Die Frankfurter Zähmung
Ansätze einer Handlungsbegrenzungslehre für die Europäische Zentralbank
A. Das Handeln von Zentralbanken1)
Ende Juli hat sich das Bundesverfassungsgericht erneut mit der Zulässigkeit der Anleiheankaufprogramme der EZB auseinandergesetzt. Dabei offenbart sich vor allem eines: Die Rechtswissenschaft und auch die Rechtspraxis tun sich mit der Bewertung und Kontrolle von Zentralbankhandeln außerordentlich schwer – das hat auch der Bericht von Corinna Dornacher noch einmal gezeigt. Das zentrale Problem besteht dabei vor allem in der Funktionsweise von Zentralbanken.
Sie sind zwar Teil der Exekutive, treten den Marktteilnehmern aber nicht im Subordinations-, sondern im Gleichordnungsverhältnis gegenüber. Auch die EZB tritt zur Durchführung ihrer Geldpolitik in geschäftliche Beziehungen zu den Geschäftsbanken und sonstigen Marktteilnehmern und legt insbesondere die relevanten Geldmarktzinsen nicht durch einseitigen Hoheitsakt fest. Auch die weiteren Offenmarkt- und Kreditgeschäfte sind (ebenso wie die Anleiheankäufe) „Geschäfte“ im wahrsten Sinne des Wortes. Lediglich die Mindestreserve stellt sich als gewöhnlicher Hoheitsakt dar, spielt allerdings als geldpolitisches Instrument praktisch keine Rolle.
Neben diese geschäftlichen Beziehungen treten seit der Finanz- und Eurokrise in stärkerem Maße auch gänzlich informelle Maßnahmen, die aber einen erheblichen Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung haben können. Dazu gehören nicht zuletzt die aufmerksam verfolgten Aussagen, die die Präsidenten der jeweiligen Zentralbanken auf Tagungen oder Pressekonferenzen abgeben und bei denen eine ganze Armada von Analysten jedes Wort auf seinen möglichen Aussagegehalt analysiert. Im Kern bestand auch das OMT-Programm der EZB – der Gegenstand der ersten Vorlage – aus nicht viel mehr als einer Pressemitteilung. Die Beruhigung der Märkte führten letztlich gar drei schlichte Worte herbei: „whatever it takes“.
Hinzu kommt noch, dass diese Handlungen einer Zentralbank sich auch in ihrer Zielsetzung deutlich unterscheiden können, was in den beiden Vorlagen des Bundesverfassungsgerichts deutlich wurde. So diente das OMT-Programm keineswegs einer klassischen geldpolitischen Zielsetzung. Es sollte vielmehr den für die Wahrnehmung der Aufgaben der EZB erforderlichen geldpolitischen Transmissionsprozess sicherstellen. Es handelte sich damit zwar richtigerweise noch um Geldpolitik, betroffen war aber gewiss nur dessen Randbereich.
Demgegenüber verfolgte das Quantitative Easing-Program als Gegenstand der zweiten Vorlage mit der gewollten Anhebung der Inflationsrate das wohl klassischste geldpolitische Ziel überhaupt. Schließlich ist es – jedenfalls für die EZB – auch denkbar, dass sie Maßnahmen ergreift, die überhaupt nicht der Geldpolitik zugeordnet werden können. Nach Art. 127 AEUV gehört es zu ihren ausdrücklichen, wenngleich subsidiären Aufgaben, die Wirtschaftspolitik in den Mitgliedstaaten zu unterstützen.
Schon dieser Überblick zeigt, dass bei der Übernahme klassischer Handlungsbegrenzungslehren jedenfalls Vorsicht geboten ist. Das gilt erst recht, wenn man sich klar macht, dass Zentralbankhandeln letztlich aus den beiden Elementen besteht, mit denen sich das gesamte öffentliche Recht schon seit Otto Mayer immer wieder schwer tut: marktwirtschaftliches und informelles hoheitliches Handeln.
B. Verhältnismäßigkeit als Maßstab?
Dennoch scheinen sowohl der EuGH als auch das Bundesverfassungsgericht für die Kontrolle des Zentralbankhandels maßgeblich auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zurückgreifen zu wollen. Erste Zweifel kommen an dieser Vorgehensweise schon auf, wenn man sich vergegenwärtigt, dass das Prinzip der Verhältnismäßigkeit für den Bereich des Eingriffsrechts entwickelt wurde, es hier aber beinahe ausschließlich um vertragliches Handeln geht. Es fehlt damit schon an einem subjektiven Recht, in welches durch die Ankäufe eingegriffen wird.
Ein solches versucht denn auch das Bundesverfassungsgericht nicht zu konstruieren. Stattdessen zieht es die mitgliedstaatliche Kompetenz für den Bereich der Wirtschaftspolitik heran. Das Programm könne sich, so das Bundesverfassungsgericht, als unverhältnismäßig in Bezug auf seine wirtschaftspolitischen Auswirkungen darstellen und sei aus diesem Grund nicht als währungspolitisch, sondern als überwiegend wirtschaftspolitisch anzusehen.
Es nutzt damit das Verhältnismäßigkeitsprinzip zur Abgrenzung von Kompetenzbereichen, was zweifellos ein neues Konzept darstellt. Abhängig vom Umfang des Ankaufprogramms wäre dieses dann zunächst als währungspolitisch anzusehen, würde dann jedoch – im Laufe der Zeit – in eine wirtschaftspolitische Maßnahme umschlagen und wäre ab diesem Zeitpunkt unzulässig.
Wann dieser Zeitpunkt gekommen ist, lässt sich allerdings praktisch nicht erkennen und hängt von vielfältigen Wertungen ab, was Rechtsunsicherheiten hervorruft und zu Spekulationen anregt. Das liegt auch daran, dass sich Währungspolitik und Wirtschaftspolitik generell in vielfältiger Weise überschneiden und beeinflussen. Dadurch lässt sich weder halbwegs sicher bestimmen, wann der Umfang der Ankäufe der EZB ein kritisches Ausmaß erreicht, noch wann die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten so stark beeinflusst wird, dass diese nicht mehr angemessen erscheinen.
Beides wäre aber für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit notwendig. Und die Einwirkungen der Geldpolitik auf die Wirtschaftspolitik können im Einzelfall noch sehr viel gravierender ausfallen, als das beim Anleiheankauf bisher der Fall war – man denke etwa an die hoch umstrittenen Maßnahmen der Fed in den achtziger Jahren, mit denen diese die damals allzu hohe Inflationsrate einfing.
Zwar ging es hier nicht um Anleiheankäufe, sondern um Erhöhungen der Leitzinsen, auf die das Bundesverfassungsgericht und auch andere Gerichte das Prinzip der Verhältnismäßigkeit nicht angewandt haben (und vermutlich auch nicht anwenden würden). Das zeigt aber zugleich, dass dieses Prinzip für eine allgemeine Handlungsbegrenzungslehre für sämtliches Zentralbankhandeln ungeeignet erscheint – zumal man sich immer im Klaren sein muss, dass stets auch die „was wäre wenn“ Frage gestellt werden muss.
Wie also hätte sich das ökonomische Umfeld ohne die Intervention der Zentralbank dargestellt? Unter Umständen wäre die Wirtschaftspolitik dann noch sehr viel stärker betroffen gewesen. Auch das Bundesverfassungsgericht selbst scheint denn von der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips nicht gänzlich überzeugt. So führt es in der zweiten Vorlageentscheidung aus, dass die Maßnahmen wohl verhältnismäßig wären, wenn die EZB sie erkennbar mit den wirtschaftspolitischen Auswirkungen abgewogen hätte. Eine erkennbare Abwägung hätte mithin trotz der erheblichen Auswirkungen die Verhältnismäßigkeit der Ankäufe zur Folge.
Der Sache nach statuiert das Bundesverfassungsgericht hier also – ähnlich wie im Baurecht im Rahmen des Abwägungsermessens – spezifische formale Abwägungserfordernisse der EZB, löst sich der Sache nach damit aber zugleich vom dem in seinem Kern materiellen Verhältnismäßigkeitsprinzip.
C. Neuer Kontrollansatz
Anstatt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit in das Zentrum zu stellen, sollte ein neuer Kontrollansatz die genannten Besonderheiten aufnehmen und in seiner Ausgestaltung daher sowohl für die Zentralbank selbst als auch für die Marktteilnehmer die größtmögliche Rechtssicherheit bieten. Möglich wird das letztlich allein durch ein Kontrollraster, welches vor allem auf formalen Verfahrens- und Begründunganforderungen fußt, wie sie das Bundesverfassungsgericht in seiner Vorlage auch bereits andeutet.
Die Maßnahme der Zentralbank muss daher vor allem in sehr viel stärkerem Maße begründet werden, als das bisher der Fall ist. Entscheidend ist dann, ob sich das Handeln der Zentralbank vor dem Hintergrund der angebotenen Begründung als vertretbar erweist.
Dabei kann dieser Vertretbarkeitsmaßstab noch einmal in Abhängigkeit von der Art und der Gestaltung der Zentralbankmaßnahme variiert werden. Der geforderte Begründungsaufwand steigt also mit der Unkonventionalität der Maßnahme an.
Die geringsten Anforderungen sind folglich an geldpolitische Maßnahmen im engeren Sinne zu stellen, wobei hier ggf. noch einmal zwischen klassischen Maßnahmen (Veränderungen der Leitzinsen) und nicht ganz so klassischen Maßnahmen (Anleiheankäufe) sowie informellen Maßnahmen unterschieden werden sollte. Hier genügt dann bereits eine aus der Begründung folgende allgemeine Vertretbarkeit.
Es folgen die geldpolitischen Maßnahmen im weiteren Sinne (OMT-Program), wo eine etwas schärfere Kontrolle erfolgt (gut vertretbar), gefolgt von wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die der strengsten Begründungkontrolle unterliegen (sehr gut vertretbar), jeweils mit Abstufungen.
Die Gerichte könnten über ein solches System der Darlegungs- und Beweislast ein funktional passendes und rationales Kontrollraster entwickeln, mit dem die richtige Balance zwischen Autonomie und Kontrolle hergestellt werden könnte. Das könnte dann etwa so aussehen:
| Geldpolitik | Wirtschaftspolitik | |
im engeren Sinne | im weiteren Sinne | ||
konventionell | 1 | 3 | 5 |
unkonventionell | 2 | 4 | 6 |
informell | 1 | 3 | 3 |
Die hier vorgeschlagenen Maßstäbe bleiben zugegebenermaßen noch vage – vertretbar, gut vertretbar, sehr gut vertretbar – und bedürfen der weiteren Ausfüllung, wenn sie die gewünschte Wirkung entfalten und damit zur Legitimität der EZB insgesamt beitragen sollen. Hier bleibt insofern zweifellos viel zu tun auf dem Weg zu einer umfassenden Handlungsformen- und -begrenzungslehre für Zentralbanken.
References
↑1 | In Kürze erscheint vom Autor eine kleine Einführung in die Organisation, Funktionsweise und rechtliche Grenzen der Europäischen Zentralbank bei Mohr Siebeck. Teile des folgenden Textes sind dieser Einführung entnommen. |
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