Die Zeitenwende beginnt im Nahen Osten
Konsequenzen des IGH-Gutachtens zur Illegalität der israelischen Besatzung
Nach den vielbeachteten Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofs (IGH) über einstweilige Anordnungen im Gaza-Konflikt erweckte das Gutachten vom 19. Juli 2024 zur Illegalität der israelischen Besatzung ein verhältnismäßig geringes Medienecho. Dies steht im eklatanten Gegensatz zu seinem Inhalt. Der internationale Gerichtshof bewertete nämlich kurzerhand die gesamte israelische Besatzung des palästinensischen Gebiets, einschließlich Gaza, für rechtswidrig. Dies dürfte erhebliche völkerrechtliche, völkerrechtspolitische, geopolitische und erinnerungspolitische Konsequenzen nach sich ziehen.
Völkerrecht for the many, not for the few
Das Gutachten war von der Generalversammlung der UN im Dezember 2022 in Auftrag gegeben worden. Zwar haben die im Gutachten getroffenen Anordnungen keine rechtsverbindliche Wirkung; dies ändert jedoch nichts am symbolischen Wert und Präzedenzcharakter einer solchen Entscheidung. Das gilt umso mehr, wenn sie wie im vorliegenden Fall mit überwältigender Mehrheit der Richter:innen ergeht, einschließlich der Stimmen der amerikanischen Richterin Cleveland und des deutschen Richters Nolte.
Die Generalversammlung der UN hatte dem Gerichtshof zwei Fragen vorgelegt. Zum einen erbat sie seine Einschätzung, ob einzelne israelische Praktiken wie z.B. der Siedlungsbau im Westjordanland gegen das Völkerrecht verstoßen. Dieser Frage haftete eine geringe Brisanz an, ist es doch aufgrund der recht eindeutigen Regelungen des humanitären Völkerrechts weitgehend konsentiert, dass die Besiedlung von besetzten Gebieten verboten ist. Nachdem der IGH bereits 2004 die Rechtswidrigkeit des Befestigungswalls auf palästinensischem Gebiet festgestellt hatte, konnte man nun zur Siedlungspolitik „more of the same“ erwarten. Dazu kommt, dass selbst der Sicherheitsrat schon 2016 die Rechtswidrigkeit der Siedlungspolitik in einer Resolution bekräftigt hatte; verabschiedet unter Enthaltung der USA während der letzten Tage der Amtszeit von Präsident Obama. Allenfalls die Frage, ob die israelische Besatzung einen Fall der Apartheit nach Art. 3 der Rassendiskriminierungskonvention darstellte, sorgte für Spannung.
Der Gerichtshof hat diesen Erwartungen entsprochen und viele Aspekte der israelischen Besatzungspolitik für rechtswidrig erklärt, u.a. die Wegnahme von Land und seine Besiedlung. Auch die Einrichtung von „wilden“ Siedlungen in sogenannten Outposts habe Israel entgegen dem Völkerrecht geduldet bzw. durch Bereitstellung von Infrastruktur sogar befördert. Die Diskriminierung der Bevölkerung einschließlich willkürlicher, teils lang anhaltender Inhaftierung wertete der IGH als Verstoß gegen das Besatzungsrecht sowie gegen Art. 3 der Rassendiskriminierungskonvention, ließ allerdings offen, ob er sich hierbei auf das Verbot der Rassentrennung oder auf Apartheid bezog. Die Sondervoten lassen erkennen, dass diese Einordnung umstritten blieb.
Rechtswidrigkeit der gesamten Besatzung
Brisanter als die erste Frage nach der Rechtmäßigkeit spezifischer Politiken und Handlungen war die zweite Frage, ob die israelische Besatzungspolitik die Besatzung nicht insgesamt rechtswidrig mache. Bisher war weder autoritativ geklärt, ob auf dem gesamten palästinensischen Territorium einschließlich Gaza eine Besatzung vorliegt, noch, ob diese rechtmäßig ist.
Das Besatzungsrecht, das in seinem Kern aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg stammt, stellt nur Verhaltensanforderungen an die Besatzungsmacht auf. Es geht von einem klassischen Krieg zwischen zwei Staaten aus, in dem die Frage, ob eine Besatzung vorliegt, keine besondere Herausforderung darstellt. Noch regelt das Besatzungsrecht, wann die Besatzung enden muss. In der damaligen Praxis wurden Kriege meist rasch durch Friedensverträge beendet. Diese regelten auch territoriale Fragen. Erst mit der Entstehung des völkerrechtlichen Gewaltverbots im Briand-Kellogg-Pakt von 1928 bzw. der UN-Charta von 1945 und mit seiner Erhebung zum „zwingenden Völkerrecht“ in den 1960er Jahren entstand hier eine neue Situation. Parallel dazu hatte sich ein gewohnheitsrechtliches Selbstbestimmungsrecht der Völker entwickelt, das der IGH 2019 in einem Gutachten zu den von Großbritannien besetzten Chagos-Inseln eindrücklich bekräftigte. Dieser neue Rechtszustand – nachzulesen bereits in der Friendly Relations Declaration von 1970 – macht es notwendig, dem Besatzungsrecht Grenzen zu ziehen.
Entgegen dem Anraten der USA, sich aus aktuellen Konflikten herauszuhalten, stellt der IGH in seinem neuerlichen Gutachten zunächst fest, dass Israel das gesamte palästinensische Territorium besetzt hält. Hier folgt das Gericht der sog. funktionalen Theorie. Danach erfordert eine Besatzung im Rechtssinn keine physische Präsenz, sondern lediglich ein hohes Maß an Kontrolle über ein fremdes Gebiet. Danach gelte auch Gaza vor dem 7. Oktober 2023 als besetzt. Den oft gehörten Einwand, Palästina sei keine völkerrechtliche Entität und könne daher nicht besetzt werden, weist der Gerichtshof scharf zurück. Er bekräftigt das vielfach, einschließlich von der UN-Generalversammlung anerkannte Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung in seinem gesamten Gebiet, das eine unteilbare Einheit bilde.
Sodann zieht der IGH der Rechtmäßigkeit einer Besatzung gewisse Grenzen, geht hierbei jedoch sehr vorsichtig zu Werk. Die Dauer der Besatzung an sich spiele keine Rolle. Maßgeblich sei das allgemeine Völkerrecht, zu dem das völkerrechtliche Gewaltverbot gehöre. Eine ursprünglich rechtmäßige Besatzung werde jedenfalls dann rechtswidrig, wenn sie in eine im Widerspruch zum Gewaltverbot stehende Annexion mutiere. Israel habe es nach seiner Siedlungspolitik und den weiteren, unter der ersten Frage untersuchten Handlungen darauf angelegt, das Westjordanland zu annektieren. Mithin sei die Besatzung rechtswidrig; Israel müsse so bald wie möglich abziehen. Wegen der Kontiguität des palästinensischen Territoriums betreffe dies alle Teilgebiete, einschließlich Gaza. Für rechtswidrige Akte müsse Israel Reparationen leisten.
Die Illegalität der Besatzung entbinde Israel schließlich nicht von der Pflicht, die Schutzvorschriften des humanitären Völkerrechts einzuhalten. Man möchte hinzufügen, dass dasselbe auch für die Hamas gilt, hinsichtlich deren Angriff vom 7. Oktober 2023 der IGH klare Worte der Verurteilung findet.
Völkerrecht als universelle Friedensordnung
Der IGH geht in diesem Gutachten vom Völkerrecht als einer kohärenten Friedensordnung aus. Völkerrecht ist danach kein Sammelsurium einzelner Regeln, die sich mächtige Staaten „à la carte“ zu eigen machen oder aber von sich weisen können – wie es die amerikanische Rede vom „rules-based international order“ suggeriert. Das Völkerrecht des IGH besteht aus einem engen Geflecht von miteinander in Beziehung stehenden Normen, die für alle Staaten gleichermaßen gelten. Diese Normen bedingen und begrenzen sich gegenseitig. Das Besatzungsrecht kann, wenngleich historisch älter, nicht ohne das Gewaltverbot gedacht werden.
Diese im Ansatz geradezu konstitutionalistische Haltung wurde eigentlich lange auch von der Bundesrepublik vertreten; nicht umsonst gilt die Rede von der Konstitutionalisierung des Völkerrechts als gleichsam deutsche Erfindung, um nicht zu sagen Marotte. Darin kommt die Überzeugung zum Ausdruck, dass Politik nie rechtsbefreit existieren kann, sondern immer schon an rechtliche Grenzen gebunden ist.
Der konstitutionelle Ansatz steht in engem Zusammenhang mit dem Multilateralismus in den internationalen Beziehungen. Auch ihn bemüht der IGH in der Entscheidung, indem er Generalversammlung und Sicherheitsrat die Planung und Umsetzung des israelischen Abzugs aufträgt und insoweit vermeidet, sich als Konfliktmanager zu betätigen.
Geopolitik in der Zeitenwende
Das Gutachten sollte in Deutschland Anlass zu Überlegungen geben, wie sich Geopolitik in der gegenwärtigen Zeitenwende gestalten lässt. Die Zeitenwende wurde initial als Abkehr von der Gemütlichkeit der Nachwendezeit ausgerufen. Die Amerikaner liefern Sicherheit, die Russen Energie, Europa und vor allem Deutschland erkauft sich die Vorteile durch Loyalität und allerlei Aufräumarbeiten – das geht nicht mehr, seitdem die Konflikte zwischen Russland und der Nato-Welt unüberbrückbar und die Rückendeckung durch Amerika unsicher geworden sind.
Doch was tritt an die Stelle dieser Konstellation? Allenthalben werden Parallelen zum Kalten Krieg gezogen. Der Westen igle sich ein gegen den systemischen Konkurrenten China, den Unwägbarkeiten der Situation in den USA zum Trotz. Die europäische Handelspolitik etwa folgt ziemlich genau diesem Schema und knüpft dementsprechend Loyalitäten bzw. erlässt Sanktionen. Jenseits des Ukraine-Konflikts fällt es schwer, Kongruenz zwischen dieser Politik und europäischen Werten herzustellen. Vermutlich ist dies einer der Gründe, warum die nordatlantischen Ukraine-Sanktionen weltweit nur begrenzte Gefolgschaft erhalten haben.
Olaf Scholz rief jedoch die Zeitenwende aus, um eine Neuauflage des Kalten Kriegs zu vermeiden. Nicht das Völkerrecht „à la carte“, sondern die universellen Normen der Völkerrechtsordnung sollten Deutschlands Außenpolitik leiten. Eine feministische Außenpolitik stößt in dasselbe Horn, indem sie die Menschenrechte in das Zentrum rückt – einschließlich der Rechte marginalisierter Gruppen. Kaum etwas anderes scheint der ambivalenten Lage des rohstoffarmen, alternden, von allerlei Begehrlichkeiten bedrängten Europas angemessen. Insofern wären gute Beziehungen zu den „blockfreien“ Staaten des globalen Südens von großer Bedeutung. Auch sie wollen sich nicht vereinnahmen lassen, sondern nach beiden Seiten hin abstützen. Eine Nord-Süd-Allianz der Universalisten und Multilateralisten könnte hieran anknüpfen. Versuche dazu gibt es nicht wenige; die Europäische Union betont seit Jahrzehnten die Bedeutung der Beziehungen zu den Ländern des afrikanischen Kontinents.
Ideal und Realität klaffen jedoch denkbar weit auseinander. Nicht nur ist die europäische Afrikapolitik einstweilen in Niger und Mali krachend gescheitert. Spätestens das Gutachten des IGH verdeutlicht, dass man insbesondere in Deutschland noch weit davon entfernt ist, die universellen Werte des Völkerrechts auch dann hochzuhalten, wenn es schmerzt. Das tritt nun an einigen Stellen deutlich zu Tage. Den Vorwurf der Apartheid an die Adresse Israels zu richten stufte der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, vor Kurzem noch als antisemitisch ein. Wenngleich das IGH-Gutachten diesen Punkt offenlässt, erlaubt es jedoch eine Lesart, nach der Apartheid vorliegt. Die unterschiedlichen Positionen der Richter Tladi und Nolte zu diesem Punkt definieren hier den Rahmen des Vertretbaren. Ein anderes Beispiel ist der Verweis auf demokratische, rechtsstaatliche Institutionen in Israel. Er dient großen Teilen des bundesdeutschen Diskurses zur Beschwichtigung bei Völkerrechtsverstößen in- und außerhalb des Gaza-Kriegs. Dass der IGH nun die gesamte israelische Besatzungspolitik als völkerrechtswidrig einstuft, dies keineswegs auf die Taten der Netanjahu-Regierung begrenzt und damit der israelischen Justiz – die nur marginalen Widerstand geleistet und viele kritische Fragen jahrelang ausgeklammert hat – und Politik – die gerade die Zweistaatenlösung abgelehnt hat – kein gutes Zeugnis ausstellt, macht den Widerspruch zwischen der deutschen Israel-Politik und dem in der Zeitenwende beschworenen universellen Völkerrecht offensichtlich.
Um der Ankündigung der Zeitenwende Taten folgen zu lassen, ist hier ein Umdenken notwendig. Damit Deutschland nicht am Ende von drei Blöcken umgeben ist: neben den USA und China/Russland auch noch vom globalen Süden – womöglich gar im Verein mit einigen europäischen Staaten wie Irland, deren spezifische Geschichte sie anders auf den Nahen Osten blicken lässt. Neben dem Verlust an Soft Power wäre eine solche Konstellation nicht zuletzt für europäische Rohstoffdeals oder Migrationsfragen keine guten Nachrichten.
Dies bedeutet, dass Deutschland an der Umsetzung der IGH-Entscheidung eine konstruktive Rolle spielen sollte. Das betrifft nicht nur die bereits jetzt beträchtliche finanzielle Unterstützung für die palästinensische Autonomieregierung. Deutschland sollte multilateralen Lösungen hier den Vorrang einräumen und sie schützen – notfalls und in letzter Instanz auch mit Sanktionen, wie bei anderen gravierenden Völkerrechtsverstößen auch.
Ein weiterer, symbolisch wichtiger Schritt wäre die Anerkennung von Palästina als Staat. Wenngleich man an der Effektivität der palästinensischen Staatsgewalt zweifeln kann, nicht zuletzt wegen der Terrorherrschaft der Hamas, hat Deutschland in der Vergangenheit nicht immer der Effektivität den höchsten Rang eingeräumt; man denke etwa an Slowenien und Kroatien. Die Anerkennung Palästinas würde für die nun unausweichlichen Verhandlungen über das Ende der Besatzung die Augenhöhe der beiden zentralen Verhandlungspartner herstellen. Zudem wäre sie ein wichtiges Zeichen im Hinblick auf die Zeitenwende – dessen Kurswert jedoch mit jedem Tag des Zuwartens sinken dürfte.
Erinnerungspolitik
Um die Zeitenwende in der deutschen Politik und Gestaltung fest zu verankern, ist letztlich auch ein Umdenken in der Erinnerungspolitik erforderlich. Die zentrale Stellung des Holocausts wird nicht bedroht, sondern gefestigt, indem der Holocaust stellvertretend für die Abgründe der Menschlichkeit steht, die jederzeit und jeden Orts aufbrechen können. Ein solches Gedenken ist inklusiv und verbindend. Es stützt sich nicht auf eine abstrakte, national gedachte und administrativ durchgeboxte Staatsräson, sondern auf jene konkrete, universale Utopie der Menschenrechte, um die es bei der Zeitenwende eigentlich geht.
Dieser Text ist als Crosspost leicht gekürzt auch im ipg-journal erschienen.
Sehr gelungener und spannender Text. Danke dafür
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