25 March 2020

Die verfassungs­rechtlichen Gefahren des social distancing im Bayerischen Landtag

Das Coronavirus hat ganz Deutschland im Griff, und social distancing (eigentlich besser physical distancing) ist das Gebot der Stunde. Dem folgen auch die Parlamente in Bund und Ländern und tagen in erheblich verkleinerter Besetzung. In Bayern etwa haben sich die Fraktionen auf Anregung der Landtagspräsidentin darauf geeinigt, gleichzeitig mit dem öffentlichen Leben auch den Parlamentarismus deutlich herunterzufahren. Dafür gibt es durchaus gute Gründe: Zum einen wollen sie mit gutem Beispiel vorangehen. Zum anderen mag es auch eine Rolle spielen, dass ein beträchtlicher Anteil der Abgeordneten selbst in die Risikogruppe fällt. Das liegt gar nicht so sehr an deren durchschnittlichem Alter oder Lebensstil; vielmehr brachte es die Tätigkeit bis vor kurzem mit sich, extrem häufig öffentliche Termine wahrzunehmen und dabei auch möglichst viele Hände zu schütteln. Besonders groß ist diese Gefahr in Bayern, wo am 15. März Kommunalwahlen stattfanden und Wahlkampfhilfe durch bekannte Gesichter aus Bundes- und Landtag gern gesehen war. Welche hygienischen Fallen bei der Gelegenheit z.B. im gängigen Setting „Bierhalle“ lauerten (quasi das Townhall-Format des Freistaats, nur frontaler), lässt sich nicht erst seit den Geschehnissen in Mitterteich erahnen.

Prinzipiell ist es also eine gute Idee, wenn nun auch in Plenarsitzungen der langsam in Fleisch und Blut übergehende Abstand von mindestens 1,5 Metern eingehalten wird. Problem dabei: Dies erfordert, dass bewusst Sitze freigehalten werden, d.h. es ist zwingend erforderlich, dass weit weniger Abgeordnete als vorgesehen zu den Sitzungen erscheinen und sich am Gesetzgebungsverfahren beteiligen (im Bayerischen Landtag soll es nur ein Fünftel sein).

Das wiederum ist kein neues Phänomen. Wenn eine zwischen den Fraktionen völlig unumstrittene Vorlage beschlossen werden soll, hat sich die Lust der Abgeordneten, zu diesem Zweck Zeit im Plenarsaal zu verbringen, schon immer in stark überschaubaren Grenzen gehalten. Dementsprechend hat sich die Praxis etabliert, dass hauptsächlich die Mitglieder der federführenden Ausschüsse anwesend sind und ihre Stimmen ohne namentliche Erfassung gezählt werden.

Auf Bundesebene ist das deshalb möglich, weil das Grundgesetz selbst zur Beschlussfähigkeit keine Aussage trifft und die nach Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG erlassene Geschäftsordnung des Bundestages insoweit ein – bewusstes – Schlupfloch lässt: Der einschlägige § 45 stellt in Abs. 1 den Grundsatz auf, dass mehr als die Hälfte der Mitglieder anwesend sein muss; nach Abs. 2 wird dies aber unterstellt, solange nicht eine Fraktion oder mehr als 5% der Bundestagsmitglieder es anzweifeln.

Diesen Mechanismus hat die AfD in der laufenden Legislaturperiode bisweilen zu nutzen versucht, um den Rest des Hauses bloßzustellen. Im Übrigen ist die Praxis jedoch etabliert und erhielt bereits 1977 den Segen des Bundesverfassungsgerichts. Dieses erkannte zwar eine Reibung mit dem Grundsatz der repräsentativen Demokratie, wenn nur eine deutliche Minderheit der Bundestagsabgeordneten ein Gesetz beschließt (BVerfGE 44, 308, Rn. 30). Es ließ die Praxis dennoch gewähren, da die Geschäftsordnungsautonomie bereits nach der Preußischen Verfassung von 1850 und der Reichsverfassung von 1871 den Geschäftsgang im Parlament umfasst und die Weimarer Verfassung von 1919 die Regelung der Beschlussfähigkeit des Reichstages in Art. 32 Abs. 2 sogar ausdrücklich der Geschäftsordnung überlassen habe. An diese Tradition knüpfe Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG an (Rn. 25 f.). Dennoch dürfe die Geschäftsordnung sich „weder zu den ausdrücklichen Regelungen des Grundgesetzes noch zu den allgemeinen Verfassungsprinzipien und den der Verfassung immanenten Wertentscheidungen in Widerspruch setzen“ (Rn. 27), was im Hinblick auf die Arbeitsteilung im Parlament und die Aufgaben der Abgeordneten außerhalb des Plenarbetriebs gewährleistet sei (Rn. 30 ff.).

Ein bayerisches Infektionsschutzgesetz

Vor diesem Hintergrund lohnt sich ein Blick auf die Rechtslage speziell in Bayern. Zum einen sollen dort heute Gesetzesbeschlüsse von erheblicher Tragweite beschlossen werden. An vorderster Stelle ist die dringend erforderliche Anpassung des Gemeinde- und Landkreiswahlgesetzes zu nennen, mit der die Umstellung der anstehenden Stichwahlen (zweite Runde der Kommunalwahl am 29.3.2020) auf eine reine Briefwahl abgesichert werden soll. Von erheblicher Tragweite ist jedoch auch das bayerische Infektionsschutzgesetz, das als Ergänzung zu den bundesrechtlichen Instrumenten auf diesem Sektor weitreichende Eingriffsbefugnisse (etwa die Beschlagnahme von Schutzausrüstung) vorsieht. Zum anderen gibt es dort zwei ganz erhebliche Unterschiede zur Bundesebene, nämlich eine ausdrückliche Regelung der Beschlussfähigkeit im Text der Verfassung und einen völlig anderen verfassungsgeschichtlichen Hintergrund.

Betrachten wir zunächst die maßgeblichen Vorschriften: Art. 23 Abs. 2 BV bestimmt ausdrücklich, dass zur Beschlussfähigkeit des Landtags die Mehrheit seiner Mitglieder erforderlich ist. Dennoch finden wir auf Geschäftsordnungsebene wieder eine ähnliche Regelung wie im Bund, nämlich § 123 Abs. 1. Der besagt, dass die Beschlussfähigkeit angenommen wird, solange sie nicht von einem Mitglied des Landtags bezweifelt wird – wohlgemerkt: einem, d.h. ein Quorum ist nicht erforderlich. Zumindest ist die Hürde für eine Rüge damit auf das Minimum abgesenkt, d.h. unter den Abgeordneten kann niemand übergangen werden.

Kann man also eine Arbeitsteilung annehmen, nach der die Verfassung selbst die Anwesenheitsquote vorgibt, aber allein die Geschäftsordnung bestimmt, welche Folgen (oder auch keine) ein Verstoß dagegen hat? Dagegen spricht, dass nach der bayerischen Verfassungstradition die Geschäftsordnungsautonomie (vgl. Art. 20 Abs. 3 BV) nie die Frage der Beschlussfähigkeit umfasste und diese auch nicht umfassen sollte. Schon in Art. 25 ff. des Gesetzes, den Geschäftsgang des Landtags betreffend, dem nach h.M. materieller Verfassungsrang zukam, war die Beschlussfähigkeit als harte, von Amts wegen vom Landtagspräsidenten zu prüfende Voraussetzung zur „giltigen Abstimmung“ ausgestaltet. Dementsprechend sah das Gesetz auch harte Sanktionen bis hin zum Verlust des Mandats bei wiederholtem Fehlen vor (vgl. Art. 28).

Die erste demokratische Verfassung nach dem Ersten Weltkrieg (die sog. Bamberger Verfassung von 1919) ordnete zwar in § 28 Abs. 1 den Geschäftsgang der Geschäftsordnungsautonomie des Landtags zu, bestimmte aber in § 34: „Vorbehaltlich besonderer Vorschrift der Verfassung beschließt der Landtag mit Mehrheit der abgegebenen Stimmen und bei Anwesenheit von mehr als der Hälfte seiner Mitglieder.“ Daraus erschließt sich, dass die Beschlussfähigkeit dem Mehrheitserfordernis gleichgeordnet wurde und von beiden nur bei einer abweichenden Regelung in der Verfassung selbst abgewichen werden durfte. Mit anderen Worten: Wenn das Mehrheitserfordernis nicht zum Geschäftsgang gehört, dann die Beschlussfähigkeit auch nicht.

Betrachtet man vor diesem Hintergrund den jetzigen Art. 23 BV, zeigt sich: Das ist lediglich § 34 der Bamberger Version auf drei Absätze gestreckt. Insbesondere bezieht sich Abs. 3 (nur Ausnahmen in der Verfassung selbst bleiben unberührt) eindeutig auch auf Abs. 2. So erklärt sich auch, dass in der Verfassunggebenden Landesversammlung nach dem Zweiten Weltkrieg darum gestritten wurde, ob das Quorum für die Beschlussfähigkeit auf zwei Drittel erhöht werden solle, und dies schließlich unter Verweis darauf, dass eine Minderheit keine Obstruktionsmöglichkeiten haben solle, abgelehnt wurde. Dem liegt ersichtlich der Gedanke zugrunde, dass bei Nichterscheinen einer Minderheitsfaktion, die mehr als ein Drittel, aber naturgemäß weniger als die Hälfte der Stimmen hat, ein gültiger Gesetzesbeschluss nicht hätte zustande kommen können. 

Vor dem Hintergrund von Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte der Bayerischen Verfassung spricht also prima facie nichts dafür, dass die Geschäftsordnung als reines parlamentarisches Innenrecht eine konstitutionelle Voraussetzung für einen ordnungsgemäßen Gesetzesbeschluss modifizieren oder gar derogieren kann. Wer dies dennoch behauptet (etwa der Ministerialdirigent in der Bayerischen Staatskanzlei Heinz Huber in Rn. 6 seiner Kommentierung des Art. 23 BV im Meder/Brechmann, 6. Aufl. 2020) und darauf verweist, dass die gegenwärtige Praxis zwar bedenklich, aber vom Bundesverfassungsgericht gebilligt sei, verkennt, dass die juristischen Rahmenbedingungen auf Bundesebene völlig anders sind.

Zwar ist man es bei Auslegung des Landesverfassungsrechts gewohnt, immer wieder auf Vorschriften zu stoßen, die wegen bundesrechtlicher Vorgaben gar nicht mehr anwendbar (z.B. Art. 15 BV zu verbotenen Wählergruppen) oder zwar anwendbar, aber vollständig bundesrechtlich überlagert sind (etwa die meisten landesverfassungsrechtlichen Grundrechte). Dies hat indes immer einen spezifischen, im Grundgesetz verankerten Grund: Für die Grundrechte erzeugt Art. 142 GG den Unitarisierungsdruck, und im staatsorganisationsrechtlichen Bereich frisst Art. 31 GG Löcher in die Regelungen der Länder, z.B. indem die Monopolisierung des Parteiverbotsverfahrens beim Bundesverfassungsgericht nach Ar. 21 Abs. 4 GG die in Art. 15 Abs. 2 BV verankerte entsprechende Zuständigkeit des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs ausschließt.

Von diesen Ausnahmen abgesehen gilt jedoch der Grundsatz, dass Bund und Länder jeweils getrennte Verfassungsräume haben, in denen für Divergenzen gerade im Staatsorganisationsrecht ein erheblicher Spielraum besteht, solange die wichtigsten Staatsstrukturprinzipien gem. Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG gewahrt bleiben.

Letzteres ist selbstverständlich der Fall, wenn die Landesverfassung die Beschlussfähigkeit des Landtags selbst robust regelt und nicht der Geschäftsordnungsautonomie überlässt. Dies ist nach dem Regel-Ausnahme-Verhältnis, das das Bundesverfassungsgericht postuliert, sogar näher am demokratischen Ideal als die Praxis auf Bundesebene.

“Das haben wir schon immer so gemacht”

Mithin bliebe nur, entweder die Staatspraxis als Argument mit eigenständigem Gewicht (ähnlich der Entstehung von Gewohnheitsrecht) zu betrachten, was auf wenig mehr als ein gestelzt ausgedrücktes „Das haben wir schon immer so gemacht“ hinausliefe. Oder man argumentiert damit, dass das arbeitsteilige Kommen und Gehen während eines Sitzungstages ein Wesensmerkmal des modernen Parlamentarismus sei, das im Sinne einer living constitution nunmehr unter teleologischen Aspekten geschützt werden müsse. Zudem ließe sich an das praktische Argument denken, dass bei nicht namentlichen Abstimmungen gar nicht protokollarisch erfasst sei, wer anwesend war, es aber nicht gewollt sein könne, dass der Verfassungsgerichtshof hinterher – quasi per Videobeweis – ein zu geringes Quorum feststelle und ein parlamentarisch unumstrittenes Gesetz für nichtig erklären müsse.

Die Frage nach der richtigen Auslegung, und wie der Verfassungsgerichtshof sie beantworten würde, muss also schon unter regulären Bedingungen als ungeklärt gelten (so auch Möstl in Lindner/Möstl/Wolff, BV, 2. Aufl. 2017, Art. 23 Rn. 9). In der jetzigen Corona-Krise kommt jedoch hinzu, dass das Landtagspräsidium selbst auf die Unterschreitung des in Art. 23 Abs. 2 BV vorgesehenen Quorums für die Beschlussfähigkeit hinwirkt. Damit erzeugt es ein erhebliches Risiko, dass alle Gesetze, die in während dieser Phase erlassen werden, unter dem Damoklesschwert der formellen Verfassungswidrigkeit stehen. Dabei sind die auch sonst eingeschränkten Beratungs- und Abstimmungsmöglichkeiten noch gar nicht mit ins Kalkül gezogen. Die vorzugswürdige Form des physical distancing im Parlamentsbetrieb wäre daher eindeutig, in einen größeren Raum zu wechseln, statt die Reihen auszudünnen.


SUGGESTED CITATION  Michl, Walther: Die verfassungs­rechtlichen Gefahren des social distancing im Bayerischen Landtag, VerfBlog, 2020/3/25, https://verfassungsblog.de/die-verfassungsrechtlichen-gefahren-des-social-distancing-im-bayerischen-landtag/, DOI: 10.17176/20200326-002940-0.

2 Comments

  1. Philipp Mützel Thu 26 Mar 2020 at 09:26 - Reply

    Nur ein kleiner formaler Hinweis: In der in BVerfGE 44, 308 veröffentlichten Entscheidung gibt es keine Randnummern. Das BVerfG gliedert seine Judikate erst seit 1998 mit Randnummern (Möllers, Juristische Arbeitstechnik und wissenschaftliches Arbeiten, 7. Aufl. 2014, Rn. 444 mit Fn.573).

  2. Holger Thu 26 Mar 2020 at 14:43 - Reply

    Das ist in der Tat ein gewichtiges Problem. Juristisch sinnvoll wäre es m.E., schnellstmöglich die Verfassung diesbezü