14 May 2019

Diplomatisches Asyl als Einmischung? Venezuelas Oppositionsführer Leopoldo López in der spanischen Botschaft

Venezuela bleibt eine Quelle spannender völkerrechtlicher Fragen. Sowohl die umstrittene Wahl von Nicolás Maduro zum Präsidenten als auch die Erklärung des Präsidenten der Nationalversammlung Juan Guaidó, das Amt des Interimspräsidenten für sich zu beanspruchen, haben unterschiedliche internationale Reaktionen nach sich gezogen, was die jeweilige Anerkennung oder Nichtanerkennung sowie eine mögliche militärische Intervention von außen auf Einladung von Guaidó betrifft.

Eine weitere Facette hat das in politischer ebenso wie in rechtlicher Hinsicht komplexe Geschehen nun dadurch erhalten, dass sich der Oppositionspolitiker Leopoldo López seit Anfang Mai in der spanischen Botschaft in Caracas aufhält, um sich dem Zugriff der Regierung zu entziehen. López war 2015 aufgrund seiner Rolle im Rahmen von gewaltsamen Demonstrationen und Protestaktionen gegen die Regierung Maduros zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt worden. 2017 wurde er aus dem Gefängnis in Hausarrest überführt, wo er am 30. April 2019 von Angehörigen der venezolanischen Armee, die Guaidó unterstützen, befreit wurde. Nunmehr befindet er sich als „Gast“ in der Residenz des spanischen Botschafters. Auch wenn er laut Quellen aus der spanischen Regierung nicht um politisches Asyl gebeten hat, stellt sich die Frage, ob er sich dadurch dem Zugriff der venezolanischen Hoheitsgewalt entziehen kann. Handelt es sich damit um eine Neuauflage der – jedenfalls im Hinblick auf diese Frage – gerade zu Ende gegangenen Saga um den Aufenthalt von Julian Assange in der ecuadorianischen Botschaft in London? Ja und Nein. Die beiden Fälle weisen zwar einige Parallelen auf, unterscheiden sich aber auch in wesentlichen Punkten.

Einmischung durch Gewährung diplomatischen Asyls?

Die Ausgangsfrage scheint zunächst identisch zu sein: Kann ein Staat (der Entsendestaat) seine Botschaft in einem anderen Staat dazu nutzen, Personen Zuflucht zu gewähren, um sie dem Zugriff dieses Staates (dem Empfangsstaat) zu entziehen? Oder handelt es sich dabei um einen völkerrechtswidrigen Missbrauch der Vorrechte und Immunitäten, die das Diplomatenrecht einem Staat im Interesse einer funktionsfähigen internationalen Diplomatie zugesteht? Den völkerrechtlichen Ausgangspunkt bildet die Überlegung, dass im Grundsatz Personen, die sich auf dem Territorium eines Staates befinden, der Jurisdiktion dieses Staates unterliegen. Soweit der Entsendestaat auf dem Territorium des Empfangsstaates eine Person dem Zugriff des Empfangsstaates entzieht, gerät diese Handlung in Konflikt mit der Souveränität und der Territorialhoheit des Empfangsstaates und stellt einen Verstoß gegen das Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten dieses Staates dar. In diesem Sinne führte der Internationale Gerichtshof bereits 1950 im Asylum-Fall zwischen Kolumbien und Peru aus (S. 274 f.):

„In the case of diplomatic asylum, the refugee is within the territory of the State where the offence was committed. A decision to grant diplomatic asylum involves a derogation from the sovereignty of that State. It withdraws the offender from the jurisdiction of the territorial State and constitutes an intervention in matters which are exclusively within the competence of that State. Such a derogation from territorial sovereignty cannot be recognized unless its legal basis is established in each particular case.“

In diesem Sinne sieht Art. 41 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen von 1961 vor, dass Personen, die diplomatische Vorrechte und Immunitäten genießen, gleichwohl verpflichtet sind, das Recht des Empfangsstaates zu beachten und sich nicht in dessen innere Angelegenheiten einzumischen. Und Art. 41 Abs. 3 des Diplomatenrechtsübereinkommens schreibt ausdrücklich vor, dass die Räumlichkeiten der Mission nicht in einer Weise benutzt werden dürfen, die unvereinbar ist mit den Aufgaben der Mission und dem zwischen den betreffenden Staaten anwendbaren Völkerrecht.

Ein Recht auf Gewährung diplomatischen Asyls?

Gehört die Gewährung diplomatischen Asyls also zu den Aufgaben einer diplomatischen Mission oder ist sie mit diesen unvereinbar? Ein allgemeines Recht des Entsendestaates auf Gewährung diplomatischen Asyls in den Räumlichkeiten seiner Botschaft auf dem Territorium des Empfangsstaates vermochte der Internationale Gerichtshof nicht zu erkennen. Das entspricht der Staatenpraxis und der Völkerrechtslehre bis zum heutigen Tage. Schon der Internationale Gerichtshof betonte allerdings die Möglichkeit, dass sich im konkreten Fall ein Recht zur Gewährung diplomatischen Asyls ergeben kann, soweit hierfür eine spezielle Rechtsgrundlage existiert.

Gerade im südamerikanischen Raum hat sich eine regionale Praxis herausgebildet, die der Gewährung diplomatischen Asyls durchaus aufgeschlossen gegenübersteht. Schon im bereits erwähnten Asylum-Fall zwischen Kolumbien und Peru ging es unter anderem um die Auslegung der für beide Staaten verbindlichen Havana Convention on Asylum von 1928, die dem Grunde nach, inhaltlich beschränkt und unter bestimmten Voraussetzungen ein Recht auf Gewährung diplomatischen Asyls für politisch Verfolgte – nicht aber für Personen, denen „gewöhnliche“ Straftaten zur Last gelegt werden – begründete. Vor dem IGH stritten die Parteien dann primär über die Frage, ob Kolumbien das Recht gehabt hatte, einseitig und mit verbindlicher Wirkung auch für Peru zu entscheiden, dass eine politische Straftat vorgelegen hatte, eine Frage, die der IGH auf der Grundlage einer Auslegung der Havana Convention und im Hinblick auf regionale Staatenpraxis und die Praxis Perus verneinte.

Unter anderem als Reaktion auf die Entscheidungen des IGH im Asylum-Fall schlossen einige südamerikanische Staaten 1954 die Caracas Convention on Diplomatic Asylum, der auch Venezuela als Vertragspartei angehört. Wie die Havana Convention erkennt auch die Caracas Convention ein Recht zur Gewährung diplomatischen Asyls in Fällen politischer Verfolgung an und normiert in Art. IV sogar die Kompetenz des Entsendestaates zu bestimmen, ob ein Fall politischer Verfolgung vorliegt, ob es sich also um politische Straftaten handelt und die Verfolgung politisch motiviert ist.

Gleichwohl folgt aus der Caracas Convention unmittelbar nichts für den Fall López und das Rechtsverhältnis zwischen Venezuela und Spanien: Denn nur Venezuela ist Partei der Konvention, nicht aber Spanien. Nach allgemeinen Grundsätzen über die Wirkungen völkerrechtlicher Verträge, wie sie im Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge von 1969 niedergelegt sind, entfalten Verträge grundsätzlich keine Wirkungen im Verhältnis zu Drittstaaten (Art. 34 Wiener Vertragsrechtskonvention).

Spanien könnte sich nur dann auf die Caracas Convention berufen, wenn die Konvention ausnahmsweise auch Rechte von Nichtvertragsparteien begründen würde, was nach Art. 36 Wiener Vertragsrechtskonvention voraussetzt, dass die Vertragsparteien eine solche Wirkung beabsichtigten. Für einen solchen Willen sind indes keine Anhaltspunkte ersichtlich: Die Konvention ist im Rahmen der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) ausgehandelt und verabschiedet worden, und der Beitritt steht auch nur Mitgliedstaaten der OAS offen (Art. XXI Caracas Convention). Schon dieser Umstand sowie die spezielle südamerikanische Tradition des diplomatischen Asyls, die sich von der globalen Entwicklung deutlich unterscheidet, spricht gegen einen Willen der Vertragsparteien, die zwischen den OAS-Staaten ausgehandelten Regeln auch auf Drittstaaten zu erstrecken. Generell ist ein solcher Wille nicht ohne weiteres zu vermuten, da Staaten vertragliche Verpflichtungen grundsätzlich im Interesse der Gegenseitigkeit eingehen und Drittstaaten daher kaum weitergehende Rechte zusprechen wollen als ihnen selbst im Verhältnis zu diesen zusteht.

Letztlich spricht die komplexe und fein austarierte Systematik der Caracas Convention gegen die Annahme, dass es sich um einen Vertrag (auch) zugunsten Dritter handelt: Denn der Vertrag begründet nicht nur das Recht von Staaten zur Gewährung diplomatischen Asyls, sondern auch korrespondierende Pflichten, wie etwa die Pflicht des asylgewährenden Staates, die betreffende Person auf Wunsch des Empfangsstaates außer Lande zu bringen (Art. XI Caracas Convention), oder die Regelung, dass der Entsendestaat der aufgenommenen Person keine Handlungen gestatten darf, die den öffentlichen Frieden des Empfangsstaates beeinträchtigen oder sich als Einmischung in die inneren Angelegenheiten dieses Staates darstellen (Art. XVIII Caracas Convention). Dass die Vertragsparteien Drittstaaten Rechte einräumen wollten, ohne dass diese gleichzeitig den Pflichten der Caracas Convention unterfallen, wird sich kaum annehmen lassen.

Diplomatisches Asyl aus humanitären Gründen?

Damit bleibt die Frage, ob es ein Recht des Entsendestaates auf Gewährung vorübergehenden Schutzes speziell aus humanitären Gründen gibt, eine Frage, die auch unter dem Stichwort des humanitären Asyls diskutiert wird. Bestand, Inhalt und Konturen eines solchen Rechts sind allerdings alles andere als allgemein anerkannt, nicht zuletzt, weil es kaum relevante Staatenpraxis zu dieser Frage gibt und Staaten, die ihre Botschaft zu diesem Zweck verwenden, sich vielfach auf diplomatischem Wege um Einvernehmen mit dem Empfangsstaat bemühen. Soweit man ein solches Recht von Botschaften zur Gewährung humanitären Asyls anerkennt, stellt sich die Frage, ob die hierfür erforderlichen Kriterien im Fall von Leopoldo López erfüllt sind. Im Fall von Julian Assange wurde dies kaum ernsthaft erwogen; eine entsprechende Argumentation zugunsten der Einschlägigkeit humanitären Asyls im Fall von Leopoldo López erscheint angesichts der innenpolitischen Lage und der Spannungen zwischen der Maduro-Regierung und der Opposition jedenfalls nicht als völlig fernliegend.

In der Sache lässt sich dabei anknüpfen an eine Aussage des IGH im Asylum-Fall, die zwar speziell auf die Auslegung der Havana Convention bezogen war, aber mit Blick auf die Ratio diplomatischen Asyls und das zugrunde liegende Spannungsverhältnis durchaus verallgemeinerbar erscheint (S. 284):

„In principle, therefore, asylum cannot be opposed to the operation of justice. An exception to this rule can occur only if, in the guise of justice, arbitrary action is substituted for the rule of law. Such would be the case if the administration of justice were corrupted by measures clearly prompted by political aims. Asylum protects the political offender against any measures of a manifestly extra-legal character which a government might take or attempt to take against its political opponents.“

Ob die Verurteilung von Leopoldo López rechtsstaatlichen Maßstäben entsprach oder sich als willkürliche und vorrangig politisch motivierte Maßnahme darstellt, lässt sich nicht ohne weiteres sagen. Der UN High Commissioner for Human Rights sowie die UN Working Group on Arbitrary Detention und andere internationale wie auch nichtstaatliche Organisationen haben jedenfalls erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit seiner Verurteilung zum Ausdruck gebracht. Ob diese Bedenken angesichts der hohen Schwelle, der ein Recht zur Gewährung diplomatischen Asyls aus humanitären Gründen unterliegt, ausreichen, um ein Recht Spaniens auf Gewährung diplomatischen Asyls zu begründen, und ob ein solches Recht völkerrechtlich überhaupt anerkannt ist, sind allerdings ganz andere Fragen.

Was tun?

Unabhängig davon, wie das Verhalten der spanischen Botschaft völkerrechtlich zu beurteilen ist, besteht jedenfalls kein Recht der venezolanischen Regierung, die Botschaftsgebäude zu betreten und Leopoldo López festzunehmen. Nach Art. 22 Abs. 1 des Diplomatenrechtsübereinkommens sind die Räumlichkeiten der Mission unverletzlich. Dass López sich nicht im eigentlichen Botschaftsgebäude aufhält, sondern in der Residenz des Botschafters, führt zu keinem anderen Ergebnis, da zu den geschützten Räumlichkeiten der Mission auch die Residenz des Missionschefs zählt, wie Art. 1 lit. i des Übereinkommens explizit normiert. Durchbrechungen von diesem Grundsatz lässt das Völkerrecht nicht zu. Als Reaktionen Venezuelas auf die spanischen Maßnahmen kommen nur die im Diplomatenrecht als sogenanntem self-contained regime anerkannten Sanktionen in Betracht: Venezuela könnte den spanischen Botschafter und andere Missionsangehörige zur persona non grata erklären und ihre Ausreise verlangen. Als schärfste Sanktion käme der Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Spanien in Betracht.

Ob der Fall Leopoldo López dazu führen wird, dass die völkerrechtlichen Konturen des Rechts zur Gewährung diplomatischen Asyls geschärft werden, bleibt abzuwarten. Angesichts der rasanten Entwicklung der Ereignisse in Venezuela steht jedenfalls nicht zu vermuten, dass López über mehrere Jahre in der Residenz des spanischen Botschafters wird ausharren müssen. Insofern unterscheidet sich sein Fall nicht nur in völkerrechtlicher Hinsicht von dem viel beachteten Daueraufenthalt Julian Assanges in der ecuadorianischen Botschaft.