Diskriminierende Einstellung(sbedingungen)en
Zur Kopftuchverbotsentscheidung des LAG Berlin-Brandenburg
Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg (LAG) hat jüngst entschieden (Urt. v. 12.11.2024, Az. 11 Sa 443/24), dass eine Neutralitätsklausel im Arbeitsvertrag eine kopftuchtragende Muslimin diskriminiere, und dieser eine Entschädigung zugesprochen. Das ist insoweit nicht überraschend, als betriebliche Neutralitätsregelungen arbeitsrechtliche Dauerbrenner sind, deren Voraussetzungen seit Jahren höchstgerichtlich nuanciert werden. Besonders ist jedoch, dass das Gericht die Diskriminierung durch eine vertragliche Neutralitätsklausel feststellte, obwohl die Bewerberin die Stelle freiwillig nicht angetreten hatte. Damit bekräftigt das LAG die Religionsfreiheit im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Das Urteil ist aber vor allem auch Ausdruck der föderalen Grundrechtsvielfalt in der EU und zeigt, dass die EuGH-Entscheidungen zu betrieblichen Kopftuchverboten nuancierte Anwendung im jeweiligen mitgliedstaatlichen Kontext finden.
Worum ging es?
Eine junge Muslimin bewarb sich als Werkstudentin für Recherchearbeiten bei einem Unternehmen, das umfassende Betreuungslösungen für Kinder und pflegebedürftige Angehörige sowie u.a. Krisenberatung und Gesundheitsprävention anbietet. Nach dem erfolgreichen Vorstellungsgespräch, bei dem sie ein Kopftuch aus religiösen Gründen trug, übersandte das beklagte Unternehmen der Klägerin einen bereits unterschriebenen Arbeitsvertrag. Dieser enthielt aber folgende Klausel in § 14 mit dem Titel „Diversity und Neutralitätsgebot“:
(1) Die AG [Arbeitgeberin, Anm. d. Verf.] unterstützt Diversität am Arbeitsplatz, damit alle TM [Teammitglieder, Anm. d. Verf.] ihre beruflichen Potenziale entfalten können. Das TM verpflichtet sich, im Rahmen des Arbeitsverhältnisses niemanden aufgrund des Geschlechts, der Herkunft, einer körperlichen Beeinträchtigung, des Alters oder der sexuellen Orientierung zu diskriminieren.
(2) Die AG tritt politisch, weltanschaulich und religiös neutral auf. Dieses Neutralitätsgebot betrifft alle Religionen und Weltanschauungen gleichermaßen. Das Tragen sichtbarer Zeichen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugung am Arbeitsplatz durch das TM ist daher untersagt.
Während Absatz 1 „Diversity“ propagiert, bewirkt Absatz 2 das genaue Gegenteil. Er diskriminiert in der Praxis wegen der Religion, insbesondere Musliminnen mit Kopftuch. Solche „Neutralitätsklauseln“ treten erst seit der Achbita-Entscheidung des EuGH aus dem Jahr 2017 vermehrt auf. Darin erachtete der EuGH recht pauschal den bloßen Willen eines Arbeitgebers für rechtmäßig, mit Neutralitätsklauseln „im Verhältnis zu den öffentlichen und privaten Kunden eine Politik der politischen, philosophischen oder religiösen Neutralität zum Ausdruck zu bringen“. Diese irritierende Aussage, die wie ein Blankoscheck Diskriminierung im betrieblichen Kontext ermöglicht, präzisierte der EuGH in einem Fall, der das insofern höhere Schutzniveau von Art. 4 Abs. 1 GG betraf. Nach dem EuGH-Urteil muss der Unternehmer belegen, dass bei der Einführung der internen Neutralitätsregel eine hinreichend konkrete Gefahr für seine unternehmerische Freiheit bestand. Die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie (RL 2000/78) gewähre lediglich ein Mindestmaß an Diskriminierungsschutz. Nationale Gerichte könnten deshalb Vorschriften zum Schutz der Religionsfreiheit – konkret die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 GG – als günstigere Vorschrift im Sinne des Art. 8 Abs. 1 Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie berücksichtigen. Das erlaubt dem LAG, die höheren Anforderungen an Kopftuchverbote heranzuziehen, die das BVerfG aufstellt und so die Religionsfreiheit im AGG stärker zu gewichten.
Zurück zum Fall: Die Studentin unterzeichnete angesichts dieser Neutralitätsklausel den Arbeitsvertrag nicht und machte vor dem Arbeitsgericht Berlin erfolglos einen Entschädigungsanspruch nach § 15 AGG wegen einer ungerechtfertigten mittelbaren Diskriminierung aufgrund der Religion geltend. Das Arbeitsgericht Berlin wies die Klage ab, ein Anspruch bestehe mangels Benachteiligung der Klägerin nicht. Eine unmittelbare Benachteiligung liege nicht vor, da der Klägerin ein Angebot unterbreitet worden sei und sie sich selbst entschieden habe, dieses nicht zu unterzeichnen. Eine mittelbare Benachteiligung scheide aus, weil hierfür eine neutrale Vorschrift erforderlich sei, die jedoch erst mit der Unterzeichnung des Arbeitsvertrags wirksam werde.
Benachteiligung durch Einstellungsbedingungen möglich
Die Argumente überzeugen nicht Im Anwendungsbereich des AGG nennt § 2 Abs. 1 Nr. 1 AGG ausdrücklich eine mögliche Benachteiligung durch die Einstellungsbedingungen. Das Bestehen eines Arbeitsvertrags kann deshalb keine entscheidende Voraussetzung sein. Dies ist nur konsequent: Das unionsrechtlich geprägte AGG will Diskriminierungen umfassend erfassen und nicht erst ab Vertragsschluss.
Entsprechend erkennt das LAG in der Berufungsinstanz zutreffend, dass eine Benachteiligung im Sinne des AGG möglich sein kann. Die Klägerin habe bereits „kein uneingeschränktes oder neutrales Angebot“ (S. 7) erhalten, weshalb eine Benachteiligung nicht ausgeschlossen sei. Die Neutralitätsklausel verpflichte die Klägerin, die aus religiösen Gründen ein Kopftuch trägt, das Kopftuch im Betrieb und am Arbeitsplatz nicht zu tragen. Die Neutralitätsklausel im Arbeitsvertrag knüpft also an das Merkmal der Religion an und benachteilige so die Klägerin.
Im Rahmen der Abwägung zwischen der unternehmerischen Freiheit der Beklagten und der Religionsausübungsfreiheit der Klägerin habe das Interesse der Beklagten zurückzutreten, da weder die beruflichen Anforderungen an die Stelle der Klägerin ein Kopftuchverbot erfordere, noch der Betriebsfrieden oder sonstige unternehmerische Interessen konkret gefährdet seien (S. 9 ff.). Damit schließt sich das LAG hinsichtlich der Voraussetzungen an ein Kopftuchverbot der vom BVerfG vorgegebenen und vom Bundesarbeitsgericht (BAG) bestätigten Linie an und überträgt diese auf arbeitsvertragliche Neutralitätsklauseln.
Unmittelbare vs. mittelbare Diskriminierung
Das Urteil des LAG verdeutlicht, dass zwischen dem EuGH und dem BAG divergierende Ansichten darüber bestehen, wann eine unmittelbare Diskriminierung bei Kopftuchverboten am Arbeitsplatz vorliegt. Dogmatisch ist die Unterscheidung zwischen unmittelbarer oder mittelbarer Diskriminierung insofern bedeutsam, als für eine unmittelbare Diskriminierung strengere Rechtsfertigungsanforderungen gelten.
In den Entscheidungsgründen stellt das LAG zunächst fest, dass der Klägerin ein Entschädigungsanspruch wegen einer mittelbaren Diskriminierung zustehe (S. 6). Im Folgenden lässt es jedoch ausdrücklich offen, ob eine unmittelbare und mittelbare Benachteiligung vorliege, da in jedem Fall eine Benachteiligung der Klägerin zu bejahen sei (S. 7). Mit diesem nicht so eleganten Versuch will das LAG wohl vermeiden, sich in dieser strittigen Frage zu positionieren. Vermutlich prüft das LAG die Zulässigkeit der Neutralitätsklausel deshalb anhand der strengeren Anforderungen aus § 8 Abs. 1 AGG, die für unmittelbare Benachteiligungen gelten. (S. 8 ff.)
Wie das LAG selbst ausführt, wäre nach der Rechtsprechung des BAG eine unmittelbare Benachteiligung im Sinne des § 3 Abs. 1 AGG anzunehmen (S. 7). So stellte das BAG im Jahr 2020 eine unmittelbare Benachteiligung fest, als eine kopftuchtragende Muslimin sich um eine Stelle als Lehrerin bewarb und im Auswahlverfahren aufgrund ihres Kopftuchs nicht berücksichtigt wurde (Rn. 24). Die Neutralitätsklausel im Arbeitsvertrag knüpft an ein in § 1 AGG genanntes Merkmal an – konkret an die Religion – wodurch die kopftuchtragende Muslimin eine weniger günstige Behandlung erfuhr als eine Person in einer vergleichbaren Situation ohne sichtbare religiöse Bekundung.
Der EuGH hingegen hat bereits im Jahr 2017 in seinen Entscheidungen Achbita (Rn. 30) und Bougnaoui (Rn. 32), 2021 bei Wabe/Müller (Rn. 52) und zuletzt 2023 bei OP gegen Commune d’Ans (Rn. 26) eine unmittelbare Diskriminierung im Sinne von Art. 2 II Buchst. a Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie (RL 2000/78/EG) abgelehnt. Dies galt in Fällen, in denen allgemein formulierte Neutralitätsregeln des Arbeitgebers unterschiedslos diverse Bekundungen, beispielsweise religiöse und weltanschauliche, betreffen. Der EuGH hat in diesen Fällen allenfalls auf die mittelbare Diskriminierung zurückgegriffen. Allerdings hat er in der zum deutschen Kontext ergangenen Entscheidung Wabe/Müller deutlich gemacht, dass ein auf das Tragen „auffälliger großflächiger Zeichen beschränktes Verbot“ (Rn. 78) eine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder Weltanschauung sein kann. Dies erscheint mit Blick auf den umfassenden Schutzzweck des AGG wertungswidersprüchlich und verdeutlicht insgesamt die Schwierigkeit, zwischen den Diskriminierungskategorien abzugrenzen. Die Art der Diskriminierung hängt jedoch nicht davon ab, wie groß oder auffällig das religiöse Symbol ist, sondern davon, ob die Regelung dieses direkt oder nur indirekt verbietet.[1]
Vor diesem Hintergrund ist es nicht überzeugend, die Einordnung als mittelbare oder unmittelbare Diskriminierung offenzulassen. Die Anknüpfung an die Religion wird nicht aufgehoben, wenn Neutralitätsklauseln zusätzlich noch weitere – etwa politische – Zeichen aufnehmen und so die Diskriminierungswirkung ausweiten. Auch bei der Berücksichtigung weiterer Merkmale bleibt die Anknüpfung an die Religion bestehen, was für eine unmittelbare Diskriminierung spricht.[2] Außerdem verbietet § 14 Abs. 2 das Tragen „sichtbarer Zeichen“, was selbst nach der EuGH-Rechtsprechung eine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion jedenfalls nahelegt.
In jedem Fall ist nach europarechtlichen Maßstäben eindeutig, dass der Arbeitsvertrag im Fall des LAG diskriminierende Einstellungsbedingungen enthält.
Konkrete betriebliche Störungen als entscheidende Voraussetzung
Die Entscheidung des LAG bestätigt, dass pauschale Kopftuchverbote am Arbeitsplatz aus „Neutralitätsgründen“ unter erhöhtem Rechtfertigungszwang stehen.
Die Beklagte hat hier mit der Neutralitätsklausel im Arbeitsvertrag eine Regelung geschaffen, die das Tragen religiöser Zeichen aus allgemeinen, abstrakten Gründen generell untersagt. Zwar können berufliche Anforderungen gemäß § 8 Abs. 1 AGG grundsätzlich eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen, wenn die Anforderungen wegen der Art der auszuübenden Tätigkeit wesentlich und im Übrigen angemessen sind. Allerdings wirkt sich das Tragen eines Kopftuchs nicht auf die Recherchetätigkeiten aus, die von der Werkstudentin auszuführen sind, noch steht das Kopftuch in irgendeinem Zusammenhang zur konkreten Tätigkeit. Daher erachtet das LAG die Klausel richtigerweise nicht gemäß § 8 Abs. 1 AGG als zulässig (S. 8).
Der EuGH hat 2017 in seiner Achbita-Entscheidung (Rn. 40) noch geringere Anforderungen an die betriebliche Neutralitätspolitik gestellt und lediglich eine „kohärente und systematische“ Vorgehensweise des Arbeitsgebers gefordert. 2021 hat der EuGH in Wabe/Müller seine Rechtsprechung weiterentwickelt, indem er die Rechtfertigungsanforderungen erhöhte und den bloßen Willen des Arbeitgebers eine betriebliche Neutralitätspolitik zu etablieren nicht mehr ausreichen ließ. Stattdessen müsse der Arbeitgeber ein „wirkliches Bedürfnis“ (Rn. 64) nachweisen, wobei „berechtigte Erwartungen […] der Kunden und Nutzer“ (Rn. 70) bestehen müssten, um eine Diskriminierung zu rechtfertigen. Damit nähert sich der EuGH an die seit jeher höheren nationalen Anforderungen (siehe hier).
Das Bundesverfassungsgericht hat 2015 für Lehrerinnen und 2016 für die Erzieherinnen entschieden, dass ein Kopftuchverbot nur dann verfassungsgemäß ist, wenn eine konkrete Gefahr für ein relevantes Schutzgut besteht – ein pauschales Kopftuchverbot sei verfassungswidrig. Auch das BAG hat bereits im Jahr 2002 für ein Kopftuchverbot „konkrete betriebliche Störungen oder wirtschaftliche Einbußen“ verlangt. Darüber hinaus verwies es im Jahr 2020 an anderer Stelle darauf, dass für ein Kopftuchverbot eine „konkrete Gefahr“ (Rn. 57) erforderlich sei. Der EuGH respektiert diesen erhöhten Schutz nach Art. 4 Abs. 1 GG. Die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie gibt nämlich nur einen „allgemeinen Rahmen“ vor, innerhalb dessen die Mitgliedstaaten einen „Wertungsspielraum“ haben. Diese Gestaltungsspielräume sind auch nach der Rechtsprechung des BVerfG Ausdruck der föderalen Grundrechtsvielfalt, die bereits das Primärrecht gebietet.
Das Unternehmen behauptete in diesem Fall recht pauschal, es habe zuvor Spannungen hinsichtlich politischer, weltanschaulicher und religiöser Überzeugungen gegeben. Es konnte jedoch keine Beispiele für konkrete Gefährdungen seiner unternehmerischen Interessen nennen und seiner Darlegungs- und Beweislast insofern nicht nachkommen; dies überzeugt das LAG zu Recht nicht (S. 10). Es genügt nicht bereits, dass am Arbeitsplatz Diskussionen zu den genannten Überzeugungen entstehen können. Das LAG präzisiert im Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung die Anforderungen an eine konkrete Gefahr dahingehend, dass „konkrete Konflikte oder Störungen des Betriebsfriedens“ verlangt seien (S. 10).
Fazit
Zwar positioniert sich das LAG nicht deutlich zu der dogmatischen Frage der Diskriminierungsform. Es stellt jedoch klar, dass arbeitsvertragliche Neutralitätsklauseln, die Kopftuchverbote am Arbeitsplatz auferlegen, diskriminieren und nur bei konkreten Gefährdungen des Betriebsfriedens oder weiteren unternehmerischen Interessen rechtmäßig sein können. Daran wird sichtbar, dass das föderale Zusammenwirken im EU-Grundrechtsschutz funktioniert.
Das (noch nicht rechtskräftige) Urteil reiht sich somit in die Rechtsprechung der „Kopftuchfälle“ ein und sendet ein klares Signal – nicht nur an die Vorinstanz, sondern insbesondere auch an die Privatwirtschaft, in der Kopftuchverbote inzwischen weit verbreitet sind.
Hinweis: Die Klage wurde vom Adala e.V. ermöglicht, der die erste Crowdfunding-Plattform für Betroffene von Rassismus führt und sich auf strategische Klagen im Bereich des Antidiskriminierungsrechts konzentriert.
[1] Walter/Tremml, in: Mangold/Payandeh, HdB Antidiskriminierungsrecht, S. 368 Rn. 37.
[2] Sacksofsky, in: Mangold/Payandeh, HdB Antidiskriminierungsrecht, S. 622 Rn. 72.