Die Qual der Wahlprüfung
Es lohnt sich, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Teilwahlwiederholung in Berlin genauer anzuschauen. Nicht nur, weil sie deutliche Absetzbewegungen zur Entscheidung des VerfGH Berlin aufweist, sondern auch weil sie im Hinblick auf Wahlfehler und Mandatsrelevanz einige spannende rechtsdogmatische Fragen aufwirft und in einigen Teilen widersprüchlich und nicht überzeugend ist. Für den Gesetzgeber ergeben sich aus den Urteilsgründen Ansätze für gesetzliche Normierungen von Wahlprüfungsregelungen.
Absetzbewegung von der Entscheidung des VerfGH Berlin
Das BVerfG distanziert sich in drei zentralen Punkten von der Entscheidung des VerfGH Berlin zur vollständigen Wiederholungswahl des Abgeordnetenhauses.
Die erste Distanzierung liegt in der Beurteilung der Frage, was ein Wahlfehler ist. Anders als der LVerfGH Berlin formuliert das BVerfG im Leitzsatz 2.b): „Die Stimmabgabe nach Ende der Wahlzeit gemäß § 60 Satz 2 BWahlO stellt keinen Wahlfehler dar. Dies schließt nicht aus, dass dem Überschreiten des Endes der Wahlzeit indizielle Wirkung hinsichtlich des Vorliegens sonstiger Wahlfehler zukommen kann.“ Noch expliziter findet die Abgrenzung von der Auffassung des LVerfGH, im Zweifel liege ein Wahlfehler vor („Spitze des Eisbergs), in der Randnummer 192 statt: „Verbleiben Unklarheiten, ob es überhaupt zu relevanten Unterbrechungen des Wahlgeschehens gekommen ist, kann ein Wahlfehler nicht festgestellt werden.“ Das Gericht konkretisiert das in Randnummer 279: „Dabei lässt die Beschwerdeführerin außer Betracht, dass in Fällen, in denen nicht aufklärbar ist, ob ein Wahlfehler vorliegt, die Wahlprüfungsbeschwerde ohne Erfolg zu bleiben hat (…). Bloße Vermutungen und rein spekulative Annahmen reichen nicht aus (…).“
Die zweite Distanzierung bezieht sich auf die Frage der Mandatsrelevanz. Im Leitsatz 3 bricht das BVerfG mit der Theorie der „Spitze des Eisbergs“ und entschied: „Unabhängig von der Schwere des Wahlfehlers ist Mandatsrelevanz nur gegeben, wenn sich eine Auswirkung des Wahlfehlers auf die Sitzverteilung als eine nach der allgemeinen Lebenserfahrung konkrete und nicht ganz fernliegende Möglichkeit darstellt. Hierbei ist das potentielle Wahlverhalten zwar nicht im Sinne einer exakten Übertragung des Wahlergebnisses, wohl aber im Sinne einer groben Orientierung zu berücksichtigen.“ Offensichtlich wird, dass das BVerfG die These des LVerfGH nicht teilt, wenn es in Randnummer 236 formuliert: „Der (…) abweichenden Auffassung der Beschwerdeführerin, wonach ‚die Anforderungen an die Feststellung einer möglichen Beeinflussung der Sitzverteilung desto geringer sind, je schwerwiegender die Wahlfehler das Demokratieprinzip beeinträchtigen‘ (…), ist nicht zu folgen. Dem steht bereits entgegen, dass eine solche Absenkung der Anforderungen bei besonders schwerwiegenden Wahlfehlern letztlich zu einem Heranziehen von bloßen Vermutungen und damit zu einer weitgehenden Aufweichung des Grundsatzes der potentiellen Kausalität führen würde (…).“ Im Hinblick auf die die potentielle Kausalität bei der Mandatsrelevanz wird die Sichtweise des LVerfGH abgelehnt. In Randnummer 244 heißt es: „Die Argumentation des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin vermag nicht zu überzeugen. Es entspricht nicht der Lebenswirklichkeit anzunehmen, dass die Stimmen aller Wählerinnen und Wähler, die aufgrund von nicht parteibezogenen Wahlfehlern an einer Wahl nicht oder nicht unbeeinflusst teilgenommen haben, nur auf eine Partei entfallen wären. (…) Bei der Prüfung, ob nach der allgemeinen Lebenserfahrung die konkrete Möglichkeit einer Beeinflussung der Mandatsverteilung durch den festgestellten Wahlfehler besteht, ist daher das potentielle Wahlverhalten zwar nicht im Sinne einer exakten Übertragung der Wahlergebnisse, wohl aber im Sinne einer groben Orientierung zu berücksichtigen.“
Die dritte Differenz besteht im Rollenverständnis des Wahlprüfungsverfahrens. Auch hier ist eine Absetzbewegung vom LVerfGH zu erkennen, wenn es in Randnummer 280 heißt: „Demgegenüber kann auch nicht darauf abgestellt werden, dass die Nichterweislichkeit des konkreten Umfangs der Wahlfehler aus der Sphäre der staatlichen Wahlorganisation stamme und allzu hohe Anforderungen an den Nachweis von konkreten Wahlfehlern Anreize dafür schüfen, unzureichende Wahldokumentationen zu erstellen und auf Anfragen keine Auskünfte zu erteilen. Diese Auffassung verkennt die Aufgabe des Wahlprüfungsverfahrens. Dessen Funktion besteht nicht darin, etwaige Mängel bei der Vorbereitung und Durchführung einer Wahl und damit ein etwaiges Organisationsverschulden der zuständigen Behörden zu sanktionieren. Vielmehr ist es darauf gerichtet, die ordnungsgemäße, der Legitimationsfunktion der Wahl genügende Zusammensetzung des Parlaments zu gewährleisten. Dafür ist die Frage der Verantwortlichkeit für Organisationsmängel ohne Belang.“ Zuvor hatte das BVerfG in Randnummer 237 bereits klargestellt: „Auch ein schwerwiegender Wahlfehler, der sich auf die Zusammensetzung des Parlaments nicht ausgewirkt hat, rechtfertigt den Erfolg der Wahlprüfungsbeschwerde hinsichtlich der Gültigkeit der Wahl nicht. In einem solchen Fall kommt allenfalls die Feststellung einer subjektiven Wahlrechtsverletzung in Betracht.“
Rechtsdogmatisches
Mit der Entscheidung hat das BVerfG eine dogmatische Klarstellung im Hinblick auf Wahlfehler und Mandatsrelevanz vorgenommen. Zuvor wird jedoch der Grundsatz der Gleichheit der Wahl hinsichtlich der Stimmabgabe präzisiert (Rdn. 138): „Für die Wahlhandlung am Wahltag bedeutet der Grundsatz der Gleichheit der Wahl, dass alle Wahlberechtigten die Möglichkeiten haben müssen, ihre Stimme unter im Wesentlichen gleichen Bedingungen abzugeben. Dies schließt die Vergleichbarkeit der Umstände ein, die vor Ort für die Stimmabgabe geschaffen werden, sei es in zeitlicher oder räumlicher Hinsicht.“
Mit den Ausführungen in Randnummer 141 nimmt das BVerfG eine Legaldefinition von Wahlfehler vor: „Ein Wahlfehler liegt immer dann vor, wenn die Regelungen des Bundeswahlgesetzes und der Bundeswahlordnung (…) und die diese prägenden Wahlgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt sind. Daneben können Verstöße gegen sonstige Vorschriften einen Wahlfehler begründen, soweit sie mit einer Wahl in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen. Relevant sind alle Normwidrigkeiten, die den vom Gesetz vorausgesetzten regelmäßigen Ablauf des Wahlverfahrens zu stören geeignet sind. Diese können während der Wahlvorbereitung (…), der Wahlhandlung (…) und bei der Feststellung des Wahlergebnisses auftreten.“ Gleichzeitig wird klargestellt (Rdn. 146), dass die „Optimierungsaufgabe, jenseits des positiven Rechts alle rechtmäßigen Maßnahmen zu ergreifen, die erforderlich sind, um einen möglichst reibungslosen Ablauf der Wahl zu gewährleisten, (…) als solche nicht sanktionsfähig“ ist.
Neben der Aufzählung von Wahlfehler (Rdn. 160, 161 und 164) wird klargestellt, dass eine Wartezeit vor Abgabe der Stimme (Rdn. 163) keinen Wahlfehler darstellt, jedenfalls grundsätzlich. Wenn „jedoch aufgrund unzureichender Planung und Vorbereitung, (…) erhebliche Wartezeiten auftreten und der Dauer nach zunehmen, kann dies zur Folge haben, dass Wahlberechtigte das Warten auf die Abgabe der Stimme abbrechen oder gar nicht erst zur Wahl erscheinen. In diesem Fall liegt zwar in der Wartezeit als solcher kein Wahlfehler, wohl aber in den Maßnahmen oder Unterlassungen, die die Wartezeit verursacht und in der Folge die Stimmabgabe vereitelt haben. Wird die Stimme in einem solchen Fall trotz langer Wartezeit innerhalb der Wahlzeit abgegeben, liegt in der fehlerhaften Vorbereitung dennoch ein Wahlfehler, dem allerdings keine Mandatsrelevanz zukommt.“
Ergänzend zu den bereits zitierten Entscheidungsgründen zur Mandatsrelevanz ist für eine dogmatische Einordnung relevant, dass zunächst bekräftigt wird (Rdn. 235), dass ein Wahlfehler allein dann Auswirkungen auf die Gültigkeit der Wahl haben kann, wenn er mandatsrelevant ist und ein Wahlfehler nur dann mandatsrelevant ist, wenn er Einfluss auf die Verteilung der Sitze im Parlament haben kann. „Demgemäß muss es sich bei der Auswirkung des Wahlfehlers auf die Sitzverteilung um eine nach der allgemeinen Lebenserfahrung konkrete und nicht ganz fernliegende Möglichkeit handeln.“
Teilweise widersprüchlich und nicht überzeugend
Wenig überzeugend ist, dass mit dem Leitsatz 5 die Wiederholungswahl als Zweitstimmenwahl festgelegt wird. Das BVerfG weist selbst darauf hin, dass das „Gebot des geringstmöglichen Eingriffs“ (vgl. Rdn. 253) gilt und eine Wahlwiederholung einen Wahlfehler mit Mandatsrelevanz erfordert. Wenn nun aber die Mandatsrelevanz bei den Erststimmen lediglich für die WK 76 und 77 anerkannt (Rdn. 249) wird, in den benannten Wahlbezirken aber eine Zweistimmenwahl stattfindet, ist das nur schwer in Übereinstimmung zu bringen. Das BVerfG widerspricht sich insofern selbst, denn in Randnummer 257 heißt es „Ist eine Wahlwiederholung unumgänglich, so darf diese nur dort stattfinden, wo sich der Wahlfehler ausgewirkt hat, also in dem hiervon betroffenen Stimmbezirk, Wahlkreis oder Land.“
Zur Begründung der Zweistimmenwiederholungswahl verweist das Gericht (Rdn. 283) auf die Argumentation des Bundestages, wonach gemäß § 44 BWahlG die Wiederholungswahl nach denselben Vorschriften durchzuführen ist, wie die Hauptwahl. § 44 BWahlG habe „nicht die Unterscheidung zwischen Erst- und Zweitstimme zum Gegenstand, sondern ist mit Blick auf den gebotenen Bestandsschutz der gewählten Volksvertretung auf die räumliche Begrenzung der Wiederholungswahl gerichtet.“ (Rdn. 287) Das ist nicht überzeugend. Weder bringt das Gericht die juristischen Auslegungsmethoden zur Anwendung, noch geht es auf den Punkt ein, dass eine Wiederholungswahl nur dann stattfinden kann, wenn ein Wahlfehler mit Mandatsrelevanz vorliegt. Nur dort, wo nach diesen Maßstäben eine Wiederholungswahl stattfindet, ist das gleiche Wahlrecht anzuwenden.
Das größte Manko der Entscheidung dürfte aber darin liegen, dass die Abwägung von Bestands- und Korrekturinteresse rein technisch stattfindet, jedoch auf eine Würdigung des vorhandenen Zeitablaufes und der komplett veränderten politischen Rahmenbedingungen verzichtet wird. Die Ungültigerklärung einer Wahl kommt nach Ansicht des BVerfG (Rdn. 252) dann in Betracht, „wenn das Interesse an der Korrektur der mandatsrelevanten Wahlfehler im konkreten Fall nach Art und Ausmaß das Interesse am Bestand des gewählten Parlaments überwiegt.“ Das BVerfG sieht die mit einer Teilwiederholungswahl verbundenen Probleme wie den Wegzug von Wählenden. Die diesbezüglich angestellten Überlegungen sind auch nachvollziehbar. Mit keiner Silbe setzt sich das BVerfG aber bei der vorzunehmenden Abwägung mit der Tatsache auseinander, dass die Wahlperiode des Bundestages bereits weit fortgeschritten ist: Zum Zeitpunkt der Teilwiederholungswahl wird fast die Hälfte der Wahlperiode vorbei sein und die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingen haben sich grundlegend gewandelt. Die Bundestagswahl fand unter Corona-Schutzmaßnahmen statt. Corona ist zwar nicht vorbei, von Schutzmaßnahmen ist aber weit und breit nichts zu sehen. Zwischen der Bundestagswahl und der Teilwiederholungswahl lagen politischen Entscheidungen wie das Gebäudeenergiegesetz und grundlegende Veränderungen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wie der Ukraine-Krieg, das Massaker der Hamas und die darauffolgenden Auseinandersetzungen im Gaza-Streifen mit Zehntausenden toten Zivilisten*innen. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf das Wahlverhalten. Hinzu kommt, dass es die Fraktion DIE LINKE im Bundestag nicht mehr gibt, sie ist in ein Grüppchen (BSW) und eine Gruppe (Linke) zerfallen. Zwei der von der LINKEN aufgestellte Direktkandidierende haben die Partei verlassen. In einer Entscheidung, bezogen auf die Wiederholungswahl zur Bezirksverordnetenversammlung, hat der VerfGH Berlin im Oktober 2023 unter Verweis auf Boehl (Rdn. 22) vom Rekonstruktionsprinzip gesprochen. Dieses besagt, dass die Wiederholungswahl nach dem Willen des Gesetzgebers „so nah wie möglich“ an der zu korrigierenden Hauptwahl bleiben soll. Das Rekonstruktionsprinzip wird auch im Minderheitenvotum (Rdn. 47) anerkannt. Es ist nicht nachvollziehbar, warum das BVerfG die hier aufgeworfenen Fragen und die Beachtung des Rekonstruktionsprinzips nicht in die Abwägung zwischen Korrektur- und Bestandsinteresse einbezogen hat. Es bleibt spekulativ, wie eine solche Abwägung ausgegangen wäre, die Abwägungsgründe wären aber vermutlich über den Einzelfall hinaus von Bedeutung gewesen.
Es fällt zudem auf, dass der Zweite Senat, unmittelbar nachdem er im Urteil vom 29. November 2023 Anforderungen an die Normenklarheit und Bestimmtheit in Wahlgesetzen gefällt hat, in seinem Tenor gerade nicht einfach und klar darlegt, in welchen 455 Wahlkreisen die Teilwiederholungswahl durchzuführen ist. Zur genauen Benennung der Wahlbezirke, in denen eine Wiederholungswahl stattfindet, ist neben dem Tenor auch der Beschluss des Wahlprüfungsausschusses des BT und die Randnummer 276 heranzuziehen. Die Tatsache, dass die vom Bundestag ausgesprochene Ungültigkeit der Wahlwiederholung mit der Randnummer 276 für einige wenige Wahllokale aufgehoben wird, dürfte der Klarheit der Entscheidung nicht dienlich sein.
Fazit
Für den Gesetzgeber dürfte sich mit dieser Entscheidung konkreter Novellierungsbedarf ergeben. Dies betrifft die Normierung von Wahlfehlern und der Mandatsrelevanz. Er wäre aber auch klug beraten, materielle Kriterien für die Abwägung zwischen Bestands- und Korrekturinteresse zu entwickeln.