30 March 2022

Die Nationale Sicherheitsstrategie im Zeichen der außenpolitischen Zeitenwende

Prioritäten, Risiken, Potentiale

Die Invasion Russlands in die Ukraine am 24. Februar markiert den Höhepunkt einer Entwicklung, die durch Wladimir Putins Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007 rhetorisch vorbereitet, durch den Krieg in Georgien ein Jahr später eingeleitet und durch die Annexion der Krim sowie die Schattenintervention im Donbas 2014 forciert wurde: die Zerstörung der kooperativen Sicherheitsordnung in Europa. Die NATO-Russland-Grundakte und das Budapester Memorandum aus dem Jahre 1994 wurden de facto bedeutungslos. An ihre Stelle wird eine stärker konfrontativ ausgerichtete europäische Sicherheitsordnung treten, die auf Abschreckung basiert und auf die Eindämmung russischer imperialistischer Bestrebungen abzielt. Dieser Bruch veranlasste Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar im Bundestag, von einer Zeitenwende zu sprechen. Außenministerin Annalena Baerbock ergänzte in derselben Sitzung des Bundestags den Begriff mit dem erklärenden Satz: „Wenn unsere Welt eine andere ist, muss auch unsere Politik eine andere sein.“

Tatsächlich hat sich aber die Welt nicht erst am 24. Februar verändert. Das russische Regime hatte zuvor nicht nur in Georgien und der Ukraine den Einsatz militärischer Gewalt zu einem legitimen politischen Mittel erhoben. Der zweite Tschetschenien-Krieg dauerte von 1999 bis 2009, die russische Militärintervention in Syrien hält seit 2015 an. Beide Kriege wurden bzw. werden von russischer Seite mit großer Gnadenlosigkeit geführt. Aber die Rückkehr des Militärischen in die zwischenstaatliche Konfliktaustragung ist nur ein Merkmal der Zeitenwende. Zwei weitere kommen hinzu: zum einen die Instrumentalisierung von Abhängigkeitsverhältnissen und wirtschaftlicher Macht zur Ausübung von politischem Druck und Zwang. Hier hat sich in den vergangenen Jahren vor allem, aber nicht nur, China hervorgetan. Zum anderen der Einsatz von Desinformation und Manipulation, um auf öffentliche Meinungsbildung und Wahlergebnisse Einfluss zu nehmen.

Sicherlich kann eingewandt werden, dass sich nicht nur autoritäre Staaten dieser Mittel bedient haben. Die Intervention der NATO in den Kosovokrieg 1999 ohne völkerrechtlich abgesichertes Mandat, die westliche Sanktionspolitik gegenüber Iran, Russland, China und weiteren Staaten sowie die gesellschaftspolitischen Aktivitäten europäischer und amerikanischer NGOs in vielen Ländern der Welt werden häufig als Beleg dafür genannt, dass die USA und die EU ihren Beitrag zur Zeitenwende geleistet hätten. Formaljuristisch mag dieses Argument plausibel wirken, faktisch besteht ein großer Unterschied bei Motiven und Mitteln. Der Militäreinsatz der NATO im Kosovo, der die militärische Aggression Serbiens gegen einen unterlegenen Gegner beenden sollte und zudem versucht hat, zivile Opfer zu vermeiden, unterscheidet sich von einer großflächigen Invasion mit mehr als 150.000 Soldatinnen und Soldaten und der Schuttlegung von Städten wie Grosny und Aleppo, die vor allem der Stabilisierung eines autoritären Regimes oder der Wiedererrichtung eines Imperiums dienen. Sanktionen, um auf Völkerrechtsbrüche und Menschenrechtsverletzungen zu reagieren und nukleare Proliferation einzudämmen, unterscheiden sich von wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen, die der Durchsetzung staatlicher Machtansprüche dienen. Und die offene, rechenschaftspflichtige Demokratieförderung deutscher politischer Stiftungen im Ausland unterscheidet sich von der Bot-gesteuerten Verbreitung von fake news über soziale Medien.

Machtkämpfe und systemische Rivalität

Machtprojektion durch militärische Gewalt, wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen und gesellschaftliche Destabilisierung sind die Charakteristika der „neuen Zeit“. Zwischenstaatliche Konflikte werden nicht mit dem Ziel des Interessenausgleiches und der Kompromissfindung ausgetragen, sondern dienen der Durchsetzung des Rechts des Stärkeren und dem Brechen von Widerstand. Großmächte rivalisieren um Zugang zu Rohstoffen und Märkten, technologische Überlegenheit und Standards, politischen Einfluss und Einflusssphären. Überlagert wird diese klassische Machtkonfiguration zunehmend durch eine systemische Rivalität zwischen Demokratien und Autokratien, Marktwirtschaft und Staatskapitalismus, individuellen Freiheitsrechten und kollektiven Pflichten. Dieses düstere Bild überzeichnet sicherlich die Realität und birgt die Gefahr einer eingeschränkten Wahrnehmung der komplexen internationalen Beziehungen (siehe unten). Es besitzt aber hinreichend Realitätsgehalt und Gewicht, um grundlegende Anpassungen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik zu erfordern.

Dies einzusehen, ist der deutschen Politik, aber auch ihrer Wirtschaft und Gesellschaft außerordentlich schwergefallen. Noch bis vor kurzem überwog das Bewusstsein, mit militärischer Zurückhaltung, wirtschaftlichem Austausch, politischem Dialog und nachdrücklichem Eintreten für eine internationale regelbasierte Ordnung ließen sich die Werte und Interessen einer liberalen Gesellschaft am besten durchsetzen. Diese Einstellung ist nicht nur aufgrund der deutschen Geschichte nachvollziehbar, sondern wurde auch durch die Erfahrungen seit Anfang der 1990er Jahre gestützt: Kein anderes Land der Welt hat durch die Überwindung systemischer Unterschiede nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und durch die sich rasant ausbreitende Globalisierung so profitiert wie Deutschland, in Form von Wiedervereinigung, Verlust des Status eines Frontlinienstaates, Friedensdividende, Exporterfolgen auf immer größeren Märkten und Aufbau globaler Wertschöpfungsketten. Äußere Bedrohungen der Sicherheit schienen fern oder zumindest nicht existentiell zu sein.

Die deutsche Politik, Gesellschaft und Wirtschaft lernen wieder schmerzhaft zu begreifen, dass eine freiheitlich-liberale Demokratie nicht nur gegen innere Feinde wehrhaft sein muss, sondern auch gegenüber äußeren Bedrohungen, dass es nicht nur um den Schutz individueller Sicherheit, sondern auch um den eines Staats und seines Gesellschaftsmodells geht. Und sie müssen akzeptieren, dass diese Wehrhaftigkeit zusätzliche Kosten und das Eingehen von Risiken bedeutet. Die von Olaf Scholz am 27. Februar konstatierte Zeitenwende betrifft weniger die aktuellen Veränderungen in der Welt. Sie ist schon weitaus früher eingetreten. Historikerinnen und Historiker werden sich darüber streiten, ob und wenn ja, an welchem Ereignis sie sich festmachen lässt. Die wirkliche Zeitenwende der vergangenen Wochen betrifft die deutsche Außenpolitik. Die Entscheidung der Bundesregierung, Waffen an eine Kriegspartei in einem zwischenstaatlichen Konflikt zu liefern, nachdem sie zuvor selbst die Weitergabe bereits exportierter Waffen blockiert hatte, markiert eine tatsächliche Wende in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Auch wenn deutsche Waffenlieferungen in Krisengebiete keineswegs präzedenzlos sind. Das gleiche gilt für die Ankündigung, per Sondervermögen und Verteidigungsausgaben von mehr als 2% des BIP die Abschreckungs- und Schlagkraft der Bundeswehr deutlich zu erhöhen, nachdem sie sich lange Zeit selbst auf das 2%-Ziel nicht einlassen wollte. Doch obwohl diese Wende lange überfällig war, ist sie noch lange nicht abgesichert.

Unvermeidliche Wohlstandsverluste als Preis des freiheitlichen Gesellschaftsmodells

Im Gegenteil: Wenn die erste Aufwallung über den Überfall Russlands auf die Ukraine und die damit verbundenen hohen menschlichen Verluste abgeklungen sein wird, wird sich sehr schnell eine politische Kontroverse um die erhöhten Verteidigungsausgaben entspannen. Sind sie denn wirklich in dieser Höhe nötig? Provozieren sie nicht weitere Aufrüstung oder Ängste bei den europäischen Nachbarn? Sind denn das Einhalten der Schuldenbremse, Investitionen in Infrastruktur und Klimapolitik, Ausgaben für Sozial-, Bildungs- und Gesundheitspolitik nicht viel wichtiger? Der kürzlich erfolgte Appell „Demokratie und Sozialstaat bewahren – Keine Hochrüstung ins Grundgesetz!“ bietet einen ersten Vorgeschmack auf die Auseinandersetzungen, die folgen werden, wenn die Bilder vom Leiden der ukrainischen Bevölkerung nicht mehr die Medien dominieren.

Deshalb müssen die durch die eben genannten Fragen aufgeworfenen Zielkonflikte von jenen frühzeitig und offensiv aufgegriffen werden, die für eine Wende in der Außenpolitik eintreten. Letztendlich ist die Botschaft unvermeidlich, dass eine Erhöhung der äußeren Wehrhaftigkeit der deutschen Demokratie ohne Wohlstandsverluste in Form von verteuerter Energie, höherer Steuerlast, Staatsverschuldung oder Einschränkungen staatlicher Ausgabenprogramme kaum möglich sein wird. Und dass dies ein angemessener Preis für den Schutz eines freiheitlichen Gesellschaftsmodells ist – so wie Wohlstandsverluste ein unvermeidbarer Preis für die Bekämpfung der Pandemie waren und partieller Verzicht ein Preis der Abbremsung des Klimawandels sein wird. Dabei ist allerdings besonders heikel, dass die relativ starke internationale Position Deutschlands vor allem auf seiner wirtschaftlichen Leistungskraft beruht. Es ist also wichtig, eine Balance zwischen der Entfaltung wirtschaftlichen Drucks auf andere, vermehrte Ausgaben für größere Wehrhaftigkeit und Belastungen für Haushalte und Unternehmen zu finden.

Strategie und Struktur

Eine weitere Schwachstelle der Zeitenwende in der deutschen Außenpolitik ist, dass sie bisher nur mit überzeugenden Reden in der Bundestagsdebatte, aber noch nicht mit einer umfassenden Strategie unterlegt ist. Diese Schwachstelle verspricht die Nationale Sicherheitsstrategie bis Anfang nächsten Jahres zu beheben. Zu hoffen ist, dass sie nicht nur klug die Bedrohungen analysiert und das ganze Spektrum der Herausforderungen und Aufgaben entfaltet, sondern auch Prioritäten setzt, Risiken und Zielkonflikte benennt sowie die Stärken und Potentiale deutscher Außen- und Sicherheitspolitik herausarbeitet. Vor allem Letzteres ist vordringlich. Deutsche Außenpolitik hat eine Neigung, sich selbst klein zu reden und die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten zu unterschätzen. Mit einem rein defensiven Ansatz, der sich allein an der Abwehr von Gefahren orientiert, wird es schwer sein, der Bevölkerung die notwendige Zuversicht auf eine bessere Welt zu vermitteln. Sie ist wiederum Voraussetzung für die breite Unterstützung einer aktiveren deutschen Außenpolitik.

Des Weiteren muss sich die Zeitenwende deutscher Außenpolitik auch in Strukturen und Arbeitsweisen – vor allem in der Überwindung ihrer funktionalen Versäulung niederschlagen. Die Bundesregierung wird zurecht darauf verweisen, dass diese Versäulung in der akuten Krisenlage kein Problem war, weil sie u.a. durch enge Abstimmung und die Arbeit des Sicherheitskabinetts überwunden wurde. Das macht aber die Debatte um die Aufwertung des Bundessicherheitsrats nicht obsolet. Eine aktive, gestaltende deutsche Außenpolitik wird in den kommenden Jahren mit einer Fülle politikfeldübergreifender Aufgaben konfrontiert sein, die nicht immer auf Ministerebene im Sicherheitskabinett behandelt werden können. Ein gestärkter Bundessicherheitsrat müsste häufig und regelmäßig zusammenkommen, durch ein Sekretariat und strategische Vorausschau unterstützt sowie durch eine Staatsministerin oder einen Staatsminister im Kanzleramt geleitet werden.

Offenheit für alternative Zukünfte

Die Zeitenwende in der deutschen Außenpolitik bedarf weiterhin der Begründung und Vermittlung, der strategischen und materiellen Unterfütterung sowie struktureller und prozessualer Veränderungen. Sie bedarf aber auch immer wieder der kritischen Reflektion. Die Gefahr ist groß, dass nach Jahren der partiellen Realitätsverweigerung und der Fehlinterpretation von Handlungsmustern zentraler Akteure der internationalen Politik nunmehr alle Vorkommnisse in das Schema der Großmacht- und der systemischen Rivalität gepresst werden, gar eine neue Bipolarität zwischen der westlichen Welt und den sich um China und Russland scharenden autoritären Staaten heraufbeschworen wird.

Eine realistische deutsche Außenpolitik muss die Fähigkeit haben, in gewendeten Zeiten abweichende, zum Teil gegenläufige, meist subtile Entwicklungen zu erkennen und in alternativen Szenarien zu denken. So kann eine weitere rechtspopulistische Präsidentschaft in den USA die Festigkeit des transatlantischen Bündnisses tiefgreifend erschüttern und das Fundament der Wertegemeinschaft erodieren lassen. Ebenso könnten grundlegende und abrupte politische Veränderungen in China und Russland neue Optionen für globale Zusammenarbeit eröffnen oder den gewaltsamen Zerfall quasi-imperialer Mächte bedeuten. Nachdem deutsche Außenpolitik zu lange einem zentralen Paradigma verhaftet war – das „Ende der Geschichte“ sei nah –, sollte sie sich nach der Zeitenwende von Ende Februar nicht vorschnell auf ein neues – der Wiederauflage einer Blockkonfrontation – einlassen. Stattdessen gilt es, sich die Offenheit für alternative Zukünfte zu bewahren, entsprechende Indizien frühzeitig zu erkennen und vor allem die Fähigkeit Europas zu erhöhen, in unterschiedlichen Kontexten strategisch souverän zu handeln.

 


SUGGESTED CITATION  Mair, Stefan: Die Nationale Sicherheitsstrategie im Zeichen der außenpolitischen Zeitenwende: Prioritäten, Risiken, Potentiale, VerfBlog, 2022/3/30, https://verfassungsblog.de/die-nationale-sicherheitsstrategie-im-zeichen-der-ausenpolitischen-zeitenwende/, DOI: 10.17176/20220330-131209-0.

One Comment

  1. Prof. Dr. Gerd Grözinger Thu 31 Mar 2022 at 18:02 - Reply

    In dem Beitrag wird zwar die Intervention im Kosovo 1999 “ohne völkerrechtlich abgesichertes Mandat” benannt, aber nur um die Ehrenhaftigkeit des westlichen Vorgehens im Vergleich zum russischen hervorzuheben. Gab es da nicht noch etwas anderes, heute gerne Unterschlagenes mit genauso unsinniger Begründung wie jetzt beim Einmarsch in der Ukraine? Nämlich 2003 die Irak-Invasion durch eine von den USA angeführten ‘Koalition der Willigen’, aufgrund angeblich völlig sicherer Hinweise auf später dann wundersamerweise verschwundener Massenvernichtungswaffen. Für u.a. den damaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan galt dabei: “Nach unserer Auffassung sowie gemäß der Uno-Charta war dieser Krieg illegal.” (Der Spiegel, 16.9.2004). Und auch das vom Autor unterstellte westliche Vorgehen “zivile Opfer zu vermeiden”, ist bei der Analyse der Mortalität nach der Invasion des Iraks nicht glaubhaft: “Nach einer Studie US-amerikanischer Epidemiologen, die im Lancet (2006; online 11. Oktober) veröffentlicht wurde, könnten zwischen März 2003 und Juli 2006 etwa 650 000 Menschen (oder 2,5 Prozent der Bevölkerung) mehr gestorben sein, als aufgrund der Vorkriegszahlen zu erwarten war.” (Dtsch Arztebl 2006; 103(42): A-2749 / B-2389 / C-2301).

    (die ursprüngliche Version dieses Kommentars enthielt ein falsches Datum, das wurde korrigiert, d.Red.)

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