Die Idee der Staatsräson im neuesten deutschen Recht
Ein Fehlurteil des Verwaltungsgerichts Regensburg zu den Bekenntnisklauseln im reformierten Staatsangehörigkeitsrecht
Ein früher Text des späteren Bundesverfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenfördes beschäftigt sich mit den Folgen der Hallstein-Doktrin für das Staatsangehörigkeitsrecht im geteilten Deutschland. Das Problem bestand darin, dass der westdeutsche Staat die DDR und ihre Staatsangehörigkeit nicht anerkannte, obwohl ihre Bürger im Westen natürlich weder an Wahlen teilnahmen noch dem Schutz der Institutionen der Bundesrepublik unterstanden oder Leistungen erhielten. Aus Gründen der Staatsräson, so Böckenförde damals, schreibe die Bundesrepublik auf diese Weise eine politische Lebenslüge namens Alleinvertretungsanspruch in geltendes Recht um. Die Politik der Nichtanerkennung münde in einer „rechtszerstörenden Fiktion“ der ungeteilten, aber faktisch nur westdeutschen Staatsangehörigkeit. Sei nicht vielmehr die Anerkennung einer neuen politischen Wirklichkeit Bedingung für ein Recht der Bürgerschaft, das dem inneren und äußeren Frieden dient? „Identitätsansprüche auf der einen“, so endet jener Text, „rufen notwendig die Sezession auf der anderen Seite hervor, weil dann die Sezession Bedingung der Selbstbehauptung wird.“1)
Die Hallstein-Doktrin war wenig später tot, und seit dem Ende der Teilung ist das Staatsangehörigkeitsrecht mehrfach reformiert worden, am grundlegendsten mit der Anerkennung der Einwanderung als Tatsache im Jahr 2000. Die Politik der Zugehörigkeit ist seither Migrationspolitik, das Staatsangehörigkeitsrecht Integrationsrecht der postmigrantischen Gesellschaft. Die Frage der Staatsräson wird es aber nicht los. Wer sich von seinen rechtszerstörenden Fiktionen heute ein Bild machen will, lese das kürzlich veröffentlichte und inzwischen rechtskräftige Urteil der 9. Kammer des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 7. Oktober 2024.2) Es ist eine der ersten bekannt gewordenen gerichtlichen Entscheidungen, die zu der im Juni 2024 in Kraft getretenen Reform des Staatsangehörigkeitsrechts ergangen sind.
In die parlamentarische Beratung dieser Reform war der mörderische Überfall der Hamas auf Israel und der Beginn von Israels Krieg in Gaza gefallen. Als eine Art Übersprungshandlung der ansonsten weitgehend gelähmten deutschen Nahostpolitik sollte im Einbürgerungsrecht die Merkel-Scholz-Doktrin von Existenz und Sicherheit Israels als Teil deutscher Staatsräson festgeschrieben werden. § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1a StAG regelt seither, dass nur Deutscher werden kann, wer „sich zur besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die nationalsozialistische Unrechtsherrschaft und ihre Folgen, insbesondere für den Schutz jüdischen Lebens, sowie zum friedlichen Zusammenleben der Völker und dem Verbot der Führung eines Angriffskrieges bekennt“. Ergänzt wurde die Regelung durch eine Verdachtsklausel, wonach die Einbürgerung ausgeschlossen ist, wenn „tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass das Bekenntnis, das der Ausländer […] abgegeben hat, inhaltlich unrichtig ist“ (§ 11 Nr. 1a StAG). Hinter jeder confessio muss seither von Rechts wegen eine untadelige fides stehen. Die Union hatte vergeblich versucht, diesen Bekenntniszwang noch zu verschärfen durch ein ausdrückliches „Bekenntnis zum Existenzrecht Israels“ und die Möglichkeit der Wiederausbürgerung von Deutschen, „die das Existenzrecht des Staates Israel leugnen“.
Ein exemplarischer Sachverhalt
Der Regensburger Fall betraf einen in Syrien geborenen staatenlosen Palästinenser sunnitischen Bekenntnisses, der 2015 vor dem Bürgerkrieg nach Deutschland geflohen war. Die gesetzlichen Voraussetzungen der Einbürgerung erfüllte er: Er war nicht straffällig geworden, konnte seinen Unterhalt bestreiten und die erforderlichen Sprachkenntnisse nachweisen. Er hatte den Einbürgerungstest bestanden, wenn auch mit ausreichend, die erforderliche Loyalitätserklärung abgegeben, und den Bekenntnisfragebogen zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung ausgefüllt und unterschrieben. Die gesetzliche vorgeschriebene Anfrage beim Verfassungsschutz (§ 37 StAG) ergab aber, dass dort wegen einer lokalen salafistischen Gruppe eine Akte geführt wurde über eine Moschee, die der Antragsteller besuchte. Noch nicht einmal der Geheimdienst behauptete allerdings irgendeinen konkreten Zusammenhang mit dem Antragsteller. Als die Moschee 2013 zuletzt im bayerischen Verfassungsschutzbericht stand, lebte jener noch in Syrien. Gleichwohl Anlass genug für ein wahres Verhör vor der Einbürgerungsbehörde.
Dessen Niederschrift, die das Urteil in vollem Umfang dokumentiert, ist das Protokoll einer von der Justiz anstandslos gebilligten, streckenweise skandalösen Grenzüberschreitung. „Trinken Sie Alkohol oder essen Schweinefleisch?“ ist noch eine der harmloseren Fragen; offenbar eine kleine Erinnerung an Bier und Bratwurst als erste Bürgerpflichten. Ob er Kontakt zu Christen, Juden oder Hindus habe? Wie er beim Spazierengehen auf anzüglich gekleidete Frauen reagiere? Ob er seine Gebete nachhole, wenn er sie nicht zu den Zeiten schaffe? Ob er die Mehrehe über das deutsche Familienrecht stelle? Ob er „die (sic!) wörtliche Auslegung des Korans und der Sunna für richtig“ halte? – Das Protokoll dokumentiert hier die einzig richtige Antwort: „Warum werden mir diese Fragen gestellt? Das hat doch nichts mit der Einbürgerung zu tun, sondern mit Politik und Religion.“ Man müsste das Tonband des Gesprächs kennen, das dem VG vorgelegen hat. Es würde verraten, ob der maliziöse Zynismus der Anschlussfrage offen oder unwillkürlich ist: „Finden Sie Religionsfreiheit gut und richtig?“ Antwort laut Niederschrift: „Alle Religionen sind gleich.“ Vorhalt des Sachbearbeiters: „Die Menschen sind gleich, die Religionen nicht. Da gibt es schon Unterschiede.“ Das muss man also wissen, wenn man Deutscher werden will.
Die Einbürgerung scheiterte letztlich an zwei anderen Antworten auf zwei andere Fragen. Aus ihnen schlossen Behörde und Gericht, der Antragsteller vertrete eine „Variante des antizionistischen Antisemitismus“, die dem Existenzrecht des israelischen Staates als deutscher Staatsräson widerspricht. Sie lauteten:
Frage: „Erkennen Sie Israel als eigenständigen Staat an?“
Antwort: „Es gibt kein Israel. Es gibt Juden, aber Israel nicht als Land.“
Frage: „Die völkerrechtliche Vereinbarung zur Schaffung des Staates Israel erkennen Sie nicht an?”
Antwort: “Nein.”
Alles an diesem offenbar ohne Anleitung und Vorbereitung geführten Wortwechsel und seiner gerichtlichen Aufarbeitung ist schräg, ja absurd. So kennt das Völkerrecht zwar die Anerkennung von Staaten durch andere Staaten, aber keine Anerkennung durch Individuen. Die Mühe, nach der offenbar gemeinten moralischen Anerkennung des Existenzrechts (gemeint in der Regel: Legitimität) zu fragen, hätte man sich schon geben können. Ebenso blieb die begriffliche Differenz von Staat und Land unaufgelöst, die ja gerade in diesem Fall besonders stark ist. Und schließlich gibt es auch überhaupt keine völkerrechtliche Vereinbarung dieses Inhalts, sondern eine Resolution der UN-Generalversammlung.
Um derlei Peinlichkeiten zu vermeiden, gibt es Lösungen. Die Bundesregierung könnte beispielsweise etwa durch eine Allgemeine Verwaltungsvorschrift (Art. 84 Abs. 2 GG) Kriterien und Gesprächsleitfäden entwickeln und dadurch zugleich die politische Verantwortung für den Vollzug ihrer Politik der Staatsräson übernehmen. Die entsprechende Richtlinie stammt aber unverändert aus dem Jahr 2000. Zumindest eine Novelle der vorläufigen Anwendungshinweise war, hört man, in Arbeit. Ob nach dem Regierungswechsel noch etwas daraus wird? Bis auf weiteres lauten die maßgeblichen Regeln für Sachbearbeiter daher: 1. Wer die Staatsräson auf seiner Seite hat, muss sich nicht informieren. 2. Wer Antisemit ist, entscheiden wir.
Der falsche Begriff der Staatsräson
Nun ist die Staatsräson seit Machiavelli und Botero bekanntlich ein Topos, der aus Gründen der Selbsterhaltung des Staates den Bruch des Rechts und die Verletzung der Allgemeinmoral legitimiert. Die Hallstein-Doktrin hatte starke Elemente von Staatsräson. Durch Westbindung, israelische Staatsgründung und Wiedergutmachungsfrage waren die bundesrepublikanische und die israelische Staatsräson sogar eng miteinander verwoben.3) Aber die Merkel’sche Rhetorik? Sie benutzt „Staatsräson“ mehr oder weniger als Synonym für das, was auf anderen Politikfeldern „Alternativlosigkeit“ heißt: die möglichst wenig in Frage zu stellende politisch-militärische Unterstützung Israels. Nicht eine genuin politische Entscheidung meint diese Staatsräson, sondern gerade den moralisch motivierten Verzicht auf sie. Das zeigt sich schon an den Formen, auf die sie neben den fortgesetzten Waffenlieferungen angewiesen ist, namentlich an der anderenfalls schlicht paradoxen Verrechtlichung der Rhetorik der Staatsräson durch Gesetzgebung, Resolutionen, Förderpolitiken, Behörden und Rechtsprechung.4) Welche Folgen die Verrechtlichung dieser Rhetorik hat, zeigen die Entscheidungsgründe.
Der erste Begründungsschritt ist der offene Bruch mit der Legalität. Es gehe bei der Einbürgerung, so das Gericht, nicht nur um die Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen, sondern „auch um die Akzeptanz zentraler historisch gewachsener Werte und moralischer Verpflichtungen der Deutschen“. Das ist um so bemerkenswerter, als die Akzeptanz ja gerade durch den novellierten § 10 StAG eine gesetzliche Voraussetzung geworden ist. Auch die naheliegende Frage, wie von der Akzeptanz auf die Pflicht zum eigenen Bekenntnis geschlossen werden kann, wird nicht behandelt, im Gegenteil: Zu den Werten und Verpflichtungen gehört nach dieser Rechtsprechung seit dem 7. Oktober ausdrücklich auch die Parteinahme für Israel als Konsequenz aus der Shoa. Trotz der Ablehnung des Änderungsantrags der Union sei dessen Zielsetzung (!) „bereits vom geltenden Recht abgedeckt“. Begründung: Eine nicht bindende Bundesratsresolution (Drucksache 647/23), die ebenso wie die zum Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht beschlossene, ebenso wenig gesetzeskräftige Bundestagsresolution zum Schutz jüdischen Lebens (Drucksache 20/13627) die direkte Verknüpfung von Staatsräson und Staatsangehörigkeit vollzieht. Die Umgehung der Gesetzesform hat die intendierten Wirkungen. Auf dieser Linie liegt auch ein Erlass des Innenministeriums Sachsen-Anhalt, der – angesichts der Genese von § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1a StAG jedenfalls für Anspruchseinbürgerungen jetzt evident rechtswidrig – für alle Einbürgerungen ab sofort ein Bekenntnis zum Existenzrecht Israels verlangt.
Der zweite Begründungsschritt ist die Eliminierung der Differenz zwischen dem, was der Gesetzgeber geregelt hat (Bekenntnis zum Schutz jüdischen Lebens) und dem, was er aus guten Gründen abgelehnt hat zu regeln (ausdrückliches Bekenntnis zum Staat Israel). Diese Differenz ist nach Auffassung des Gerichts per se antisemitisch, weil sie die Legitimation des Staates Israel als „Heimstatt für alle Menschen jüdischen Glaubens“ in Frage stelle. Selbst die nachgeschobene Erklärung des Antragstellers, den Staat Israel „nach Oslo-Friedensprozess“ anzuerkennen, ändere daran nichts, weil „angesichts der aktuellen Lage im Nahen Osten kaum zu erwarten“ sei, dass auf dieser Basis eine „Übereinkunft über einen permanenten Status zwischen Israel und Palästina“ gefunden werden könne. Denn diese Aussage lasse offen, „wo er [der Antragsteller] den Schuldigen [!] an den aktuellen Auseinandersetzungen im Nahen Osten sehe“. Aus der Verpflichtung auf den Schutz jüdischen Lebens wird so die Pflicht zur politischen Positionierung in einem als Kampf der Zugehörigkeitskulturen inszenierten Konflikt. Wohlgemerkt: in einem Konflikt, zu dessen tragischer Dialektik es gehört, dass beide Seiten gerade infolge der kolonialen Durchdringung ihres politischen Raumes auf die Universalisierung ihrer Position angewiesen sind. Nur: Warum soll man sich als Bewerber um die deutsche Staatsbürgerschaft überhaupt zu Kriegsschuldfragen verhalten müssen? Dass gerade das liberal-konservative Spektrum mit pseudo-etatistischen Argumenten auf eine solche Position dringt, sagt eigentlich alles: Zu den besten Argumenten für den Etatismus gehörte schließlich seit je her, dass man sich als Bürger auf seine privaten Animositäten konzentrieren darf. Für Feinde und Kriege hat man schließlich eine Regierung.
Der dritte Begründungsschritt ist die Scharfstellung eines gruppenbezogenen Generalverdachts. Vielleicht, so spekuliert das Gericht, gebe es auch einen „nicht antisemitisch konnotierten Antizionismus“, aber allenfalls als „Ausnahme“. Deswegen sei der Antragsteller für den fehlenden Antisemitismus beweispflichtig. Wie beweist man, dass man kein Antisemit ist, wenn das Fehlen antisemitischer Taten nicht als Beweis genügt? Das Gericht ist sich nicht zu schade, aus einzelnen falschen Antworten des insgesamt bestandenen (!) Einbürgerungstests zu schließen, dass sein Loyalitätsbekenntnis nicht von einer „tatsächlichen inneren Überzeugung“ getragen gewesen sei. Nach Auskunft des VG Regensburg war der Kläger nicht anwaltlich vertreten und hat auch keinen Antrag auf Zulassung der Berufung nach § 124a Abs. 4 VwGO gestellt. Die Kammer hat § 124 Abs. 2 Nr. 2 und 3 VwGO aus nicht ersichtlichen Gründen verneint.
Moralischer Triumphalismus
Die Entscheidung ist auch ansonsten sehr aufschlussreich. Man erfährt nicht nur, welchen Begriff sich die untere Funktionärsliga der Republik von ihrer politischen Freiheit und von sozialer Homogenität macht. Man lernt auch, dass sich die bayerische Verwaltungsgerichtsbarkeit über Gut und Böse im Nahostkonflikt aus Broschüren der baden-württembergischen Landeszentrale für politische Bildung und über die Homepage der israelischen Botschaft in Berlin unterrichtet.
Vor allem aber: Das VG Regensburg hat die Entscheidung kaum zufällig am 7. Oktober verkündet, auf den Tag genau ein Jahr nach dem Beginn von Israels Krieg im Gazastreifen, der inzwischen vom Internationalen Gerichtshof zumindest in die unmittelbare Nähe des Völkermordtatbestandes gerückt wurde, von amnesty international und anderen rundheraus als Völkermord eingestuft und der geführt wird unter leiser Komplizenschaft und immer lauter werdendem Schweigen der deutschen Politik, die sich unterdessen vor dem IGH gegen den Vorwurf der Beihilfe unter der Völkermord-Konvention verteidigt. Gegen die führenden israelischen Politiker lagen schon zum Zeitpunkt des gerichtlichen Verfahrens Anträge auf Haftbefehle wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor, die später auch ergingen. Nicht nur gegenüber dem Kläger muss man deswegen das Ensemble aus der Art der Begründung und dem Tag der Verkündung als eine abstoßende Geste des moralischen Triumphalismus lesen. Sie inszeniert symbolisch die ausjudizierte Verpflichtung auf eine obligatio impossibilis zur Integration nicht in einen Staat, sondern in eine moralisch aufgeladene Politisierung von Erinnerung (nochmals: § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1a StAngG). Und das bedeutet auch: zur Verstrickung in ein Gewaltgeschehen, vor dessen Geschichte der deutsche Staat die Augen verschließt, während viele Immigrant:innen sie überdeutlich sehen.
So vernünftig, so rechtsstaatlich sieht sie also aus, die von Landratsämtern und erstinstanzlichen Richtern praktizierte Staatsräson, die vor allem eine Erzählung der Bundesrepublik von sich selbst verteidigt. Wäre aber nicht dieses Jahr des Krieges Gelegenheit gewesen, auch einmal den zumal migrantischen Stimmen zuzuhören, die seit Jahren sagen und publizieren, dass mit dem deutschen Antisemitismusdiskurs auch moralisch etwas nicht stimmt – von allen politischen Fragen abgesehen? Die Scheu der Intellektuellen, die den Nahen Osten kennen, zur deutschen Debatte ihre Sicht der Katastrophe beizutragen, liegt gewiss nicht daran, dass sie nichts zu sagen hätten. Möglich wäre es. Der Schriftsteller Per Leo hat die befreiende Kraft des deutschen Zuhörens in diesen Fragen unlängst in einem offenen Brief an seinen Kollegen Behzad Karim Khani in einzigartiger Weise vorgeführt.5)
Schließlich: Welches politische Signal sendet das neue Einbürgerungsregime an die Aspirant:innen auf die deutsche Staatsangehörigkeit? Dass es einem im Zweifel nichts hilft, wenn man alle gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt, wenn man mit dem falschen Milieu Umgang hatte? Dass noch unrichtige Antworten aus einem bestandenen Einbürgerungstest als Belastungsindizien des Charaktertests gebraucht werden? Dass es die Bundesrepublik mit den erlernbaren Voraussetzungen, die ihre eigenen politischen Grundlagen betreffen, nicht richtig ernst nimmt (98 Prozent Erfolgsquote beim Einbürgerungstest!), um bei den nicht erlernbaren Gesinnungsvoraussetzungen politische Exklusion um so leichter zu ermöglichen? Das ist die eine Seite der Sache, die Zerstörung rechtsstaatlicher Standards durch die verrechtlichte Staatsräson.
Die Frage liegt aber zugleich grundsätzlicher. Mit der gesetzlichen Anordnung einer Verpflichtung zu einem historisch-moralischen Selbstverständnis kann man, auch davon handelt Leos Brief, als Einbürgerungsbewerber:in auf zweierlei Weisen umgehen: mimetisch oder hermetisch, durch die Imitation fremder Bekenntnisse oder durch Schweigen. Das Protokoll des Regensburger Verhörs vermerkt an vielen Stellen: „keine Meinung“, oder eben auch nur: „schweigt“, „schweigt“. Schweigen als Bedingung der Selbstbehauptung? Die Einbürgerung ist der normative Testfall der Republik. Die Bundesrepublik besteht ihren Einbürgerungstest zurzeit nicht.
References
↑1 | Die Teilung Deutschlands und die deutsche Staatsangehörigkeit, in: Epirrhosis: Festgabe für Carl Schmitt, 1968, Bd. II, S. 423-463. |
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↑2 | Aktenzeichen RO 9 K 24.782; vgl. SZ v. 19.12.2024 |
↑3 | Dan Diner, Rituelle Distanz: Israels deutsche Frage, 2015. |
↑4 | Siehe unter anderem Ralf Michaels, Israels Sicherheit und Existenz zwischen deutscher Staatsräson und Rechtsstaatsprinzip, in: Meron Mendel (Hrsg.), Singularität im Plural: Kolonialismus, Holocaust und der zweite Historikerstreit, 2023, 194 ff. |
↑5 | Per Leo, Israelkritik für deutsche Patrioten. Brief an Behzad Karim Khani, in: ders., Vorletzte Lockerung: Texte zum Nachleben des Nationalsozialismus, 2023, S. 291-374. |
Zwar ist noch keine offizielle Aktualisierung der Vorläufigen Anwendungshinweise des BMI erfolgt (und erst recht nicht der StAR-VwV) , jedoch sind neue Hinweise nach DPA-Informationen bereits seit dem Inkrafttreten den Ländern übersandt worden (vgl. z.B. ZEIT ONLINE: https://www.zeit.de/news/2024-06/27/kuerzere-einbuergerungsfrist-lippenbekenntnis-reicht-nicht ) Die Bundesregierung hat also, so scheint es mir, längst die politische Verantwortung übernommen wie es im Beitrag heißt.
Publiziert wurden Teile davon dann von Panorama/NDR und FragDenStaat gegen Ende September ( https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/panorama/aktuell/staatsangehoerigkeitsgesetz106.html mit Download am Ende des Artikels). Während die Berichterstattung insbesondere auf die Parole “From the river to the sea” abstellt, spricht das Dokument selbst auch das Existenzrecht Israels an. Im Gegensatz zu den VAH aus 2015 wird auch nicht nur der Wortlaut der Erklärung abgedruckt, sondern das, was sich die Bundesregierung darunter inhaltlich vorstellt.
Die Nr. 1a wird dort eingeteilt in “die Ablehnung jeder Form von Antisemitismus” (unter Bezugnahme auf die Erklärung nach Nr. 1, die auf die IHRA-Arbeitsdefinition verweist), “die Ablehnung jeden Vergessens, Verschweigens oder Verharmlosens des nationalsozialistischen Völkermordes an den Jüdinnen und Juden Europas” und “die Anerkennung des besonderen und engen Verhältnisses der Bundesrepublik Deutschland zum Staat Israel, insbesondere, dass die Sicherheit und das Existenzrecht Israels zur deutschen Staatsräson gehören” (alles in Rn. 10.1.1.1.3.1).
In bester Gesellschaft zum VG Regensburg wird auch hier die Bundesrats-Resolution zum Existenzrecht Israels zitiert. Allen beispielhaft angeführten Aussagen oder Handlungen kommt die Situation in dem Urteil jedoch nicht nahe. Das Problem der Anerkennung des Existenzrechtes als quasi-Einbürgerungsvoraussetzung bleibt natürlich bestehen.
Ein kleiner Lichtblick bietet immerhin 10.1.1.1.4: “Im Rahmen der ihr obliegenden Amtsermittlung kann die Staatsangehörigkeitsbehörde standardisierte oder für den konkreten Einzelfall erstellte Fragenkataloge bzw. Gesprächsleitfäden verwenden. Die Fragen müssen geeignet sein, ohne Unterschied nach Religionszugehörigkeit auf Grund der religiösen Anschauungen oder der Herkunft das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Einbürgerung zu überprüfen. Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Bekenntnisse können sich im Gespräch beispielsweise aufgrund widersprüchlichen und ausweichenden Antwortverhaltens des Antragstellers ergeben oder verfestigen.”
Dass die Behörden sich aber strikt an dies halten werden darf man bezweifeln, wie das Gesprächsprotokoll ja zeigt. Eine ober- bzw. höchstrichterliche Klärung des Inhaltes von Nr. 1a wird hoffentlich Klarheit schaffen – denn der nächste Fall wird bestimmt kommen.
Vielleicht kommt die nächste Regierung dem aber auch zuvor, denn die Union will das Existenzrecht Israels in ihrem Wahlprogramm weiterhin als Voraussetzung für Einbürgerungen verankern und dessen Leugnen StGB bestrafen (vgl. S. 44 des Wahlprogrammes).
Meinel gibt das Urteil leider in wesentlicher Hinsicht unzutreffend wieder.
Meinel übersieht, dass das VG seine Entscheidung selbstständig tragend auf zwei verschiedene Begründungen gestützt hat (vgl. Rn. 35: “Unabhängig von den vorstehenden Ausführungen”). Neben der antizionistischen Einstellung des Klägers stützt sich das Gericht darauf, dass Zweifel an der Richtigkeit des Bekenntnisses zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bestünden, da der Kläger ganz erhebliche Wissensdefizite hinsichtlich derselben hatte. So gab er etwa an, Deutschland sei eine kommunistische Republik, und meinte, nur Deutsche müssten Gesetze befolgen. Das Gericht betont hierzu (völlig unabhängig vom Thema Israel!): “Nur derjenige kann sich glaubhaft zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennen, der den Inhalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung jedenfalls in Ansätzen kennt.” (Rn. 41). Dies war – wie sich aus den defizitären Antworten des Klägers ergibt – wohl nicht der Fall.
Meinel vermengt diese beiden Begründungsstränge offensichtlich, wenn er die Zweifel am Loyalitätsbekenntis in Zusammenhang mit einer angeblichen – vom Gericht tatsächlich nicht angesprochenen – Beweispflichtigkeit für fehlenden Antisemitismus stellt. Insoweit übersieht Meinel auch, dass das Gericht Antizionismus ganz generell als Hinderungsgrund ansieht (vgl. Rn. 34: “Allerdings genügt auch die nicht antisemitisch motivierte Leugnung des Existenzrechts Israels für ein fehlendes wirksames inhaltliches Bekenntnis nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a StAG”).
Hinzu kommen weitere Schwachpunkte des Beitrags.
Meinel behauptet unzutreffend, “es gehe bei der Einbürgerung, so das Gericht, nicht nur um die Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen […]”. Gemeint ist offenbar Rn. 21. Dort heißt es aber, es gehe “nicht nur um eine gewisse Aufenthaltsdauer und die Beachtung zentraler Rechtsnormen”. Mit der Beachtung zentraler Rechtsnormen dürfte die Einhaltung der Rechtsordnung durch den Einbürgerungsbewerber gemeint sein und nicht, wie Meinel suggeriert, die gesetzlichen Voraussetzungen der Einbürgerung.
Soweit Meinel die Nichtzulassung der Berufung nach § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO bemängelt, sei er auf § 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO verwiesen.
Schließlich erweisen sich die Ausführungen zum Verkündungstermin als rein spekulativ. In einem wissenschaftlichen Beitrag haben derartige haltlose Mutmaßungen mE nichts verloren.
“Das Problem bestand darin, dass der westdeutsche Staat die DDR und ihre Staatsangehörigkeit nicht anerkannte, obwohl ihre Bürger im Westen natürlich weder an Wahlen teilnahmen noch dem Schutz der Institutionen der Bundesrepublik unterstanden oder Leistungen erhielten.”
Das ist nicht richtig. In der DDR lebende Deutsche unterstanden durchaus dem Schutz bundesdeutscher Institutionen, etwa im Ausland. DDR-Bürger (insbesondere Rentner, da diese ohne Visum in die Bundesrepublik reisen durften) konnten auf irgendein Meldeamt in der Bundesrepublik gehen und erhielten dort umstandslos einen bundesdeutschen Pass, mit dem sie z.B. nach Frankreich reisen konnten, ohne dass es die DDR-Behörden mitbekamen.
Sie schreiben: “Das VG Regensburg hat die Entscheidung kaum zufällig am 7. Oktober verkündet, auf den Tag genau ein Jahr nach dem Beginn von Israels Krieg im Gazastreifen …” – Möglicherweise möchten Sie diese unrichtige Angabe korrigieren; Israel hat am 7. Oktober keinen “Krieg im Gazastreifen” begonnen! Das Gericht hat das Urteil möglicherweise am Jahrestages des Massakers der Hamas verkündet (das “inzwischen vom Internationalen Gerichtshof zumindest in die unmittelbare Nähe des Völkermordtatbestandes gerückt wurde”), keineswegs aber am Jahrestag von “Israels Krieg im Gazastreifen”; m. E. ein Unterschied ums Ganze.
Die Fragen durch den Sachbearbeiter waren mit Sicherheit unangemessen. Der entscheidende Aussage des Betroffenen ist aber „Es gibt kein Israel. Es gibt Juden, aber Israel nicht als Land.“ Die Nicht-Anerkennung Israels – die man auch nicht durch semantische Spitzfindigkeiten und Gegenüberstellungen wegdiskutieren kann – wird ganz offensichtlich als Indiz (!) dafür behandelt, dass sich der Betroffene sich nicht hinreichend mit dem westlich-liberalen Gesellschaftsmodell identifiziert, um Teil der deutschen Ausprägung dieses Gesellschaftsmodells zu werden. Ob die zugrundeliegende Annahme tragfähig ist, wäre eine empirische Frage. Ein Volk darf aber so oder so bestimmen, wer ihm angehören soll und welche Kriterien es dafür aufstellt, solange die nicht völlig willkürlich sind. Seit wann ist es ein Postulat des demokratischen Rechtsstaates, dass jeder einen Anspruch auf Einbürgerung durch Zeitablauf hat? Staatsbürgerschaftsrecht ist wesentlich im Kern besagte “politische Exklusion”. Man kann die Kriterien falsch finden, aber ich verstehe schon im Ansatz nicht, wo hier juristisch ein Problem liegen soll.
Jenseits von unsachlicher und maßloser Polemik, Dünkel ggü. der Verwaltungsgerichtsbarkeit und kursiv geschriebenem Juristen-Latein, beschränkt sich der juristische Gehalt des Textes auf einen Verweis auf den Willen des Gesetzgebers und einem daraus hergeleiteten “evident rechtswidrigen” “offenen (sic!) Bruch der Legalität”. Jenseits der Frage, ob es einen solchen Willen überhaupt gibt und was man dem Gesetzgeber als diesen Willen zurechnet: einen entgegenstehenden Willen des Gesetzgebers wird man wohl nicht aus einer simplen Ablehnung eines oppositionellen Änderungsantrags herleiten können. Die Gesetzesbegründung – hier hätte doch eine Auseinandersetzung nahe gelegen? – gibt soweit ersichtlich keinen Aufschluss über die in Rede stehende Frage. Warum ist dann umgekehrt illegitim, für die Frage, welchen Willen der Gesetzgeber hatte, auf in zeitlichem Zusammenhang erfolgte Willensäußerungen des Parlaments abzustellen?