Die Mär vom „Kriegskabinett“
Und warum wir trotzdem über die Parlamentarisierung der Corona-Politik reden müssen
Werden wir von einem „Kriegskabinett“ regiert? Die gestrige Regierungserklärung der Kanzlerin wurde von massiven Zwischenrufen begleitet. In Reaktion darauf betonte der Bundestagspräsident, das am Vortag durchgeführte Treffen zwischen der Kanzlerin und den MinisterpräsidentInnen sei im Grundgesetz so vorgesehen. Das ist natürlich weder richtig noch falsch.
Als förmliches Verfassungsgesetz, das auf Formalisierung institutioneller Prozesse abzielt, kann das Grundgesetz von vornherein keine positive Aussage zu informellen kommunikativen Strukturen und Arrangements treffen. Rechtssätze können allerdings bestimmte, typischerweise informell zustande gekommene Verabredungen einzelner Akteure verbieten, wie es etwa im Kartellrecht der Fall ist. Dass das Grundgesetz einzelnen Verfassungsakteuren, hier Vertretern der Bundesregierung und der Landesregierungen, Gesprächsrunden zur Abstimmung politischer Entscheidungsprozesse verböte, kann schlechterdings nicht angenommen werden. Es ist Verfassungsordnungen, die formalisierte Entscheidungsfindungsprozesse mit entsprechenden Handlungsbefugnissen kennen, nicht generell fremd, wenn diese Prozesse in einer verfassungsrechtlich informellen, aber gleichwohl politisch-institutionell strukturierten Weise begleitet oder vorbereitet werden. Ein gutes Beispiel bietet das Trilogverfahren im unionsrechtlichen Gesetzgebungsverfahren. Es ist auch deswegen besonders, weil Art. 294 Abs. 11 AEUV für das ordentliche Gesetzgebungsverfahren einen formalisierten Trilog vorsieht, in welchem die Kommission in das Vermittlungsverfahren zwischen Rat und Parlament eingeschaltet und hierbei mit konkreten Handlungsbefugnissen ausgestattet wird. Das Vorhandensein des formellen Trilogs bewirkt nach herrschender Auffassung nicht die Vertragswidrigkeit des informellen Trilogs, welcher bekanntlich sehr häufig dazu führt, dass das Gesetzgebungsverfahren auf Grundlage eines early agreement bereits in erster Lesung erfolgreich abgeschlossen werden kann. Die hochkomplexen Verfahrensregeln, die Art. 294 AEUV für die zweite und dritte Lesung sowie das Vermittlungsverfahren vorsieht, darunter auch der formelle Trilog, kommen so oftmals nicht mehr zur Anwendung. Dass die Vertreter der drei beteiligten Organe im informellen Trilogverfahren nicht öffentlich tagen, wird kritisiert, ist aber beständige Verfassungspraxis.
Quasi-legislativer Rahmen-Rechtssatz?
Dies kann man von der – mitunter online, mitunter offline und stets geheim – tagenden Konferenz der Kanzlerin und der MinisterpräsidentInnen (noch) nicht sagen. Den „Beschluss“ zum „Teil-Lockdown“ vom 28. Oktober 2020 haben die „Bundeskanzlerin und die Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder“ gefasst. Er stellt formal besehen ein Bündel politischer Absichtserklärungen dar. Damit können an sich nur die Absichten der Landesregierungen gemeint sein, weil nur diese wegen § 32 IfSG befugt sind, in noch nicht abschließend geklärten Grenzen, die bekundeten Absichten durch Erlass entsprechender Rechtsverordnungen (und deren Einzelfallvollzug) umzusetzen. Vor diesem Hintergrund überrascht allerdings der Wortlaut einzelner Beschlusspunkte. Unter Ziff. 1 heißt es etwa: „Ab dem 2. November treten deutschlandweit die im Folgenden dargelegten zusätzliche Maßnahmen in Kraft.“ Und in Ziff. 3: „Der Aufenthalt in der Öffentlichkeit ist daher ab sofort nur mit den Angehörigen des eigenen und eines weiteren Hausstandes jedoch in jedem Falle maximal mit 10 Personen gestattet.“ So spricht ein Gesetzgeber. Bemerkenswert auch der zweite Satz von Ziff. 3: „Dies gilt verbindlich und Verstöße gegen diese Kontaktbeschränkungen werden entsprechend von den Ordnungsbehörden sanktioniert.“ Von Rechtsgeltung in einem formellen Nichtgeltungskontext zu sprechen, könnte man fast als besondere Form uneigentlichen Sprechens bezeichnen und die Rechtstheorie bekommt wieder einmal ein schönes (und überaus bedeutsames) Beispiel für ein effektives soft-law-Regime frei Haus geliefert. Geradezu entlarvend muss der dritte Satz zu Ziff. 1 erscheinen: „Nach Ablauf von zwei Wochen werden die Bundeskanzlerin und die Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder sich erneut beraten und die durch die Maßnahmen erreichten Ziele beurteilen und notwendige Anpassungen vornehmen [Hervorh. d. Verf.].“ Dass diese Sätze nicht unmittelbar vollziehbar sind, ist das eine; aber wird hier nicht ein quasi-legislativer Rahmen-Rechtssatz aufgestellt, der nur mehr auf die Ausfüllung durch die Landesverordnungsgeber wartet und diese inhaltlich, im nicht technischen Sinne, determiniert? Es steht zu erwarten, dass die 16 Verordnungsgeber in diesem Augenblick, da sie an der Umsetzung des Beschlusses arbeiten, allein in diesen und nicht in die §§ 32, 28 IfSG, die die formale Ermächtigungsnorm bilden, hineinschauen.
Zu den weniger rühmlichen verfassungshistorischen Erinnerungen gehört sicher der in der Reichsverfassung nicht vorgesehene Sohn des Reichspräsidenten. Der Einfluss von Beratern, Lobbyisten, Denkfabriken, Stiftungen und ähnlichen Kommunikationskomplexen im Vorfeld formaler Entscheidungsfindung ist ein kontroverses Sujet, aber grundsätzlich im außerrechtlichen Feld angesiedelt. Der juristische Diskurs über die materielle Entstehensverantwortung rechtsförmlicher Entscheidungsprozesse beginnt dort, wo konkrete Rechtsaktsentwürfe in ebendiesen Prozess eingespeist werden, wie wir es beim Problem der Auslagerung der Erarbeitung von Gesetzesinitiativen an Anwaltsgroßkanzleien diskutieren. Bei jenem Phänomen mag es sich allerdings vielleicht eher um ein Privatisierungsproblem handeln, bei dem das Initiativrecht, etwa der Bundesregierung, durch Übertragung der Formulierungsarbeit an demokratisch niemandem verantwortliche Privatakteure, materiell entwertet wird. Die – mehr oder minder erfolgreiche – Technik der Übernahme von föderal kollaborierten Musterentwürfen, zum Beispiel im Polizei- oder Bauordnungsrecht, wurde, soweit ersichtlich, noch von niemandem als anstößig empfunden. Im Corona-Lockdown-Fall verhält es sich überdies so, dass ein nicht unerheblicher Ausfüllungs- und Konkretisierungsspielraum auf Ebene der Länderexekutiven besteht.
Parlamentarisierung der Corona-Politik!
Womöglich ist es vor allem die bei Ministerpräsidentenkonferenzen unübliche Anwesenheit der Kanzlerin, die Irritationen auslöst. Dass sich das Kanzleramt und somit der Bund hier nicht auf eine moderierende Rolle beschränkt, sondern im Vorfeld schon Papiere und Beschlussvorlagen einbringt, eröffnet eine eigentümliche Bund-Länder-Kooperationsstruktur, die dem deutschen Bundesstaatsrecht tendenziell fremd ist. Eine Besonderheit der Corona-Beschlüsse liegt darin, dass das Infektionsschutzgesetz, vom neuen § 5 abgesehen, entsprechend Art. 84 GG von den Ländern vollzogen und, noch viel wichtiger, wegen § 32 IfSG von diesen materiell-rechtsetzend konkretisiert wird. Hierdurch sind die Landesparlamente aus dem Spiel, weil die parlamentsgesetzliche Grundlage entsprechend Art. 80 Abs. 1 GG auf Bundesebene angesiedelt ist. Der Bundestag hat zu alledem indes nur Eines beigetragen: Im März 2020 wurde § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG, auf den § 32 rekurriert, um einen längeren Halbsatz ergänzt. Danach kann die Infektionsschutzbehörde, vollziehend (§ 28) oder rechtsetzend (§ 32), „insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten“. Damit ist zwar die kaum vertretbare Stützung von Ausgangs- bzw. Kontaktbeschränkungen auf § 28 Abs. 1 S. 2 IfSG obsolet, ob es sich aber um eine hinreichend robuste Ermächtigungsgrundlage für einen flächendeckenden Lockdown handelt, die dem Wesentlichkeitsvorbehalt genügt, darf weiterhin bezweifelt werden.
Diese verfassungsrechtlichen Zweifel bestehen ganz unabhängig davon, ob und wie die Landesrechtsverordnungen, die auf die bestehenden bundesgesetzlichen Grundlagen gestützt werden, koordinativ ausgehandelt und verabredet werden. Ob föderale Gleichförmigkeit im Verordnungserlass durch einen politisch-medialen Über- oder Unterbietungswettbewerb oder durch strukturierte Gespräche bedingt wird, kann sich verfassungsrechtlich nicht unterschiedlich ausnehmen. Das Kernproblem besteht also nicht in der Emergenz eines neuartigen, (video-)konferierenden „Geheimgremiums“, sondern in der Frage, ob die Corona-Verordnungen der Länder noch von der Ermächtigungsnorm aus §§ 32, 28 IfSG gedeckt sind bzw. ob die Wesentlichkeit der Materie hier nicht generell einer so weitgehenden Delegation an die Exekutive entgegensteht. Wir haben es organisationsrechtlich mit einem Gewaltenteilungs- und Legitimationsproblem und nicht mit einem Gremienproblem zu tun. Vielleicht besteht der tiefere Sinn der Bundespräsenz im politischen Konzert der MinisterpräsidentInnen auch darin: Die Anwesenheit der Kanzlerin mag alle Beteiligten daran erinnern, dass am Ende, falls es die Länder nicht „hinbekommen“, auch der Bund handeln könnte – durch ein Maßnahmen-Gesetz. Eine Parlamentarisierung der Corona-Politik wäre allerdings auch staatsrechtlich wünschenswert. Zum Skandal taugt die bisherige Praxis freilich nicht. Dass die Eindämmungsmaßnahmen im Rahmen einer akuten und unvorhersehbaren Krise erst einmal aus vorhandenem fachrechtlichem Material geschneidert werden, ist krisenpolitisch klug und rechtsstaatlich akzeptabel. Je länger die Pandemie währt, umso eher sollte allerdings der Mut aufgebracht werden, aus fachgesetzlichen Pfadabhängigkeiten auszubrechen. Dann hätten es auch Märchenerzähler wieder schwerer.
„Zum Skandal taugt die bisherige Praxis freilich nicht. Dass die Eindämmungsmaßnahmen im Rahmen einer akuten und unvorhersehbaren Krise erst einmal aus vorhandenem fachrechtlichem Material geschneidert werden, ist krisenpolitisch klug und rechtsstaatlich akzeptabel.“
„Akut“ ist laut dem klinischen Wörterbuch „Psychrembel“: „Plötzlich auftretend und/oder schnell und heftig verlaufend in Bezug auf Krankheiten und Schmerz. Das Gegenteil von akut lautet chronisch.“ Covid-19 Infektionen gab es den gesamten Sommer, wenn auch auf bedeutend niedrigerem Niveau. So plötzlich ist Covid-19 Ende Oktober nicht wieder aufgetaucht. Und unvorhersehbar ist das Infektionsgeschehen auch nur, wenn man Präsident Trump im Frühjahr geglaubt hat, dass sich Covid-19 mit dem Sommer von selbst erledigt. Bei einer Risikoanalyse hätte das jetzige Pandemiegeschehen im letzten halben Jahr als nicht unwahrscheinliches Szenario „vorhergesehen“ werden können.
Die Bundeskanzlerin hat in ihrer gestrigen Regierungserklärung ausgeführt: „Wie wir auf europäischer Ebene mit der Pandemie umgehen, entscheidet nicht nur über die Gesundheit unserer Bürgerinnen und Bürger und unserer Volkswirtschaften, sondern das wird auch maßgeblich beeinflussen, wie die Leistungsfähigkeit Europas und damit die Legitimität unseres europäischen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells weltweit beurteilt werden. Hier stehen wir in einem starken globalen Wettbewerb.“ Die Volksrepublik China hat Testkapazitäten geschaffen um Qingdao, eine Neun-Millionen-Stadt, innerhalb von fünf Tagen auf das Virus testen (https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/coronavirus/coronavirus-china-testet-neun-millionen-stadt-16997600.html). Anscheinend hat die Volksrepublik eine Risikoanalyse gemacht und entsprechende Testkapazitäten bereit gestellt.
Die Frage, “ob die Corona-Verordnungen der Länder noch von der Ermächtigungsnorm aus §§ 32, 28 IfSG gedeckt sind bzw. ob die Wesentlichkeit der Materie hier nicht generell einer so weitgehenden Delegation an die Exekutive entgegensteht,” ist allerdings auch aus gesundheitlichen Gründen zentral. Denn genau genommen kann sie 1. gegen jede Maßnahme geltend gemacht werden und 2. ist ja genau hier ausschließlich die Legislative gefragt, welche zur Klärung überhaupt eine Möglichkeit bekommen muss.
Schließlich geht es auch um Effektivität, Verhältnismäßigkeit und Verantwortung bezüglich der Grundrechtseingriffe und auch bezüglich Gesundheitsschutz. Was ist, wenn diese Maßnahmen kontraproduktiv sind? Hier wird zum Teil völlig zu recht Einseitigkeit, Inkonsequenz und sogar Nutzlosigkeit vorgeworfen. Hinzu kommt ja noch eine zersplitterte Rechtsprechung, die nun einfach per Verordnung (!) teilweise indirekt aufgehoben wird (vgl. Beherbergungsverbot).
Gerade gegen solcher abstrusen Vorstellung, wie bei der AfD, ist als Gegenargument eine einwandfrei funktionierende Demokratie wichtig. Die Verärgerung nimmt jedoch zu. Im Streitfall müsste der Betroffene nachweisen, was da aus pandemischen Gründen überhaupt sinnvoll ist. Es ist also nicht allein die Rechtslage, sondern auch der Eindruck eines verordnungsmäßig abgesicherten Versagens. Auch aufgrund sachlicher Effektivität macht Demokratie Sinn.
Die Absurdität des Vergleichs mit der Weimarer Republik liegt (glaube ich) in zwei zentralen Aspekten.
1. gab es in Weimar eine wirkliche Handlungsunfähigkeit der L