinge analytisch betrachten – oder man muss sich mit der Farbstärke von Druckerschwärze auseinandersetzen… (es handelt sich hier also um einen Kategorienfehler).

    Ihre Schlussfolgerung „Man kann nicht so tun, als wäre der einzige Inhalt der Performance die politische Satire“ überzeugt mich entsprechend nicht. Übrigens auch deswegen nicht, weil Sie mit dem „so tun“ sich auf ein Argument beziehen, dass ich an keiner Stelle gehalten habe. Ich habe nirgends behauptet, dass „der einzige Inhalt der Performance die politische Satire“ sei. Sondern umgekehrt: Dass die Performance der Inhalt der politischen Satire ist und dass das Gedicht, gerade weil es so gebaut ist wie es gebaut ist, eine bestimmte Funktion erfüllt.

    Auch Ihr letzter Satz stimmt mich eher nachdenklich: „Ich halte es daher schon für richtig, gedanklich zwischen Gedicht und dessen Einbettung zu differenzieren.“ Selbstverständlich ist das richtig – wie anders sollte man ‚Kon-text‘ verstehen, wenn nicht im Sinne dieser Differenzierung? Nur scheint mir bei Ihnen die Differenzierung – ganz im Sinne meiner Kritik am juristischen (intentional oder an einem inhaltlichen Sinn geleiteten) Kontext-Verständnis – nicht zu bedenken, dass man das, was man hier differenziert, gerade auch deswegen wieder aufeinander beziehen kann.

    Ihr Argument bestätigt also meine Kritik, die vorher eher luftleer im Raum herumhing. Und es gibt mir Gelegenheit, noch einmal auf das Wörtchen ‚reflexiv‘ zu verweisen, ganz im Sinne eines Inhalts, der sich auf seine Operation zurückbezieht – eben dieses Verhältnis ist in B.’s Satire mehrfach ineinander verschachtelt gegeben. Nur die Seite der Differenz zu betrachten reicht hier eben leider nicht aus.

    Wahrscheinlich liegt dieser letzte Schritt aber daran, dass Sie hier schon wieder die „Einbettung“ voraussetzen – gegen die ich oben ja argumentiert habe. Da ich nicht sehe, wo Sie ein Gegenargument zu meiner Kritik an einem auf Differenzierung und / oder (inhaltlicher) Relativierung fixierten Kontext-Verständnisses vorgebracht haben, hätten Sie hier präzise das als geltend vorausgesetzt, was ich in Frage gestellt habe.

    Ich sehe aber natürlich, worauf Sie hinauswollen – und es ist richtig, dass die inhaltliche Gestaltung des Gedichts (vielleicht aus redaktionellem Übermut) so vielschichtig geraten ist, dass man aufgrund dieser Vielschichtigkeit die Hauptrolle der Kontextualisierung übersehen kann.

  7. DPZ Fr 22 Apr 2016 at 21:09 - Reply

    @Jessica Lourdes Pearson: Wenn ich nicht so viel Angst vor Ihrer ironisch-bissigen Reaktion hätte, würde ich Sie gerne hierauf hinweisen: http://www.hoheluft-magazin.de/2016/04/na-logisch-der-fehlschluss-der-goldenen-mitte/

  8. Klaus Nolte Fr 22 Apr 2016 at 22:29 - Reply

    „dass man aufgrund dieser Vielschichtigkeit die Hauptrolle der Kontextualisierung übersehen kann.“

    Die Hauptrolle ist das, wodurch das Gedicht Aufmerksamkeit erzeugt. Und das sind die Herdentiere, denn das ist der Tabubruch.

    Der Tabubruch ist im zeitgenössischen Aufmerksamkeitswettstreit das Mittel der Wahl. Die Eskalation des Wettbewerbs führt über die Zeit zu einer bedrohlichen Knappheit an Tabus.

    Bedrohlich deswegen, weil Tabus den Kult von Gruppen und Gesellschaften ausmachen. Der Kult ist das, was die Gruppenwelt im inneren zusammenhält und worauf die Gruppenkultur gründet.

    Nun kann es durchaus sinnvol sein Reflektionsmechanismen zu entwickeln, die auch einen Blick auf die Tabus richten dürfen. (In diesr Ebene ist eine Publikation, wie die Titanic im allgemeinen und ein Beitrag, wie der über Engholm zu verorten. Der Beitrag ist deshalb gut, weil man sich dabei mit Erfolg etwas erdacht hat, was auch jenseits des Effekts Wirkung entfaltet. An eine solchen Wirkung über den Effekt hinaus kommt Böhmermanns Gedicht nicht heran.)

    Das Ende aller Tabus markiert aber unverkennbar das Ender einer Gruppe oder mindestens den Übergang in die heillose Verwahrlosung.

    Der Nukleus des kapitalistischen Sytems ist beobachtbar dazu verdammt seine Umgebung sukzessive mit immer größeren Enttabuisierungen zu kontaminieren um Aufmerksamkeit und damit Kaufkraft zu horten.

    Wenn wir die systemisch festgelegte Implosion verhindern wollen, dann braucht es taugliche Moderation, die u.a. von Gerichten erbracht werden muss.

    Wie soll es auch anders sein, Gesetzbücher sind zu weiten Teilen Tabukataster.

  9. Uwe Volkmann Sa 23 Apr 2016 at 11:36 - Reply

    @ DPZ: Der Kommentar macht ein paar gute Punkte, was die mögliche Interpretation des Böhmermanntexts angeht. Er verfehlt aber wie einige andere Kommentare auch den Punkt, um den es mir eigentlich ging. Der findet sich im vierten Absatz und besteht in dem Satz: Juristisch ist die Lage ziemlich offen. Insofern wollte ich eine mögliche (!) Sicht auf den Fall vorstellen, nicht mehr und nicht weniger. Dass es andere mögliche Sichtweisen gibt, ist darin eingeschlossen; sie finden sich ja gerade hier im Verfassungsblog. Man kann deshalb, lieber Herr Zorn, ohne weiteres auch die Zuordnung als Kontext oder als Inhalt umkehren oder noch über ein paar Metaebenen mehr nachdenken, alles geschenkt. Aber der von mir aufgestellte Satz, dass es Inhalte von einer solchen Art gibt, dass sie durch keine solche Zuordnung oder keine Einkleidung mehr gerettet werden können, würde dadurch doch gar nicht getroffen. Das Beispiel von @Gesine mit dem Bild der unbekleideten Kate, das ohne deren Zustimmung aufgenommen wurde, scheint mir in dieser Hinsicht einfach schlagend: Das darf man nicht abdrucken, egal wie man es einbettet, was darum herum alles aufgebaut und ob die eigentliche Botschaft vielleicht ganz woanders liegt. Es enthält für sich die Verletzung des Persönlichkeitsrechts, und deshalb geht es nicht, Punkt. Nun könnte man sagen, naja, das sei vielleicht bei Bildern so, aber hier gehe es doch um einen Text, vielleicht sogar um Kunst. Macht das aber – schon wieder so eine Frage – wirklich einen Unterschied? Man könnte sogar noch weiterfragen, ob es Böhmermann nach der bekannten Vorgeschichte nicht doch auch darauf ankam, Erdogan jetzt mal richtig zu reizen (und dann auch zu treffen); immerhin wusste er ja, dass der seine Texte liest und sie sich eigens übersetzen lässt. Natürlich ließe sich auch dem dann wieder entgegenhalten, dass nach einem weiteren bekannten Argumentationstopos des BVerfG bei mehreren möglichen Interpretationen eines Textes immer diejenige zu wählen ist, bei der dessen Verfasser straffrei davonkommt (unabhängig davon, wie der selbst es gemeint hat). Und natürlich ist Erdogan – @schorsch – alles andere als ein Unschuldslamm, was für die Abwägung auch wieder zu berücksichtigen wäre. Räume ich alles gern ein. Aber die auch für Juristen interessanten Fragen beginnen doch erst dann, wenn man selber mal auf eine Metaebene steigt, sich auf die strukturelle Offenheit des Rechts an dieser Stelle einlässt und nach der gesellschaftlichen Dimension des Falles fragt, der jetzt im Rechtssystem abgearbeitet werden soll. Dafür wäre das Tabu – @Nolte – durchaus eine interessante Kategorie (ohne dass ich alles, was sonst in Ihrem Kommentar steht, so übernehmen würde). Darüber nachzudenken erscheint mir jedenfalls sinnvoller, als wenn wir uns nun weiter entgegengesetzte Interpretationen des Rechts um die Ohren hauen; die werden dadurch auch erfahrungsgemäß nicht besser, und hier ist jetzt so langsam auch wirklich alles gesagt.

  10. Jessica Lourdes Pearson Sa 23 Apr 2016 at 15:57 - Reply

    @DPZ: Vielen Dank!

  11. DPZ Di 26 Apr 2016 at 12:26 - Reply

    @Klaus Nolte: „Die Hauptrolle ist das, wodurch das Gedicht Aufmerksamkeit erzeugt.“ – Wieso denken Sie, dass Sie festzulegen haben, was die Hauptrolle ist?

    Ihrem Argument kann man aber entnehmen, warum Sie es so festlegen wollen: Damit der Rest ins Bild passt. Denn indem Sie den „Tabubruch“ (der keiner ist, s. o.) in dieser hypertrophen Weise in den Mittelpunkt stellen, erzeugen Sie schlicht genau die Prämisse, die Sie benötigen, um das Ganze im Kontext eines „Aufmerksamkeitswettbewerbs“ zu deuten. Und diesen Wettbewerb knüpfen Sie dann ein Slippery-Slope-Argument einer „Eskalation … über die Zeit“, die zu einer angeblichen „Knappheit an Tabus“ führt.

    Dass das alles Sinn macht, bestreite ich gar nicht. Ich bestreite, dass es Sinn macht, sich die Prämissen für die eigene Argumentation so auszusuchen, dass der Rest nur noch lässliches Schließen im Bestätigungsfehler ist. Denn das ist ein – recht herber – Argumentationsfehler.

    Das gilt auch für diese Vulgär-Anthropologie hier, die gerne spätmoderne funktional höchst differenzierte und durch Komplexität auf allen Ebenen ausgezeichnete Gesellschaften mit Explikationsformen archaischer Gemeinschaften erklären will: „… weil Tabus den Kult von Gruppen und Gesellschaften ausmachen. Der Kult ist das, was die Gruppenwelt im inneren zusammenhält und worauf die Gruppenkultur gründet.“

    Irgendwann in der Mitte Ihres Beitrags haben Sie offenbar vergessen, dass Sie hier keine Vorlesung halten, sondern mit einem Argument an einer Diskussion teilnehmen. Weil für das alles, qua fehlschlüssiger Prämisse, non sequitur gilt, verweise ich daher auf den ersten Teil Ihres Beitrags und bitte um argumentative, nicht ex cathedra herab dozierende Auseinandersetzung mit den hier gegebenen Argumenten.

  12. DPZ Di 26 Apr 2016 at 13:19 - Reply

    @Uwe Volkmann: Eine nette Mimesis. Leider führt Sie mit dazu, dass Sie einige Argumentationsfehler machen. Lassen Sie mich Ihnen also beistehen:

    „Er verfehlt aber wie einige andere Kommentare auch den Punkt, um den es mir eigentlich ging“

    Der Verweis auf das, worum „es mir eigentlich ging“ ist ein Versuch, dem Kommentierenden die Richtung seiner Kritik vorzuschreiben. Wenn Sie eine Rede als Argument anführen, dann müssen Sie damit rechnen, dass Sie für jeden (!) Teil dieser Rede Verantwortung übernehmen müssen, nicht nur für den, mit dem Sie (per Velatus) eine stille Prämisse von ‚eigentlich Gemeintem‘ verbinden.

    Ihre Thesenfrage lautet: „die Frage ist, ob es Sinn macht, in diesem Fall mit dem Recht zu kommen.“ Sie ist verbunden mit der Fragestellung „Geht das nicht doch zu weit?“ Und Sie verweisen dann auf den Zusammenhang von „Recht und Moral“, also offenbar auf die Frage, inwiefern Böhmermanns Satire zwar rechtlich „offen“ ist, aber moralisch verwerflich. – Insofern finde ich Ihre nachträgliche Einengung auf das angeblich ‚eigentlich Gemeinte‘ „Juristisch ist die Lage ziemlich offen“ nicht besonders glaubwürdig.

    „Insofern wollte ich eine mögliche (!) Sicht auf den Fall vorstellen, nicht mehr und nicht weniger.“

    Selbstverständlich. Nicht anders habe ich Ihren Artikel verstanden – ansonsten hätte ich Ihnen eine andere Kritik entgegengehalten. Nur muss auch eine mögliche Sicht gut gerechtfertigt werden – und das tun Sie, aus den von mir genannten Gründen, eben nicht. Weil Ihre Interpretation des Böhmermanntextes anhand der ‚Einbettung‘ m. E. am Sachverhalt vorbeigeht. Weswegen es interessant ist, die Aufmerksamkeit auf Ihre mimetische Einleitung zu richten – denn dort scheinen Sie, in den „guten Punkten“, zumindest einige dieser Gründe anzuerkennen. Mich würde dann interessieren, welche das sind.

    „sie finden sich ja gerade hier im Verfassungsblog“

    Ich verstehe nicht ganz, welche Funktion diese Belehrung erfüllt. Können Sie sie mir bitte näher erläutern?

    „Man kann deshalb, lieber Herr Zorn, ohne weiteres auch die Zuordnung als Kontext oder als Inhalt umkehren oder noch über ein paar Metaebenen mehr nachdenken, alles geschenkt“

    Vielen Dank, lieber Herr Volkmann, dass Sie mir diese Möglichkeiten zugestehen. Nun habe ich allerdings nicht vorgeschlagen, „die Zuordnung als Kontext oder als Inhalt um[zu]kehren“ – als Vorschlag -, sondern die These gehalten, dass Ihre Explikation eine Verkehrung des gegebenen Verhältnisses ist, dass die Auslegung also gerade nicht beliebig ist – und dass darin der o. g. Fehler beruht. Ich behaupte also, dass Sie den Sachverhalt auf genau das reduzieren, was zu Ihrer Fragestellung passt – anstatt ihn redlich und vollständig darzustellen. Anstatt mein Argument also per Pappkamerad auf einen bloßen Vorschlag zu reduzieren und mit Freundlichkeiten abzuwehren, wäre es doch redlicher, auf diese These und die Gründe dafür einzugehen.

    „der von mir aufgestellte Satz, dass es Inhalte von einer solchen Art gibt, dass sie durch keine solche Zuordnung oder keine Einkleidung mehr gerettet werden können, würde dadurch doch gar nicht getroffen.“

    Doch, eben schon. Weil Sie durch „Inhalte“ a priori Ihre Auslegungsrichtung der Böhmermann-Satire voraussetzen. Und ich eben diese Auslegungsrichtung kritisiert habe – und die These gehalten habe, dass nicht das Gedicht selbst, sondern die Performanz der eigentliche „Inhalt“ ist; dass damit der – von Ihnen so gedachte – ‚Begleitkontext‘ eben keine „Zuordnung“ oder „Einkleidung“ ist, die dann den angeblichen „Inhalt“ des Gedichts irgendwie „retten“ soll – sondern umgekehrt: Dass das Gedicht präzise die Funktion hat (und, wie man an Ihrem Artikel und Kommentar sieht, diese Funktion auch erfüllt hat), vom Inhalt der Satire abzulenken und zugleich ihr Demonstrationsobjekt abzugeben.

    Was Sie also gerade gemacht haben: Sie haben meine Kritik der Misrepräsentation des Gedichts als bloßen Vorschlag misrepräsentiert und diesen Pappkameraden dann benutzt, um mich darauf hinzuweisen, dass es Ihnen um etwas anderes ging. Sie haben meine Kritik Ihrer Behauptung zu einer (falschen) Behauptung über Ihre Behauptung gemacht – und dann zum Anlass dafür, diese Behauptung noch einmal zu wiederholen. Formal wäre das nun doch eine Petitio principii – die Annahme der Wahrheit dessen, was kritisiert wurde.

    Ironischerweise haben Sie das in einem Argument vollzogen, das mich mehrfach und insistierend darauf hinweist, dass „eine mögliche (!) Sicht auf den Fall vorstellen, nicht mehr und nicht weniger“, „[d]ass es andere mögliche Sichtweisen gibt“ – und dass ich mich ja hier auf dem Verfassungsblog befinde. Was Ihre Erläuterung dieser Belehrung umso interessanter macht…

    Diese Petitio principii wiederholen Sie dann noch einmal:

    „Das darf man nicht abdrucken, egal wie man es einbettet, was darum herum alles aufgebaut und ob die eigentliche Botschaft vielleicht ganz woanders liegt“

    Hier liegt sie darin, dass Sie operativ in „einbettet“ und „darum herum alles aufgebaut“ präzise den Fall von vornherein ausschließen, dass die „eigentliche Botschaft vielleicht ganz woanders liegt“ – womit „egal, ob…“ leider zirkulär wird.

    „Es enthält für sich die Verletzung des Persönlichkeitsrechts, und deshalb geht es nicht, Punkt.“

    Wissen Sie: Nur weil man „Punkt“ hinter eine Behauptung schreibt, ist sie dadurch nicht begründet. Ebensowenig wie wenn man „Fakt ist…“ oder „Es ist so, dass…“ davorschreibt. – Interessanterweise widerspricht diese Feststellung allerdings gerade dem, was Sie weiter oben als „den Punkt, um den es mir eigentlich ging“ gekennzeichnet haben: „Juristisch ist die Lage ziemlich offen.“ Denn „Es enthält für sich die Verletzung des Persönlichkeitsrechts“ ist ein kategorischer, unbegründeter Satz. Und soweit ich sehen kann, ist er damit gerade das Gegenteil von „juristisch … offen“.

    Natürlich kann ich das auch mit Charity lesen: Dann wäre eben das „Punkt“ nur Anzeige Ihrer persönlichen Überzeugung. Die aber dann immer noch von der (falschen) Prämisse ausgeht, das Gedicht sei der eigentliche Inhalt und der Rest nur kontextuell sekundär zu wertende Einbettung.

    „Nun könnte man sagen, naja, das sei vielleicht bei Bildern so, aber hier gehe es doch um einen Text, vielleicht sogar um Kunst. Macht das aber […] wirklich einen Unterschied?“

    Ich habe für Satire plädiert, nicht für Kunst. Aber selbst wenn: ja, es macht durchaus einen Unterschied, ob ich z. B. in einem Bild von Cézanne behaupte, die Montagne Sainte-Victoire sei der eigentliche Inhalt des Bildes und die Darstellung in seltsamen Farbflecken sei eben ein bloß optischer Kontext der Darstellung – oder ob ich weiß, dass Cézanne explizit, von seinen Stillleben bis zum Spätwerk, durch die angeblichen Inhalte hindurch vor allem das dargestellt hat, wodurch die Bilder eben das wurden, was sie sind.

    „ob es Böhmermann nach der bekannten Vorgeschichte nicht doch auch darauf ankam, Erdogan jetzt mal richtig zu reizen“

    Natürlich kann man das. Man kann immer allerlei beliebige Spekulationen über die Intention eines Verfassers annehmen, auch eine solche, die für denselbigen in irgendeiner Weise ungünstig ausfällt. Ich könnte z. B. über Ihren professoralen Habitus spekulieren, der sich in einer spezifischen Arroganz ausdrückte, die Sie in Sicherheit wiegte, während Sie einen argumentativen Schnitzer nach dem anderen machen. So etwas mache ich aber natürlich nicht – das wäre ja auch eine Argumentation ad hominem.

    „immerhin wusste er ja, dass der seine Texte liest und sie sich eigens übersetzen lässt.“

    Diesen assoziativen Fehlschluss nennt man ‚guilt per association‘ oder ‚anticipated reception fallacy‘. Sie versucht, einem Verfasser die Konsequenzen seiner Rezeption zuzuschreiben. Was deswegen absurd ist, weil niemand alle Kontexte im vorhinein kontrollieren kann. Ich würde behaupten, dass es präzise dieser Umstand ist, der dem von Ihnen angesprochenen „Argumentationstopos“ des BVerfG zugrundeliegt. Hier bewegen wir uns in dem Bereich, in dem juristische Argumentation sophistische Figuren anerkennt, die aus logischer Sicht nicht haltbar sind. Weil wir ja – siehe unten – gemeinsam über die eng gesteckten Grenzen des Juristischen hinausdenken wollen, messe ich Sie also auch an Kriterien des überzeugenden Arguments und nicht nur des juristisch überzeugenden Arguments an.

    „die auch für Juristen interessanten Fragen beginnen doch erst dann, wenn man selber mal auf eine Metaebene steigt […] und nach der gesellschaftlichen Dimension des Falles fragt, der jetzt im Rechtssystem abgearbeitet werden soll.“

    Sicherlich. Deswegen habe ich Ihren Beitrag ja auch zunächst gelobt. Nur: Wenn Sie gerne nach der „gesellschaftlichen Dimension“ des Falles fragen wollen, reicht eben eine durch juristische Hermeneutik informierte Explikation des Sachverhalts nicht hin. Eben darauf wollte ich Sie hinweisen. Wie Sie sich vorstellen können, begrüße ich diesen Anspruch ‚to think outside the bun‘ sehr. Allerdings gelingt das nur dann, wenn man auch die strikte Gegenprobe zur eigenen Überzeugung macht. Und die habe ich Ihnen geliefert.

    „hier ist jetzt so langsam auch wirklich alles gesagt.“

    Ganz im Gegenteil. Wir fangen gerade erst an…

  13. Klaus Nolte Di 26 Apr 2016 at 16:24 - Reply

    „Wieso denken Sie, dass Sie festzulegen haben, was die Hauptrolle ist?“

    1. Haben Sie sich diese Frage auch selbst gestellt und zu welchem Ergebnis sind Sie gelangt?

    2. Weil ich ein Argument habe: Ohne die Herdentiere fände die Diskussion hier nicht statt.

    Wenn der Rest für Sie „Sinn macht“, können wir uns ja gemeinsam freuen. Ich ein wenig mehr, da ich auch die Prämisse für valide halte.

    Auch wenn eine Gesellschaft noch so ausdifferenziert und komplex ist, basiert sie auf einer „conditio humana“, dem Spannungsfeld zwischen Natur- und Kulturwesen Mensch bzw. Gruppenmensch.

    Sonst würde ein Theaterstück, eine Literatur im hohen Alter von fünfhundert oder gar zweitausend Jahren nicht auch noch heute funktionieren.

    Da es bis dato kein widerspruchsfreies Gesellschaftsmodell gibt, kann es keine rationale Gesellschaftsordnung geben.

    Auch hoch entwickelte Gesellschaften oder Organisation sind daher auf durchaus kultische Fundamente, beispielsweise Tabus, notwendigerweise angewiesen.

    Gesellschaftliche Konflikte entzünden sich regelmäßig an Fragen des Kults. Da treffen dann Glaubensbekenntnisse aufeinander und das macht’s schwierig – besonders dann, wenn sich Glaubensgruppen auf „Vernunft“ oder „das Normale“ berufen.

    Das sind Absolutheitsansprüche, die unfairerweise nur _innerhalb_ eines Kults erfüllt werden können …

  14. DPZ Di 26 Apr 2016 at 17:53 - Reply

    @Klaus Nolte:

    „Haben Sie sich diese Frage auch selbst gestellt und zu welchem Ergebnis sind Sie gelangt?“

    Das nennt man einen tu-quoque-Argumentationsfehler: Man versucht das, was der andere einem vorwirft, zugleich und in derselben Hinsicht zu ignorieren und auf ihn anzuwenden. Und: Welchen Grund hätte ich, mir die Frage zustellen, ob ich etwas festzulegen habe? Soweit ich sehen kann, stelle ich Behauptungen auf und begründe sie. Insofern bin ich auch zu keinem „Ergebnis“ gelangt.

    „Weil ich ein Argument habe: Ohne die Herdentiere fände die Diskussion hier nicht statt.“

    Das ist kein Argument, sondern eine unbegründete Behauptung. Ein Argument besteht aus Behauptung und Begründung. Eine unbegründete Behauptung ist eine Meinung, kein Argument. „Herdentie[r]“ ist außerdem eine zumindest unfreundliche Bezeichnung.

    „Wenn der Rest für Sie ‚Sinn‘ macht … da ich auch die Prämisse für valide halte.“

    ‚Sinn machen‘ ist kein Kriterium für Geltung. Auch eine vollkommen unbegründete Verschwörungstheorie kann Sinn machen oder eine psychotische Wahnphantasie. Wie dieser Fehlschluss funktioniert, können Sie hier nachlesen: http://www.hoheluft-magazin.de/2015/12/na-logisch-die-confirmation-bias/

    Sie sehen dann auch, inwiefern das „[F]ür valide“-Halten Ihrer eigenen These für präzise diesen zirkuläre Weise zu schließen verantwortlich ist. Anders gesagt: Ob Sie etwas für „valide“ halten, ist kein Kriterium. Sie können höchstens behaupten, dass Ihre Überzeugung valide ist – müssen dann aber dafür auch Begründungen vorbringen.

    „Auch wenn eine Gesellschaft noch so ausdifferenziert und komplex ist, basiert sie auf einer ‚conditio humana‘, dem Spannungsfeld zwischen Natur- und Kulturwesen Mensch bzw. Gruppenmensch.“

    Sie dozieren schon wieder. Und machen denselben Denkfehler wie oben: Sie legen einfach ex cathedra irgendeine ‚conditio humana‘ fest, aus der Sie sich dann den Rest erschließen. Es ist schön, dass Sie einen Weg gefunden haben, sich die Welt mit anthropologischen Annahmen zu erschließen. Erwarten Sie aber bitte nicht, dass die jeder übernehmen muss, nur weil Sie sie für „valide“ halten.

    „Sonst würde ein Theaterstück, eine Literatur im hohen Alter von fünfhundert oder gar zweitausend Jahren nicht auch noch heute funktionieren.“

    Eine ‚conditio humana‘ wird nicht dadurch belegt, dass ein Theaterstück „auch noch heute funktionier[t]“. Die Tatsache, dass Sie, sagen wir: ein Stück von Sophokles mit Kontexten auslegen können, die Ihnen vertraut sind, bedeutet einfach, dass Sie genau das können. Sie können jedem noch so unverständlichen Text einen bestimmten Sinn geben, ihn beliebig kontextualisieren, ganz unabhängig davon, was er in seinem Originalkontext mal bedeutet haben mag.

    Außer natürlich, Sie meinen mit ‚conditio humana‘ genau das: dass Sie in der Lage sind, gegebene Texte immer wieder neu kontextualisieren zu können. Dann sehe ich aber nicht, wie das Ihren Anspruch rechtfertigen sollte, eine moderne, ausdifferenzierte, komplexe Gesellschaft mit reduktiver Begrifflichkeit beschreiben zu können. Es besagt dann einfach nur: dass Sie in der Lage sind, das zu tun. Ob das gerechtfertigt ist, darüber sagt es leider nichts.

    „Da es bis dato kein widerspruchsfreies Gesellschaftsmodell gibt, kann es keine rationale Gesellschaftsordnung geben.“

    Sie müssen wirklich verstehen, dass die bloße Konstatierung irgendwelcher Überzeugungen kein Argument ist. Ich sehe nicht, wo Sie nachgewiesen hätten, dass es „bis dato kein widerspruchsfreies Gesellschaftsmodell“ gibt. Ansonsten ist der Satz ein induktiver Fehlschluss.

    „Auch hoch entwickelte Gesellschaften oder Organisation sind daher auf durchaus kultische Fundamente, beispielsweise Tabus, notwendigerweise angewiesen.“

    Non sequitur aus falscher (d. h. hier: unbewiesener) Prämisse.

    Sehen Sie, Herr Nolte: Ich verstehe, dass für Sie der ‚Kult‘ und das ‚Tabu‘ etwas an unserer heutigen Gesellschaft zu erklären scheint. Und ich verstehe auch, dass das für Sie alles Sinn macht. Aber leider geben Sie hier keine Gründe an – Sie konstatieren nur Ihre subjektive Sichtweise. Sie diskutieren nicht, sondern Sie wiederholen Ihre Überzeugung. Und das überzeugt mich leider nicht.

  15. Werner Berger Di 26 Apr 2016 at 20:57 - Reply

    Allem Geschwurbel zum Trotz bleibt eine Beleidigung eine Beleidigung, auch wenn sie in einen Kontext verpackt wird, der dem Ganzen einen zusätzlichen (!) Bedeutungsinhalt zu geben vorschützt.

  16. Klaus Nolte Mi 27 Apr 2016 at 07:58 - Reply

    Herr Zorn, ich habe Thesen formuliert, die mir helfen Vorgänge zu erklären.

    Den Einstieg in die Sache Böhmermann gab das Erdogan-Lied von Extra3. Ein sehr gelungene Satiere über Erdogan, die sich klar auf dem Boden unserer Gesetze bewegt.

    Wie hat es Böhmermann nun geschafft, dass keiner mehr über den Extra2 Beitrag mehr spricht und fast alle über Böhmermann’s Gedicht? Kommerziell gesehen ist das ja schlecht für Extra3 und gut für Böhmermann.

    Er ist von einer guten Satire zu einem offenen Tabubruch übergegangen in dem er Erdogan die zweckfremde Nutzung von Herdentieren unterstellte.

    Der Tabubruch wurde hier zur Erzielung von (noch mehr) Aufmerksamkeit genutzt.

    Konsequenterwweise haben einige Leute die berechtigte Frage gestellt, ob man nun jedem alles unterstellen darf, wenn Böhmermann nicht belangt wird.

    Darin sehe ich die (gefährliche) Knappheit an Tabus.

    Die Thesen, die ich genannt habe, kann man gut finden, schlecht finden oder aber ignorieren. Gleiches gilt aber auch für Ihre Thesen. Was sind den beispielsweise „Beweise“ in einer solchen Diskussion wert?
    Wir haben es doch offenbar nicht mit exakter Wissenschaft zu tun?

    „Beweise“ kann man auch wieder gut finden, schlecht finden oder ignorieren.
    Am Ende müssen wir uns mit besserer oder schlechter Plausibilisierung von Thesen zufrieden geben.

    Wenn ich nun Ihren Ansprüchen nicht gerecht werde, dann frage ich micht, warum Sie sich so sehr an mir abarbeiten? Vielleicht weil andere meine Thesen gut finden könnten?