Diskursraumschutz durch hochschulisches Ordnungsrecht
Die Hochschulen waren von Beginn der bundesdeutschen Geschichte an Austragungsort politischer Konflikte. Ihre große Stärke liegt darin, ein Forum für die Versachlichung, wissenschaftliche Vertiefung und Reflexion dieser Konflikte zu bieten. Die Konflikte in den letzten Jahren haben jedoch plastisch gemacht, dass dieses Ideal eines wissenschaftlichen Forums kein Selbstläufer ist, sondern Steuerungsleistungen aller Organe der Hochschulen bedarf und häufig auch Präsidien und Rektorate in die Pflicht nimmt, Auseinandersetzungen zu begleiten, zu gestalten und ultima ratio auch Grenzen zu setzen.
In der Corona-Krise mussten sich die Hochschulen im gesellschaftlich aufgeheizten Klima als Ort des Differenzierens behaupten, an dem weiterhin eine kritische Perspektive auf die mitunter alternativlos erscheinenden und zu Recht in der Wissenschaft kontrovers diskutierten Corona-Maßnahmen geworfen werden konnte, ohne sich von Corona-Leugnern vor den Karren spannen zu lassen. Auch die Kontroversen um Genderforschung und fachspezifische Konzepte von Geschlechtlichkeit machten Steuerungsentscheidungen erforderlich, die zwischen dem scharf formulierten Vorwurf einer Cancel Culture einerseits und der Notwendigkeit, einen sicheren Diskursort zu schaffen, zu zerreiben drohten. Nun forciert der Krieg in Gaza und der ihn auslösende Überfall auf Israel durch die Hamas Konfliktlinien, die das Forum Hochschule neuerlich herausfordern. Im Zuge antisemitischer Vorfälle an verschiedenen Hochschulen ist eine Debatte darüber eröffnet worden, welche ordnungsrechtlichen Mittel den Hochschulen zur Verfügung stehen sollten, um den Diskursraum Hochschule zu schützen.
Governance zum Schutz der Wissenschafts- und Studierfreiheit
Das wertplurale Mit- und Nebeneinander hochschulischer Vielfalt erfordert dafür eine Governancestruktur, die es nicht allen notwendig Recht macht, aber die größtmöglichen Freiräume im Sinne der grundgesetzlich verbürgten Wissenschafts- und Studierfreiheit erhält und diese zugleich als „Safe Spaces“ vor diskursunterdrückender Gewalt schützt. Maßstab für den Diskursraum begrenzende Maßnahmen sind Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG bzw. Art. 12 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Studierfreiheit, außerdem die Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Im Sinne der Verhältnismäßigkeit geboten erscheint ein abgestuftes Governance-Konzept: Niedrigschwellig steht den Hochschulen die Möglichkeit interner Information durch Veranstaltungsformate wie Vorlesungen, Workshops und Diskussionsrunden zu. Daran knüpft das Instrument der Öffentlichkeitsarbeit, in concreto der Pressemitteilung an, die eine Stellungnahme der Hochschule nach außen kommuniziert: „Eine Hochschule kann richtigstellen, aufklären oder vor Gefahren warnen (…)“. Dass dies nicht grenzenlos möglich ist, stellte kürzlich das VG Berlin fest. Schärfer wirken Maßnahmen, die diskurslenkend oder sogar verhindernd wirken, etwa indem Veranstaltungen abgesagt werden. Noch weitergehend können Hochschulleitungen die persönliche Teilhabe und -nahme am Diskursraum Hochschule in der Regel auf Grundlage des Hausrechts der Hochschulen verhindern. Als ultima ratio stehen für Studierende die Exmatrikulation, für Hochschullehrende die Entfernung aus dem Beamten- bzw. Entlassung aus dem Arbeitsverhältnis zur Verfügung.
Dünnes Berliner Hochschulgesetz zwischen Diskursraumschutz und Kriminalisierungsgefahr
Ein solchermaßen verstandenes und in Ansehung der grundrechtlichen Wertungen ausgestaltetes Ordnungsrecht verdient es durchaus, in den Hochschulgesetzen positiviert zu werden. Dennoch hat der Berliner Gesetzgeber das Ordnungsrecht über die Studierenden im Jahr 2021 in Berlin stark abgeschwächt. Möglich sind seither nur noch auf höchstens 3 Monate befristete Maßnahmen des Präsidiums gegen Störungen des geordneten Hochschulbetriebs durch Studierende. Eine Exmatrikulation scheidet gänzlich aus, ungeachtet der Dimension der studentischen Verfehlung. Dieser Umstand überrascht insofern, als dass alle übrigen 15 Bundesländer jedenfalls die Möglichkeit einer Exmatrikulation vorsehen, häufig geknüpft an eine hochschulrelevante Straftat gegen das Leben, die sexuelle Selbstbestimmung, die körperliche Unversehrtheit oder die persönliche Freiheit. Der Gesetzentwurf sah auch für Berlin zunächst eine entsprechende Regelung vor, die aber mit Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wissenschaft und Forschung des Abgeordnetenhauses vom 16. August 2021 stark und ohne substantiierte Begründung ausgedünnt wurde. Die Berliner Änderung ging in der Debatte um die Entfristung von Postdoktorand:innen unter und fällt dem Bundesland jetzt medial auf die Füße, weil die Freie Universität Berlin in Anbetracht eines mutmaßlich antisemitischen gewalttätigen Übergriffs auch dann noch handlungsunfähig wirkt, wenn der mögliche „Strafrahmen“ des dreimonatigen Hausverbots ausgereizt wird. Schon wird eine neuerliche Reform des BerlHG und eine Rückkehr des Ordnungsrechts mit Möglichkeit zur Exmatrikulation in Aussicht gestellt.
Dieser Aktionismus sollte aber nicht dazu führen, die grundrechtlichen Wertungen aus den Augen zu verlieren und den status quo zu „verschlimmbessern“. Das Ordnungsrecht über die Studierenden ist in der rechtspolitischen Debatte auch deshalb nicht unumstritten, weil u.a. Studierendenvertretungen befürchten, dass über einen generalklauselartig gehaltenen Begriff des Ordnungsverstoßes legitime Formen des hochschulischen Diskurses „kriminalisiert“ werden könnten. Für Hardliner etwa stellte sich womöglich die Frage, ob Hörsaalbesetzungen im Zuge der Klimadebatte nicht auch generalpräventiv mit gezielten Exmatrikulationen daran beteiligter Studierender begegnet werden könnte. Dieses Damoklesschwert hochschulischen Engagements kann nur eine grundrechtschonende und hinreichend bestimmte Fassung ordnungsrechtlicher Normen in den Landeshochschulgesetzen verhindern. Die Exmatrikulation konsequent an eine strafrechtliche Verurteilung zu knüpfen, erscheint insofern überzeugend, als sie die Hochschulen von der strafrechtlichen Bewertung entlastet, an ein rechtsstaatlich austariertes Verfahren anknüpft und damit die Studierfreiheit der Studierenden nicht über Gebühr beeinträchtigt.
Im Übrigen sollte der Berliner Senat eine klare normative Grundlage dafür schaffen, wie auf strafrechtlich nicht relevantes oder jedenfalls noch nicht abschließend beurteiltes Verhalten, das den Diskursraum Hochschule beschädigt oder zu beschädigen droht, adäquat reagiert werden kann. Eine Regelung wie aktuell in § 16 Abs. 2 BerlHG, die von nicht näher gefassten „Störungen des geordneten Hochschulbetriebs durch Studierende“ spricht, ist genau das Gegenteil. Ordnungsmaßnahme sollte in diesen Fällen die zeitweise Ausschließung von hochschulischen Veranstaltungen oder dem Studienbetrieb in Gänze sein. Hochschulen sind dem überzeugenden Diskurs in der Rechtswissenschaft nach keine polizeifreien Räume, sodass die Hochschule entsprechende Anordnungen auch durchsetzen lassen kann. Die Eröffnung des Rechtswegs ermöglicht eine abschließende Kontrolle durch die Verwaltungsgerichte. So urteilte das VG Köln zuletzt, dass ein anlässlich des Besuchs des israelischen Botschafters Ron Prosor ausgesprochenes Hausverbot gegen drei Studierende rechtswidrig war, obwohl diese auf Instagram einen Aufruf zum Boykott der Veranstaltung geliked bzw. die Parole „From the River to the Sea“ verbreitet haben sollen. Dem Gericht genügten jedoch die Umstände nicht, um eine hinreichende Wahrscheinlichkeit einer konkreten Störung des Hausfriedens durch den Studierenden anzunehmen (VG Köln, Beschl. v. 12.01.2024, Az. 9 L 67/24; folgend OVG NRW, Az. 15 B 39/24). Das Gericht verlangt von der Hochschule vielmehr ein differenziertes Schutzkonzept für die Veranstaltung, das einerseits dem Recht des Studierenden auf Teilnahme gerecht wird, andererseits ein erforderlichenfalls notwendiges Unterbinden von Störungen möglich macht. Es ist zu wünschen, dass der Berliner Landesgesetzgeber nun einen Rahmen schafft, der adäquate Governancekonzepte der Hochschulen anregt, anstatt nur die Exmatrikulationskeule zu schwingen.
Da sie nicht auf die Begründung des Berliner Gesetzgebers für die Abschaffung des Ordnungsrechts (https://www.parlament-berlin.de/adosservice/18/Haupt/vorgang/h18-3645.B-v.pdf#page=19) verweisen, frage ich mich, ob Sie sich überhaupt mit dieser auseinander gesetzt haben. Eine immerhin einsteige Begründung als nicht substantiiert zu bezeichnen, ohne dies näher zu begründen, überrascht.
Herzlichen Dank für den Hinweis auf die Begründung! Der Änderungsantrag im Hauptausschuss ist mir in den Untiefen der Parlamentsdokumentation tatsächlich durchgerutscht, insofern ist mein Hinweis auf eine unsubstantiierte Begründung in der Tat nicht zutreffend, was ich zu entschuldigen bitte.
In der Zielrichtung meines Beitrags ändert die Begründung aber nichts. Der Antrag begründet die Streichung mit einem fehlenden Bedarf an entsprechenden ordnungsrechtlichen Vorschriften. Zudem wirkten die Maßnahmen repressiv, während eine Stärkung präventiver Maßnahmen anzustreben sei. Schließlich sei eine adäquate Reaktion auf Störungen im Rahmen des Hausrechts möglich. Wie sich nun gezeigt hat, besteht jedoch durchaus ein Bedarf an einer entsprechenden Reaktionsmöglichkeit ultima ratio und das Hausrecht bietet dafür einen nicht ausreichenden und auch normativ höchst unbestimmt gehaltenen Spielraum. Dass präventive Maßnahmen natürlich sinnvoll sind, stellt eine differenzierte Regelung nicht in Frage, sondern ist Teil eines ausgewogenen Konzepts zum Diskursraumschutz in Hochschulen.