Die institutionelle Unabhängigkeit der Justiz in Deutschland – ein Defizitbefund
Die deutsche Staatsanwaltschaft darf wegen fehlender Unabhängigkeit keine Europäischen Haftbefehle ausstellen. So sieht es der EuGH in seinem Urteil vom 27. Mai 2019 (dazu an dieser Stelle auch schon Klaus Ferdinand Gärditz). Das Urteil sollte Anlass für eine allgemeinere Debatte über die Unabhängigkeit der Justiz sein. Denn die in Deutschland geltenden Regelungen setzen einer politischen Instrumentalisierung der Justiz keine ausreichenden Hindernisse entgegen. Entwicklungen wie in Polen oder Ungarn wären auch in Deutschland rechtlich möglich. Die institutionelle Unabhängigkeit der Justiz sollte daher Thema der Debatten um constitutional resilience sein.
Verfassungsrecht und Praxis in Deutschland
Über die Berufung der Richter*innen an den obersten Gerichtshöfen des Bundes entscheidet nach Art. 95 Abs. 2 GG der zuständige Bundesminister gemeinsam mit einem Richterwahlausschuss, der je zur Hälfte aus Landesminister*innen und Mitgliedern besteht, die vom Bundestag gewählt werden. Zurzeit handelt es sich ausschließlich um Abgeordnete. Diese rein politische Besetzung des Gremiums führt dazu, dass de facto niemand als Bundesrichter*in zum Zuge kommt, der keine Kontakte zu einer der potentiell mehrheitsfähigen Parteien hat. In der Regel werden dafür Personalpakete geschnürt.
Sehr unterschiedlich sind die Regelungen in den Bundesländern. In einigen Ländern gibt es zwar Richterwahlausschüsse. Diese sind aber fast alle mehrheitlich mit Mitgliedern besetzt, die vom Landtag gewählt werden, zum Teil auf Vorschlag aus der Justiz. Lediglich in Baden-Württemberg wird die Mehrheit der Mitglieder von den Richter*innen selbst gewählt, doch hat dieser Ausschuss nur eine sehr eingeschränkte Zuständigkeit in Konfliktfällen. Zudem wird Art. 98 Abs. 4 GG mehrheitlich so interpretiert, dass das jeweilige Landesjustizministerium ein Vetorecht hat.
Zusammengefasst bewirken diese Regelungen, dass alle Richter*innen in Deutschland von parteipolitisch geprägten Gremien bzw. Minister*innen ausgewählt werden. Um nicht missverstanden zu werden: Die hohe Qualität der deutschen Justiz steht insgesamt außer Frage. Es gibt auch keine ernsthaften Bedenken, dass die persönliche Unabhängigkeit, die Art. 97 GG gewährleistet, nicht gewahrt würde. Dennoch ist nicht zu leugnen, dass jedenfalls der Aufstieg in der Justiz im Rahmen der Spielräume, die bei der Eignungsbeurteilung bestehen, auch politisch geprägt ist. Ein Indiz für das Misstrauen in die Objektivität der Personalentscheidungen ist, dass kaum noch eine Leitungsposition ohne Konkurrentenstreit besetzt werden kann. Spielt man einmal durch, was passieren könnte, wenn z.B. ein AfD-Mitglied ein Justizministerium leiten und nur seine Spezis befördern würde, liegt das Problem auf der Hand.
Der große Einfluss der Exekutive auf die Personalentscheidungen der Justiz folgt nicht nur deutscher Tradition. Seit einem einflussreichen Gutachten von Ernst-Wolfgang Böckenförde (Verfassungsfragen der Richterwahl, 1974) wird er von der wohl herrschenden Auffassung mit dem Erfordernis der demokratischen Legitimation der Richter*innen gerechtfertigt. Weil Richter*innen verbindliche Entscheidungen fällen dürfen, müsse ihre Auswahl über die Kette Volk – Parlament – Regierung legitimiert werden. Eine Auswahl durch ein mehrheitlich von Richter*innen gewähltes Gremium wird danach als undemokratische Kooptation bewertet.
Empfehlungen des Europarats
Das kann man auch anders sehen. Die institutionelle Dimension der richterlichen Unabhängigkeit ist kein neues Problem des Verfassungsrechts. Viele europäische Verfassungen enthalten Vorschriften über einen Justizrat, der insbesondere bei Personalentscheidungen entweder das letzte Wort hat oder zumindest Empfehlungen ausspricht. Mittlerweile haben auch verschiedene Gremien des Europarats das Thema aufgegriffen und Stellungnahmen verabschiedet, die sich an die Mitgliedstaaten richten.
(1) So hat das Ministerkomitee des Europarats in seiner Empfehlung 2010(12) über Unabhängigkeit, Effizienz und Verantwortlichkeit der Richter unter Nr. 46 festgehalten, dass die Institution, die über die Einstellung und die Karriere von Richter*innen entscheidet, unabhängig von der Exekutive und der Legislative sein und mindestens zur Hälfte mit Richter*innen besetzt sein soll, die von ihresgleichen gewählt werden. Sofern das Verfassungsrecht eines Staates oder andere Rechtsvorschriften vorsehen, dass das Staatsoberhaupt, die Regierung oder das Parlament solche Entscheidungen treffen, soll nach Nr. 47 eine solche unabhängige Institution zumindest Empfehlungen geben dürfen, denen die Stelle, welche für richterbezogene Personalentscheidungen zuständig ist, in der Praxis folgt.
(2) Der Beirat der europäischen Richter beim Europarat hat im Jahr 2010 eine „Magna Charta der Richter“ verabschiedet, die unter Nr. 13 fordert, dass alle Staaten einen Justizverwaltungsrat oder ein ähnliches Gremium einrichten, das gegenüber der Exekutive oder der Legislative völlig unabhängig ist und sich ausschließlich oder mehrheitlich aus Richter*innen zusammensetzt, die von ihresgleichen gewählt werden. Diese Institution soll u.a. mit weitreichenden Befugnissen für alle Fragen im Zusammenhang mit der Rechtsstellung der Richter*innen ausgestattet werden.
(3) Auch die Venedig-Kommission hat sich mehrfach mit dem Thema beschäftigt und etwa in ihrer Stellungnahme Nr. 403/2006 die Unterschiedlichkeit der verschiedenen Verfahren zur Auswahl von Richter*innen betont. Sie hat zwar festgestellt, dass die in einigen älteren Demokratien vorgesehene Ernennung durch die Exekutive wegen der Rechtskultur und Tradition keine Gefährdung für die Unabhängigkeit mit sich bringe. Die Entwicklung geht aber auch in Westeuropa seither in eine andere Richtung. Inzwischen haben z.B. auch Großbritannien mit der „Judicial Appointments Commission“ und die Niederlande mit dem „Rat für Rechtsprechung“ Institutionen gegründet, mit denen der politische Einfluss auf die Justiz reduziert wurde. In Europa fehlt es also nur noch in Deutschland, Österreich und der Tschechischen Republik an einem Gremium, das die Anforderungen des Europarats erfüllt. Ein Sonderfall ist die Schweiz, wo die Bundesrichter*innen unmittelbar vom Parlament gewählt werden.
Reformoptionen
Die genannten Empfehlungen, die durch viele weitere ergänzt werden, sind für die Mitgliedstaaten des Europarats nicht verbindlich. Sie lassen aber doch zweifeln, ob die exekutive Einflussnahme mit dem Erfordernis einer personellen demokratischen Legitimation der Justiz überzeugend gerechtfertigt werden kann. Man müsste dann viele andere Verfassungen wie auch den Europarat selbst des Verstoßes gegen demokratische Grundsätze zeihen. Doch was ist davon abgesehen das zentrale Gegenargument, woher kommt die ja in der Tat erforderliche Legitimation? Kurz zusammengefasst: Die Tätigkeit der Richter*innen wird durch die korrekte Anwendung des Rechts legitimiert, das seinerseits das Ergebnis demokratischer Entscheidungsprozesse ist. Anders als Regierungsmitgliedern und Beamt*innen stehen Richter*innen keine Gestaltungsspielräume zu, die politisch zu verantworten sind. Deshalb können sie auch nur bei eindeutigen und gravierenden Rechtsverstößen ihres Amtes enthoben werden.
Inzwischen hat auch der EuGH begonnen, aus Art. 19 EUV zusätzliche Dimensionen der richterlichen Unabhängigkeit abzuleiten. Dahinter steht ziemlich offensichtlich die Absicht, jenseits des praktisch nicht funktionsfähigen Verfahrens nach Art. 7 EUV Vorgaben zu entwickeln, an denen die Organisation der Justiz der Mitgliedstaaten gemessen werden kann. Dabei wird es ihm aber schwerfallen, z.B. gegenüber Polen Regelungen zu rügen, die denen gleichen, die in Deutschland gelten. Die polnische Regierung hat die Entscheidung, die richterlichen Mitglieder ihres Landesjustizrates nicht mehr von den Richter*innen, sondern vom Parlament wählen zu lassen, mit einer Stärkung ihrer demokratischen Legitimation begründet.
Wir sehen die abschreckenden Beispiele einer politischen Instrumentalisierung der Justiz nicht nur in Ostmitteleuropa, sondern am deutlichsten in der Türkei, die übrigens auch Mitgliedstaat des Europarats ist. Wir würden wohl zu Recht befinden, dass Deutschland solche Entwicklungen derzeit nicht fürchten muss. Und doch: Sollten die aktuellen Entwicklungen und die internationale Debatte nicht Anlass sein, sie auch in und für Deutschland wieder aufzunehmen?
Dieses Dilemma kann nur dadurch entschärft werden, dass in Deutschland selbst die Reformen durchgeführt werden, die den Empfehlungen des Europarats Geltung verschaffen. Dies ist aus den Reihen der Richter*innenverbände auch schon vielfach gefordert worden. Erste zaghafte Bestrebungen in diese Richtung sind in Hamburg unter der früheren rot-grünen Regierung unternommen worden, dann jedoch steckengeblieben.
Es ist hier nicht der Ort, Details konkreter Reformen zu entwickeln. Wenn man Art. 98 Abs. 4 GG im Sinne der Länderautonomie zurückhaltend interpretiert, haben die Landesgesetzgeber große Spielräume für die Beteiligung von Richterwahlausschüssen. Für den Richterwahlausschuss auf Bundesebene käme eine Variante in Frage, wonach die vom Bundestag zu wählenden Mitglieder von der Justiz vorgeschlagen werden müssen. Weiterreichende Modelle bedürften dagegen einer Verfassungsänderung.
Im Rahmen solcher Reformen wäre dann auch zu entscheiden, ob die Staatsanwaltschaft einbezogen werden soll. Ihre Unabhängigkeit von der Exekutive gilt z.B. in Italien im Kampf gegen die Mafia als unverzichtbar. In Rumänien und Tschechien finden Demonstrationen gegen politische Behinderungen staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen statt. Wenn auch die Staatsanwaltschaft nur das geltende Recht anwendet, spricht nichts dagegen, ihr Unabhängigkeit einzuräumen und diese institutionell abzusichern.
Prof. Groß: „Entwicklungen wie in Polen oder Ungarn wären auch in Deutschland rechtlich möglich.“ Die ist zutreffend, wie der Fall Range belegt.
Für den verstorbenen Generalbundesanwalt Harald Range war es immer klar: Er hatte im Fall „netzpolitik.org“ eine Weisung von Bundesjustizminister Heiko Maas erhalten.
Vor dem Rechtsausschuss des Bundestages wurde Range gefragt: „Wer hat zu Ihnen gesagt: ‚Jetzt geht es um Ihren Kopf – entweder Sie stellen (das Verfahren) ein, oder Sie werden entlassen.‘?“ Range antwortete: „Telefonisch Frau Hubig(Ss im Justizministerium).“
Das Weisungsrecht des Justizministers ist eine Art Anomalie in der Logik der Gewaltenteilung. Der Deutsche Richterbund bemängelt das schon lange.
Die Gewaltenteilung besagt, dass es Legislative, Exekutive und rechtsprechende Gewalt gibt. Da die Staatsanwält(inn)e(n) kein Recht sprechen, sind die Exekutive und somit nach Art. 20 II GG Teil der vollziehenden Gewalt, die der parlamentarisch kontrollierten Regierungsveranwortung unterliegt.
Wo ist da eine Anomalie?
Würden Sie außerdem jedem Staatsanwalt und jeder Staatsanwältin weisungsfreiheit zukommen lassen wollen (so wie bei den Richter/innen)? Typischerweise wird doch wohl nur die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften – wohl also der Behördenleiter/innen – gefordert. Das wäre ein erhebliches Mehr an Entscheidungsmacht einer einzelnen Person, die es so in den Gerichten – wo die Geschäfte auf mehrere Richter/innen bzw. Spruchkörper nach dem Prinzip des gesetzlichen Richters verteilt ist – so nicht gibt.
Die Antwort ist dann aber, dass d