Die Einsamkeit des deutschsprachigen Europarechts
Vor 50 Jahren waren FIDE-Treffen einflussreiche Veranstaltungen. Inhaltliche Diskussionen vor Ort und persönliche Kontakte zwischen den Teilnehmern prägten die Frühphase des EU-Rechts. In einer lesenswerten englischsprachigen Studie zeigte der französische Soziologe Antoine Vauchez, dass das Treffen der Internationalen Vereinigung für Europarecht im Jahr 1963 einen direkten Einfluss auf Inhalt und Deutung der wegweisenden EuGH-Urteile van Gend en Loos sowie Costa/ENEL hatte. Im Vergleich hierzu wird der diesjährige FIDE-Kongress vom 28. bis 31. Mai 2014 in Kopenhagen ein profaner Event sein. Der vormalige Ruhm ist verblichen und die Teilnahmegebühr von mehr als 500 EUR hält viele Wissenschaftler von der Teilnahme ab.
Dieser Beitrag geht auf einen Disput innerhalb des deutschen Teams zurück. Christoph Schönberger hatte mich gefragt, ob ich ihn beim deutschen Landesbericht zur Unionsbürgerschaft unterstützen würde. Ich akzeptierte ohne Zögern, und die Zusammenarbeit verlief unproblematisch. Wir lieferten unseren Bericht gerade noch rechtzeitig und die Generalberichterstatter waren zufrieden (es handelt sich um einen Bericht über innerstaatliche Entwicklungen, nicht um eine wissenschaftliche Bewertung).
Dennoch informierten uns die deutschen FIDE-Verantwortlichen, dass der Bericht nur als informelles Working Paper behandelt werden könne. Ihre Vorbehalte waren sprachpolitischer Natur: Deutsche Landesberichte seien in deutscher Sprache einzureichen. Englischsprachige Texte würden nicht akzeptiert. Da wir von Anfang an eine deutsche Version nachreichen wollten, lieferten wir diese alsbald. Das informelle englische Working Paper findet sich seither auf meiner Homepage.
Mir geht es mit diesem Beitrag nicht darum, die Meinungsverschiedenheit mit den deutschen FIDE-Verantwortlichen öffentlich fortzuführen. Ich schätze sie und achte ihren langjährigen Einsatz für das Europarecht – in Deutschland und international. Ich bin mir auch bewusst, dass die Sprachenfrage für FIDE ein sensibles Thema ist und dass die Befürworter der Mehrsprachigkeit unsere Unterstützung verdienen. Die Episode gibt mir jedoch den Anlass, ganz allgemein über die Sprachenfrage in der Europarechtswissenschaft nachzudenken. Mir wurde während der Auseinandersetzung nämlich bewusst, wie sehr das Thema meine eigene wissenschaftliche Identität prägt. Dieser Beitrag möchte eine öffentliche Debatte zu dieser Frage anstoßen.
Mehrsprachigkeit 1961 und heute
Die Zeiten wandeln sich und mit ihnen der soziale Kontext. Beim ersten FIDE-Kongress im Jahr 1961 war es eine nahe liegende Entscheidung, die Fédération Internationale pour le Droit Européen mit dem französische Akronym FIDE zu versehen. Französisch war die Sprache der Diplomatie und wichtigste Arbeitssprache der jungen EU-Kommission und auch des Gerichtshofs, der seine délibéré bis heute auf Französisch abhält. Unabhängig hiervon war die frühe EWG eine sprachlich vergleichsweise homogene Gemeinschaft mit lediglich vier Amtssprachen (Französisch, Deutsch, Italienisch, Niederländisch). Das Englische folgte 20 Jahre nach dem Schuman-Plan und die Schwelle von zehn Amtssprachen wurde erst im Jahr 1995 überschritten (heute sind es 24).
Man konnte damals von Experten des Gemeinschaftsrechts also durchaus erwarten, dass sie an transnationalen Debatten in den wichtigsten Arbeitssprachen teilnehmen konnten. Ein Beispiel: Pierre Pescatore veröffentlichte regelmäßig auf Französisch, Englisch und Deutsch (vermutlich gibt es auch Texte auf Niederländisch und Italienisch, die ich leider jedoch nicht verstehe). Gewiss spielte das Englische schon damals eine Rolle, und die Kommission unterstützte aktiv die Entstehung der Common Market Law Review lange vor dem britischen Beitritt. Wirklich dominant war jedoch keine Sprache. Ein FIDE-Bericht auf Deutsch konnte vermutlich von den meisten Teilnehmern verstanden werden, auch wenn die jeweiligen nationalen Fachdiskurse nur begrenzt vernetzt waren.
Heute ist die Situation anders. Einzelne Personen werden den Text natürlich lesen können, aber der Schritt hin zum Englischen als Sprache des wissenschaftlichen Austausches über das Europarecht ist wahrscheinlich unaufhaltsam. Wir können maximal einen reflexiven Diskurs in mehreren Sprachen erreichen, wie ihn dieser Blog mit dem offiziellen Ziel einer ‘forcierten Mehrsprachigkeit’ und beachtlichem Erfolg angeht. Dies ändert jedoch nichts daran, dass internationale Debatten heute auf Englisch stattfinden.
Nach meiner Beobachtung stützen zwei strukturelle Gründe diese Entwicklung: Erstens sollten wir die Ignoranz zahlreicher (angelsächsischer) Wissenschaftler beim Namen nennen, die keine Fremdsprachen beherrschen und systematisch nicht-englische Quellen ausblenden. Zweitens bewirkt Europas neue Vielsprachfähigkeit mit inzwischen 24 Amtssprachen schlicht weniger Überschneidungen. Die meisten EU-Experten beherrschen eine oder mehrere Fremdsprachen – allein die Überlappung ist gering. Bei den meisten Veranstaltungen sprechen einige kein Französisch, Deutsch, Spanisch, Polnisch oder Italienisch – während Englisch der gemeinsame Nenner ist. Eben dieser Trend verstärkte sich im Laufe der Jahre, weil viele sich am gemeinsamen Nenner ausrichten. Ebenso wie die historische Lingua Franca erstarkt das Englische aus sehr pragmatischen Gründen zur Sprache des internationalen Gedankenaustauschs.
Der Stellenwert des Europarechts Made in Germany
Koen Lenaerts, der Vize-Präsident des EuGH, mag ein Pierre Pescatore der Gegenwart sein; ein intelligenter und einflussreicher Wissenschaftler und Richter, der regelmäßig in verschiedenen Sprachen schreibt. Er ist einer von ganz wenigen international renommierten Autoren, der in der jüngeren Vergangenheit zur Zeitschrift Europarecht beitrug (zum Anwendungsbereich der Grundrechtecharta). Er bleibt jedoch die Ausnahme. Sehr wenige internationale Wissenschaftler legen Wert darauf, an der deutschsprachigen Debatte teilzuhaben – und auch umgekehrt wird diese nicht rezipiert. Wenn man die einflussreichen internationalen Zeitschriften zum Europarecht studiert, findet man beinahe nie einen Verweis auf Europarecht, Juristenzeitung, Der Staat, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht oder gar Die Öffentliche Verwaltung.
Dies bedeutet keineswegs, dass kein Interesse an der deutschen Perspektive bestünde. Im Gegenteil: Nach meiner Erfahrung drängen viele Teilnehmer nach mehr Informationen aus Mitteleuropa (man denke nur an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und den Erfolg des Verfassungsblogs und des German Law Journal). Bei der Rezeption der deutschen Sichtweise scheint die Sprache jedoch eine unüberwindbare Hürde zu sein. Dies wiederum ist kein deutsches Spezifikum. Veröffentlichungen auf Italienisch, Niederländisch und Spanisch erleiden dasselbe Schicksal, während kleinere Rechtskulturen teils schlicht nicht die Humanressourcen besitzen, um Spezialdiskurse zum Europarecht zu führen. Sogar das einst einflussreiche Französisch verlor seinen vormaligen Glanz. Europa mag eine Kommissarin für Mehrsprachigkeit besitzen (Androulla Vassiliou, ohne dass man von ihr viel gehört hätte), aber die transnationale Debatte ist monolingual.
Ich bin mir bewusst, dass die EU-Organe, insbesondere Kommission und EuGH, einen weitaus vielfältigeren Blickwinkel einnehmen und mehr Quellen konsultieren als die Fußnoten englischsprachiger Zeitschriften (tatsächlich dürften einige britische Kollegen unterschätzen, dass sie durch Ausblendung anderer Sprachen ein unvollständiges Bild von der supranationalen Wirklichkeit erhalten). Auch hat der Rückgang an Mehrsprachigkeit kulturelle Kosten und unterstützt die Dominanz angelsächsischer Methodik. Aus diesen Gründen sollten wir keineswegs nur auf das Englische setzen, sondern Mehrsprachigkeit am Leben halten und die Debatten aktiv verschränken.
Tatsächlich ist das Gesamtbild gar nicht so schlecht. Mein Lehrstuhl hat ein Ranking der Herkunftsländer (nach der institutionellen Anbindung, nicht der Staatsangehörigkeit) aller Autoren für vier prominente Europarechtszeitschriften im Jahr 2013 erstellt: Common Market Law Review, European Law Journal und European Constitutional Law Review und European Law Review. Diese rudimentäre empirische Auswertung zeigt, dass der Diskurs in diesen Zeitschriften keineswegs ein Gespräch unter Briten ist (einmal ganz abgesehen davon, dass die personale Zusammensetzung der britischen Europarechtswissenschaft ein europäischer Mikrokosmos ist). Auch wenn Briten mit Abstand die größte Autorengruppe bilden, so werden doch – mit Ausnahme der britischen European Law Review – rund 70 % aller Aufsätze in anderen Mitgliedstaaten geschrieben. Die Zeitschriften mögen einsprachig sein, aber ihr wissenschaftlicher Ausblick ist transnational und, in rechtlicher Hinsicht, multikulturell. Eben diese Debatte sollten deutsche Wissenschaftler durch noch mehr Beiträge aus Mitteleuropa bereichern.
Der umgekehrte Blickwinkel: dIe Irrelevanz internationaler Debatten
Meine bisherigen Überlegungen waren bewusst einseitig, weil sie sich auf den Einfluss deutschsprachiger Beiträge auf die transnationale Debatte konzentrierten. Daneben gibt es freilich den entgegengesetzten Blickwinkel, der ein anderes Fazit stützt. Wenn man deutschsprachige Veröffentlichungen zum Europarecht liest, findet man eine halbautonome Diskussion (dasselbe dürfte für Frankreich, Italien und Spanien gelten). Zahlreiche Autoren konsultieren einzig (oder überwiegend) deutschsprachige Quellen. Wir leben in einer Welt konzentrischer Kreise, und die Überschneidung zwischen nationaler und transnationaler Debatte ist geringer als wir denken. Dies sollten alle Akteure zum Anlass nehmen, um eine größere Begegnung der Teildiskurse zu erreichen.
Jenseits der Wissenschaft ist dieses Phänomen besonders ausgeprägt. Bei Praktikern unter Einschluss von Richtern ist die Bereitschaft zur Lektüre nicht-deutscher Texte gering. Unter Praktikern in Brüssel und Straßburg ist die Common Market Law Review die einflussreichste Zeitschrift, und dennoch findet man nahezu keine Verweise auf sie in deutschen Urteilen, obwohl diese prinzipiell sehr gerne Literaturquellen zitieren. Jeder, der einen Aufsatz auf Englisch publiziert, lernt, dass selbst viele deutsche Kollegen diesen nicht wahrnehmen. Es gibt zahlreiche Beiträge, die sich mit dem Europarecht befassen, und hierbei wenige oder überhaupt keine internationale Quellen zitieren.
Strukturell behindert diese Entkoppelung die Wirksamkeit sowohl der nationalen als auch der transnationalen Debatte. Ein EuGH-Urteil ist für sich genommen keine Garantie, dass das Europarecht tatsächlich angewandt wird; die europäische Perspektive muss in den nationalen Diskurs durchsickern. Umgekehrt besitzen nationale Diskussionen wenig Einfluss, wenn diese die Augen und Gedanken von Entscheidungsträgern und Wissenschaftlern nicht erreichen, die kein Deutsch sprechen. Auch aus diesem Grund ist die Vorlage des BVerfG an den EuGH in Sachen EZB-Anleihekäufe meines Erachtens ein so wichtiges Symbol. Sie signalisiert jedem Studenten, Wissenschaftler und Bürger, dass die deutsche Rechtsordnung nicht auf jede Frage eine Antwort hat.
Wie können wir die Situation verbessern? Erstens sollte die deutsche Rechtswissenschaft eine aktive Einbindung mit der internationalen Debatte anstreben. Diese Aufgabe ist im Bereich des Europa- und Völkerrechts besonders drängend, gilt in modifizierter Form aber ebenso für das nationale Recht. Die deutsche Kommentarliteratur ist ein großer Gewinn, der auch in Brüssel geschätzt wird. Sechs deutschsprachige Kommentare zum EU-Primärrecht, die vorwiegend von Wissenschaftlern geschrieben werden, sind jedoch (mehr als) genug. Insbesondere spezialisierte Europarechtler sollten diese Ressourcen besser für die aktive Teilnahme am transnationalen Diskurs nutzen – und dies durchaus aus langfristigem Eigeninteresse. Jeder Kollege im Öffentlichen Recht kann die Pflichtvorlesung zum Europarecht halten; es erfordert jedoch eine Spezialisierung, wenn man sich mit Gewicht in transnationale Dialoge einbringen will.
Zweitens müssen wir die nationalen und die europäischen Teil-Debatten verknüpfen. Mehrsprachige Publikationen mögen einen Mehraufwand bedeuten, aber sie sind ein Instrument, um die aktuelle Entkoppelung zu überwinden. Ich bin davon überzeugt, dass die deutsche Europarechtswissenschaft hierbei viel Gewichtiges beizutragen hat, zumal die internationale Diskussion vielfach hyper-spezialisiert ist und insofern vom breiteren Zugriff des deutschen Öffentlichen Rechts profitierte. Diesen Schritt sollten wir auch dann wagen, wenn zweisprachige Publikationen sehr viel mehr sind als ein Akt der Übersetzung. Sie setzen voraus, dass wir uns auf andere Rechtstraditionen und methodische Zugriffe einlassen und unsere Argumentation anpassen. Dies gilt auch für nichtdeutsche Europarechtler, die durch unsere Beiträge gezwungen werden, sich mit deutschen Traditionen und Sichtweisen auseinanderzusetzen. Aus diesem Grund sind Europäisierung und Internationalisierung sehr viel mehr als nur eine Sprachenfrage. Sie werden die nationalen Rechtskulturen in Europa schrittweise verbinden.
Endlich wird dieses Problem einmal auf den Punkt gebracht. Es ist, ob man es nun will