Die stabilisierende Wirkung politischen Wettbewerbs
Warum parlamentarische Mehrheiten Minderheitenrechte kaum fundamental beschneiden und teils sogar ausbauen
Entscheidungen von politischen Akteuren „in eigener Sache“ werden in Öffentlichkeit und Wissenschaft zu Recht kritisch betrachtet. Führen diese nicht zwangsläufig dazu, dass politische Partien eigene Interessen verfolgen und damit Gemeinwohlüberlegungen auf der Strecke bleiben? Diese Frage stellt sich besonders bei Themen wie der Parteienfinanzierung, in denen Parteien gemeinsame Interessen haben und diese im Sinne einer Kartelllogik auf Kosten der Gesamtgesellschaft durchsetzen können. Ohne die Relevanz dieser Problematik abzustreiten, argumentiert dieser Beitrag, dass Entscheidungen in eigener Sache weniger problematisch sein können, wenn sie dem politischen Wettbewerb unterworfen sind. Das ist regelmäßig der Fall bei Entscheidungen, die manchen Parteien nutzen, anderen hingegen schaden. Unter diesen Umständen kann der politische Wettbewerb zwischen eigeninteressierten Akteuren zu einem dynamischen Gleichgewicht führen, in dem eine normativ wünschenswerte Beschränkung der aktuellen Mehrheit erhalten bleibt, selbst wenn die Mehrheit theoretisch in der Lage wäre, Grundzüge des politischen Systems eigenmächtig zu verändern.
Der Beitrag illustrierte diese Logik am Fall parlamentarischer Geschäftsordnungsreformen, die Minderheitenrechte im Parlament verändern. In wenigen Bereichen treffen Parlamentarier so direkt „Entscheidungen in eigener Sache“. Auch wenn Leitlinien parlamentarischer Regeln häufig verfassungsrechtlich geregelt und damit dem Zugriff einer einfachen Mehrheit entzogen sind, konkretisieren und gestalten Geschäftsordnungen wichtige Details innerparlamentarischer Prozeduren. Meist kann eine einfache parlamentarische Mehrheit diese Geschäftsordnungen verändern – in westeuropäischen Parlamenten kennt nur der Österreichische Nationalrat ein Zweidrittelerfordernis zur Änderung der Geschäftsordnung. Eine einfache Mehrheit kann etwa die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (GOBT) ändern – und tut dies regelmäßig. Seit Inkrafttreten der ersten dauerhaften Geschäftsordnung des Bundestages am 1. Januar 1952 verzeichnet das Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages zu 65 Zeitpunkten Geschäftsordnungsänderungen. Viele dieser Reformen betreffen zentrale Aspekte der Machtverteilung zwischen Mehrheit und Minderheit wie die Redeordnung (Änderungen 1969, 1978, 1980), die Aktuelle Stunde (1965, 1980, 1990), die Fragestunde (z.B. 1960, 1969, 1980, 1995, 2019), die Mindestgröße von Fraktionen (1969), die Öffentlichkeit von Ausschusssitzungen (1969, 1995) oder die Rechte des Bundestages im Kontext EU (1995, 2008, 2010).
Parlamentarische Geschäftsordnungsregeln wie die genannten haben wichtige Auswirkungen auf den politischen Wettbewerb im Parlament und speziell die Fähigkeiten von Minderheiten, den parlamentarischen Prozess zu beeinflussen und ihren Anliegen Gehör zu verschaffen. Geschäftsordnungsfragen sind deshalb immer auch Machtfragen. Entsprechend haben parlamentarische Akteure starke Anreize, Geschäftsordnungen so zu gestalten und ggf. zu verändern, dass sie ihnen beim Verfolgen ihrer politischen Ziele nutzen.
Gleichzeitig muss gerade die Mehrheit darauf achten, den Bogen nicht zu überspannen: Parlamentarische Minderheitenrechte gelten aus guten Gründen als zentraler Bestandteil eines demokratischen Parlamentarismus, da sie verschiedenen politischen Positionen eine öffentliche Bühne bieten und so einen fairen politischen Wettbewerb zwischen Wahlen erst ermöglichen. Nur durch die garantierte Mitwirkung der Opposition kann ein Parlament zum einer politischen Arena der Nation, also einem zentralen Ort der politischen Auseinandersetzung und Debatte werden. Versuche, die Mitwirkungsrechte der Opposition im Parlament zu beschneiden, werden daher öffentlich oft scharf kritisiert und können zu negativen Reaktionen in der Wählerschaft führen.
Wie lassen sich Geschäftsordnungsreformen theoretisch erklären?
Politikwissenschaftliche Forschung hat sich in den letzten Jahren vermehrt mit diesem Spannungsverhältnis beschäftigt. Der Fokus dieses Beitrags liegt auf der Frage, in welchem Ausmaß und unter welchen Bedingungen parlamentarische Mehrheiten die Rechte der Minderheit mittels Geschäftsordnungsänderungen beschneiden, inwieweit also diese „Entscheidungen in eigener Sache“ die Machtverhältnisse zwischen Regierungsmehrheit und Opposition verschieben. Das Ziel der Untersuchung ist zunächst ein empirisches – es geht darum, das Ausmaß und die Ursachen derartiger Verschiebungen zu erfassen. Auf dieser Basis wird anschließend die normative Frage diskutiert, inwieweit daraus ein Problem für den demokratischen Parlamentarismus erwächst.
Der Großteil der politikwissenschaftlichen Forschung geht davon aus, dass parlamentarische Akteure mit solchen institutionellen Veränderungen grundsätzlich versuchen, ihre Eigeninteressen durchzusetzen, dabei aber von Reformkosten sowie höherrangigen rechtlichen Regelungen wie beispielsweise Verfassungsvorgaben (sogenannten Institutionen zweiter Ordnung) beschränkt werden. Bei Reformen kann grundsätzlich unterschieden werden zwischen Änderungen, die im Interesse aller mitentscheidenden Akteure sind (ein klassisches Beispiel wäre eine Erhöhung der Parteienfinanzierung für alle im Parlament vertretenen Parteien), und distributiven Änderungen, die einzelne Akteure auf Kosten anderer besserstellen (klassisch z.B. die Beschränkung von Minderheitenrechten zugunsten der Mehrheit). Die Debatte um Entscheidungen in eigener Sache behandelt meist den ersten Typus. Der Fokus dieses Beitrags liegt hingegen auf dem zweiten, es geht also um Reformen, in denen parlamentarische Akteure unterschiedliche Ziele verfolgen.
Ein Erklärungsmodell für solche distributiven Reformen von Minderheitenrechten konzipiert die aktuelle parlamentarische Mehrheit (also i.d.R. die die Regierung tragenden Fraktionen) als Initiator von Reformen (Details des Modells werden beschrieben in Sieberer und Müller 2015 sowie Sieberer et al. 2020). Diese Mehrheit hat Anreize, Minderheitenrechte zu schwächen, wenn diese sie bei der Umsetzung ihrer inhaltlichen Ziele behindern (z.B. durch Obstruktionsmöglichkeiten und lange Verfahren). Gleichzeitig sind solche Reformen mit Kosten verbunden, vor allem wenn die institutionellen Befugnisse der parlamentarischen Minderheit bereits relativ schwach sind und die Minderheit Reformversuche als Anschlag auf grundlegende demokratische Prinzipien brandmarken kann. Unter diesen Umständen sollte die Mehrheit aus Furcht vor negativen öffentlichen (und letztlich elektoralen) Reaktionen auf eine weitergehende Beschränkung von Minderheitenrechten eher verzichten. Ebenso sollten derartige Reformen unwahrscheinlicher werden, wenn für eine Geschäftsordnungsänderung die Zustimmung von Oppositionsfraktionen erforderlich ist, entweder aufgrund von qualifizierten Mehrheitserfordernissen oder von Minderheitsregierungen. Oppositionsparteien haben in der Regel wenig Anreize, ihre eigenen Befugnisse zu beschränken, es sei denn, sie gehen davon aus, in naher Zukunft selbst auf die Regierungsbank zu wechseln.
Die letztgenannten Aspekte bieten auch eine Erklärung, warum die parlamentarische Mehrheit Minderheitenrechte gelegentlich ausbaut, sich also kurzfristig selbst schadet. Theoretisch sollte dies unter zwei Bedingungen erfolgen: Entweder fürchtet die aktuelle Mehrheit einen Machtverlust und versucht, ihre Position als künftige Oppositionspartei zu stärken. Oder sie sieht sich mit starken öffentlichen Forderungen nach einem Ausbau von Minderheitenrechten konfrontiert und fürchtet Wahlverluste, wenn sie diesen Forderungen nicht nachkommt.
Empirisch bewährt sich dieses Erklärungsmodell gut. Die aktuell umfassendste empirische Studie zum Thema untersucht alle Geschäftsordnungsänderungen in dreizehn westeuropäischen Demokratien im Zeitraum 1945 bis 2010 und analysiert, unter welchen Bedingungen Minderheitenrechte beschränkt werden (Sieberer et al. 2020). Statistische Analysen zeigen, dass Beschränkungen eher erfolgen, wenn der inhaltliche Konflikt zwischen Regierung und Opposition wächst und wenn die Regierung weiterreichende sachpolitische Änderungen verfolgt – beides Bedingungen, unter denen starke Minderheitenrechte die Umsetzung von Regierungszielen erschweren oder gar verhindern könnten. Je stärker Minderheitenrechte ausgeprägt sind, desto stärker sind diese Effekte – Regierungen beschneiden die Minderheit also nur, wenn dies aus ihrer Sicht notwendig ist. Zudem werden Minderheitenrechte eher von Regierungen eingeschränkt, die alleine die für Geschäftsordnungsreformen erforderliche Mehrheit im Parlament kontrollieren. Auch qualitative Evidenz aus Fallstudien zu Geschäftsordnungsreformen in Österreich und den USA zeigen, dass einzelne Minderheitenrechte gezielt als Reaktion auf oppositionelle Obstruktion eingeschränkt wurden (Sieberer und Müller 2015; Binder 1997; Wawro und Schickler 2006).
Zum Ausbau von Minderheitenrechten gibt es aktuell keine vergleichbare quantitative Studie. Gleichwohl deuten qualitative Beispiele darauf hin, dass Akteurserwartungen bezüglich künftiger Regierungsbeteiligung sowie die öffentliche Meinung relevante Erklärungsfaktoren sind. Im deutschen Bundestag und im österreichischen Nationalrat wurden 1969 bzw. 1975 die Rechte parlamentarischer Minderheiten signifikant ausgebaut (Thaysen 1972; Fischer 1975). Beide Reformen fanden statt in Zeiten, in denen künftige Regierungskonstellationen schwer vorhersehbar waren. Der Gang in die Opposition erschien aktuellen Regierungsparteien als ein realistisches Szenario, für das mit einer Stärkung von Oppositionsrechten vorgebaut wurde. Auch für die Bedeutung der öffentlichen Meinung gibt es Beispiele. Ein Grund für den Ausbau von Minderheitenrechten in Österreich 1975 war die Sorge der allein regierenden SPÖ, in der Öffentlichkeit als allzu machtgierig zu erscheinen, da sie neben der Regierung auch noch den Staatspräsidenten und den Präsidenten des Nationalrats stellte (Sieberer und Müller 2015). Ein jüngeres Beispiel kommt aus dem Deutschen Bundestag: In der 18 Wahlperiode (2013-2017) wurden verschiedene Zugangshürden zu Minderheitenrechten in der GOBT abgesenkt, da selbst alle Oppositionsparteien gemeinsam das bisherige Quorum von 25 Prozent der Mitglieder des Bundestages nicht erreichen konnten. Durch die temporäre Reduzierung auf 120 Mitglieder behielt die Opposition (wenn sie in der Lage war, koordiniert zu handeln) u.a. die Möglichkeit, Untersuchungsausschüsse und Enquete-Kommissionen einzurichten, öffentliche Ausschussanhörungen herbeizuführen, den Bundestag einberufen zu lassen oder eine Subsidiaritätsklage vor dem Europäischen Gerichtshof anzustrengen (§126a GOBT idF vom 23.04.2023, BGBl I S. 534). Auch hier wollte eine offensichtlich dominante Große Koalition den Eindruck vermeiden, zentrale demokratische Prinzipien zu unterlaufen.
Wettbewerb gibt Anlass zur Gelassenheit
Das theoretische Argument und die angeführte empirische Evidenz deuten also darauf hin, dass sich die Reform von parlamentarischen Minderheitenrechten gut mit einem wettbewerbsorientierten Modell erklären lassen. Diese Erklärung mag auf manche Leserinnen und Leser irritierend, wenn nicht gar verstörend wirken. Sie wird nicht von hehren Idealen eines angemessenen Minderheitenschutzes in der Demokratie oder der Verwirklichung allgemeiner Verfassungsprinzipien getrieben, sondern schlicht vom Eigeninteresse der aktuellen Mehrheit. Dennoch führt dieses Eigeninteresse nicht etwa zu einer fortwährenden Aushöhlung von Minderheitenrechten, sondern zu einem sich selbst stabilisierenden, wenn auch flexiblen Gleichgewicht zwischen parlamentarischer Mehrheit und Minderheit. Der Grund dafür liegt in der Erwartung von Regierungswechseln und der Wahl als demokratischem Sanktionsmechanismus. Der aktuellen Regierungsmehrheit ist bewusst, dass sie sich mit einer massiven Einschränkung von Minderheitenrechten langfristig selbst schadet, weil die Wählerschaft eine handlungsfähige parlamentarische Opposition als demokratischen Wert an sich betrachtet und eine übergriffige Mehrheit elektoral abstraft. Dieser Effekt ist umso stärker, je schwächer die bestehenden Minderheitenrechte sind, während Forderungen nach einer Stärkung der Mehrheit eher öffentliche Akzeptanz finden, wenn starke Minderheitenrechte tatsächlich demokratisch fragwürdige Obstruktion ermöglichen.
Insofern führt der demokratische Wettbewerb zwischen eigeninteressierten Parteien zu einem dynamischen Gleichgewicht zwischen Mehrheit und Minderheit. Grundbedingung für dieses Gleichgewicht ist allerdings, dass der überwiegende Teil der Wählerschaft demokratische Grundprinzipien wie den Minderheitenschutz durch ihr Wahlverhalten aktiv gegen mögliche Übergriffe von Seiten der Regierungsmehrheit verteidigt. Angesichts steigender Polarisierung und einer größeren Verbreitung antidemokratischer Einstellungen erscheint dies in einigen etablierten Demokratien heute nicht mehr so selbstverständlich wie noch vor zwanzig Jahren. Selbst in EU-Staaten – allen voran Ungarn – ist eine höchst bedenkliche Aushöhlung demokratischer Grundnormen im Parlament und im politischen System generell zu beobachten, ohne dass die Regierung ernsthafte elektorale Sanktionen fürchten müsste. Gleichzeitig mag es positiv stimmen, dass in den USA das sehr starke (und aus demokratischen Gesichtspunkten nicht unproblematische) Minderheitenrecht des Filibusters im Senat trotz historisch hoher Polarisierungswerte in seinem Kern bis heute Bestand hat und zu einer deutlichen Beschränkung der Regierung führt.
Zumindest bei distributiven Reformen in eigener Sache ist also eine gewisse Gelassenheit angesagt: Ja, parlamentarische Akteure entscheiden selbst über Regeln, denen sie künftig unterworfen sind, und können diese zu ihren Gunsten verändern. Solange diese Akteure aber miteinander im Wettbewerb stehen und unterschiedliche Ziele verfolgen, haben sie ein starkes Interesse, einander zu kontrollieren und institutionelle Reformen im Konfliktfall zu einem Wahlkampfthema zu machen. Damit liegt der Ball am Ende doch wieder im Feld der Wählerinnen und Wähler und damit letztlich beim demokratisch legitimierten Souverän. Im Wissen darum finden sich zumindest in stabilen Demokratien kaum parlamentarische Geschäftsordnungsänderungen, die zu einer ernsthaften Gefahr demokratischer Prozesse werden.