23 October 2022

Wehrhafte Hochschulen und Wissenschaftsfreiheit

Immer wieder fallen sendungsbewusste Professorinnen und Professoren durch schrille Debattenbeiträge auf, bei denen politische Esoteriken, wirre Falschbehauptungen oder Verschwörungstheorien in die Semantik des Wissenschaftlichen gekleidet werden. Die Belastungen der Pandemielage haben eine hässliche Seite der akademischen Welt, die es schon immer gab, lediglich häufiger in Erscheinung treten lassen. Hochschulleitungen haben aus gutem Grund Hemmungen, sich öffentlich zu solchen Äußerungen von Hochschulmitgliedern zu positionieren oder sich – was häufig gefordert wird – davon zu distanzieren, um das Ansehen der Hochschule zu schützen. Auch die rechtliche Gemengelage, die bei einer amtlichen Reaktion zu berücksichtigen wäre, ist verwinkelt.

Wissenschaftsfreiheit oder Meinungsfreiheit?

Wissenschaftliche Äußerungen sind zunächst von bloßen Meinungen zu unterscheiden, weil verfassungsrechtlich hieran unterschiedliche Rechtsfolgen anknüpfen. Die Verfassung gestaltet die Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) und die Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) als unterschiedliche Grundrechte aus, die verschiedenen Schranken unterliegen. Zunächst setzen sowohl wissenschaftliche als auch demokratisch-politische Diskurse die Möglichkeit offener Auseinandersetzung über divergente Positionen voraus. Die Meinungsfreiheit dient nicht nur der individuellen Persönlichkeitsentfaltung, sondern auch dem demokratischen Prozess.1) Für die Wissenschaftsfreiheit gilt nichts anderes. Ihre politische Funktion besteht jedoch weniger in der Meinungsbildung, als vielmehr darin, relative Wahrheitsansprüche aufrecht zu erhalten, die der politischen Disposition entzogen sind. Eine von der Meinungsfreiheit abgesetzte Wissenschaftsfreiheit ist in einer freiheitlichen Demokratie auch eine Antwort darauf, dass öffentlicher politischer Diskurs in freier Rede und Gegenrede nicht zwingend zu rationalen Erkenntnissen führen muss.

Im brodelnden Hexenkessel des Dafürhaltens: Meinungen

Die Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) ist eben „kein Gütesiegel“,2) sie kommt allen Meinungen zu, unabhängig von ihrer Qualität, Anstößigkeit oder Ernsthaftigkeit. Tatsachenbehauptungen, die sich auf eine „objektive Beziehung zwischen Äußerung und Wirklichkeit“ beziehen,3) genießen den Schutz der Meinungsfreiheit, wenn sie als Grundlage der wertenden Meinungsbildung dienen.4) Das gilt selbst für unwahre Tatsachenbehauptungen.5) Nur wenn sie bewusst unwahr geäußert werden, sollen sie nach dem BVerfG keinen Schutz genießen.6) Hiernach fallen dann auch Verschwörungstheorien, extremistische Positionen oder krude Verirrungen, soweit sie nicht vorsätzlich unwahr sind, unter den Schutz der Meinungsfreiheit. Dafür unterliegen Meinungsäußerungen den vergleichsweise weiten Schranken der allgemeinen Gesetze (Art. 5 Abs. 2 GG).

Methodisch disziplinierte Gegenöffentlichkeit: Wissenschaft

Mit wissenschaftlichen Aussagen verbindet sich hingegen ein – stets relativer und vorläufiger – Richtigkeitsanspruch, der sich auf qualifizierte Gründe stützt. „Free speech makes no distinction about quality; academic freedom does“.7) Wissenschaftliche Kommunikation ist daher auch nicht akademische „Redefreiheit“, also eine besondere Meinungsfreiheit, sondern ein Aliud, das eher als Gegengewicht zur Beliebigkeit des Meinungskampfes fungiert. Wissenschaft im Sinne des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG wird von der Rechtsprechung als Handlungszusammenhang verstanden, der „nach Inhalt und Form als ernsthafter und planmäßiger Versuch zur Ermittlung von Wahrheit anzusehen ist“.8) Akademisch verbrämtes Geplauder ist nicht schon deshalb Wissenschaft, weil es von einer Professorin oder einem Professor stammt.

Der relative Wahrheitsbegriff, der die Vorläufigkeit, Kritisierbarkeit und Revidierbarkeit von Wissen voraussetzt, bindet Wissenschaft i. S. v. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG an Ernsthaftigkeit, Rationalität und hinreichende Objektivierung, also letztlich an methodische Standards eines Faches. Dies muss nicht zwingend der disziplinäre Mainstream sein. Die Wissenschaftsfreiheit schützt gerade auch Außenseiter- oder Minderheitenpositionen bzw. neue Ansätze, die erst noch erprobt werden müssen.9) Das bedeutet jedoch kein Recht zur Beliebigkeit. „Aus der Offenheit und Wandelbarkeit von Wissenschaft, von der der Wissenschaftsbegriff des Grundgesetzes ausgeht, folgt […] nicht, daß eine Veröffentlichung schon deshalb als wissenschaftlich zu gelten hat, weil ihr Autor sie als wissenschaftlich ansieht oder bezeichnet“.10) Abweichungen vom Anerkannten müssen mit rationalen Argumenten begründet werden. Auch Renegades schulden qualifizierte und überprüfbare Rechtfertigung. „Ich sehe das halt anders!“ ist kein wissenschaftliches Argument. Umgekehrt kann das, was wissenschaftlich erforscht wurde und begründet werden kann, unter dem Schutz der Wissenschaftsfreiheit auch – z. B. durch Wissenschaftskommunikation in Pressemitteilungen, in Tweets, in Zeitungsartikeln, auf YouTube oder in Rundfunkbeiträgen – popularisiert werden.

Funktionaler Freiheitsschutz statt grundrechtsimmanente Wissenschaftstheorie

Was die Voraussetzungen und Grenzen von Wissenschaft sind, ist ein Kernthema der Wissenschaftstheorie, die sich gerade mit der Ausgrenzung von Nicht- und Pseudowissenschaft nicht immer leicht tut. Solche epistemologischen Debatten sind notwendig, haben aber andere – wissenschaftsinhärente – Funktionen, namentlich der kritischen Begriffsbildung. Die Wissenschaftsfreiheit schützt hingegen keine bestimmte Wissenschaftstheorie,11) sondern die Freiheitlichkeit der Kommunikation. Sie muss daher funktionell inklusiver sein und einen eher groben Filter einsetzen, um nicht als Kampfinstrument gegen missliebige Positionen missbraucht zu werden. Der Wissenschaftscharakter steht daher noch nicht deshalb infrage, weil Forschung oder Lehre Defizite aufweisen, solange basale Ansprüche an die Wissenschaftlichkeit nicht so grundlegend verfehlt werden, dass „nach Inhalt und Form von einem ernsthaften Versuch zur Ermittlung von Wahrheit nicht mehr die Rede sein kann“.12)

Das Unvermeidbare: Abgrenzungsprobleme

Gewichtige Indizien, ob etwas noch Wissenschaft ist, ergeben sich aus den Grenzen der Fachlichkeit. Zwar ist Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG selbstverständlich nicht an formale Qualifikationen gebunden. Die Wissenschaftsfreiheit setzt aber eine Diskursteilnahme aufgrund hinreichender Kenntnis des disziplinären Gegenstandes und seiner Methoden voraus. Wer sich außerhalb der eigenen fachlichen Qualifikation äußert, handelt im Zweifel nur meinungsbildend, aber nicht wissenschaftlich. Ein Evolutionsbiologe, der gegen Genderforschung trollt, eine gefühlt kritische Juristin, die sich zu vermeintlichen Erkenntnissen der Biowissenschaften äußert, eine Kulturwissenschaftlerin, die Debatten der Teilchenphysik kommentiert, weil doch ohnehin alles nur unsere Wirklichkeit erst konstituierende Sprache sei, ein Ex-Bundesbanker, der seine rassistischen Bestseller zu diffusen Migrationsfragen präsentiert, oder ein Parasitologie-Experte, der steile Theorien über die Biophysik der Virenverbreitung aufstellt, werden sich kaum auf das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit berufen können, weil es an minimalen Anforderungen an die fachliche Diskursfähigkeit fehlt.

Mindestvoraussetzung von Wissenschaft ist eine hinreichende epistemische Offenheit. Wer sich wissenschaftlicher Semantik bedient, um lediglich von vornherein feststehenden politischen Positionen zur besseren Durchsetzbarkeit oder Sichtbarkeit zu verhelfen, genießt nicht den Schutz der Wissenschaftsfreiheit.13) Es mag Disziplinen geben, die aufgrund ihrer zur Weißglut politisierten Diskurspraktiken Schwierigkeiten haben, wissenschaftlich gemeinte Aussagen von bloßen politischen Debattenbeiträgen und Machtkämpfen um Deutungshoheit zu unterscheiden. Das ist dann aber kein Problem der Grundrechtsdogmatik, sondern das verlotterter Fachkulturen.

Zumutung der Wahrheit: Duldungspflicht gegenüber wissenschaftlichen Äußerungen

Aussagen, die wissenschaftlich begründet werden, müssen unter dem Schutz des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG hingenommen werden, selbst wenn sie für manche verletzend, anstößig oder politisch fehlgeleitet wirken. Wissenschaftliche „Wahrheiten“ stehen unter Kritik-, nicht unter Abwägungsvorbehalt. Die Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG kommen nicht zur Anwendung. Verfassungsimmanente Schranken des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG sind untauglich, wissenschaftlich „richtige“ – also methodisch-fachlich kohärent begründete – Aussagen als solche zu unterbinden, weil weder staatliche Institutionen noch Einzelne einen Anspruch darauf haben, nicht mit wissenschaftlicher Richtigkeit konfrontiert zu werden.

Das BVerwG stellte insoweit klar, dass einer Hochschule nicht die Befugnis zustehe, wissenschaftliche Forschungsarbeiten von Amts wegen „fachlich zu bewerten und einer wissenschaftlichen Kritik zu unterziehen“. Die Universität bzw. ihre Organe dürften „nur dann und nur gegenständlich begrenzt tätig werden, wenn und soweit gegen einen Wissenschaftler aufgrund von konkreten Anhaltspunkten schwerwiegende Vorwürfe erhoben werden, etwa daß er verantwortungslos gegen grundlegende Prinzipien der Wissenschaftlichkeit verstoßen oder die Forschungsfreiheit mißbraucht habe oder daß seinen Arbeiten der Charakter der Wissenschaftlichkeit abzusprechen sei“.14) Das ist aus gutem Grund eine hohe Hürde. Aber sie kann genommen werden. Wer Verschwörungstheorien verbreitet, ins Blaue hinein Behauptungen aufstellt, mit aus der Luft gegriffenen oder frei erfundenen Zahlen jongliert, die auf keiner wissenschaftlichen Quelle gründen, oder rationale Wissenschaft selbst schon gar nicht für möglich hält und alles auf politische Machtspiele reduzieren möchte, argumentiert nicht mehr wissenschaftlich i. S. v. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG.

Meinungskampf im öffentlichen Dienst: Mäßigungsgebot

Für beamtete Professorinnen und Professoren gilt das allgemeine Mäßigungsgebot. Es ist Bestandteil hergebrachter Grundsätze des Berufsbeamtentums (Art. 33 Abs. 5 GG)15) und wäre daher sogar geeignet, als verfassungsimmanente Schranke zwar nicht den Inhalt, aber die Form wissenschaftlicher Kommunikation einzuhegen. Wissenschaftliche Aussagen werden freilich bereits durch die Verpflichtung einer fachlich-methodischen Argumentation weitgehend gemäßigt. Wer schrill polemisiert, freihändig spekuliert oder hetzt, betreibt schon der Form nach keine Wissenschaft. Die bloße Meinungsfreiheit von Beamtinnen und Beamten kann hingegen auch jenseits der Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG durch das Mäßigungsgebot nach Art. 33 Abs. 2 GG eingeschränkt werden, was § 33 Abs. 2 BeamtStG konkretisiert. Das Verhalten innerhalb und außerhalb des Dienstes muss der Achtung und dem Vertrauen gerecht werden, die das jeweilige Amt erfordern (§ 34 Abs. 1 Satz 3 BeamtStG).

Werden mit einem Amt unabhängige Aufgaben in Forschung und Lehre übertragen, korrespondiert dem eine besondere öffentliche Richtigkeitserwartung, der alle Beteiligten gerecht werden müssen. Wissenschaft hat nur die Macht des Wortes. Aber diese zählt. Wer kraft Amtes für epistemische Verlässlichkeit bürgt, muss auch auf die berechtigten Erwartungen Rücksicht nehmen, dass echte Wissenschaft drin ist, wo Wissenschaft draufsteht. Es gehört zu den funktionalen Kernpflichten eines wissenschaftlichen Amtes, das Vertrauen in die Wissenschaft nicht dadurch zu beschädigen, indem man ins Blaue hinein nicht belegbare Behauptungen aufstellt und diese wie wissenschaftlich begründbare Tatsachen präsentiert. Und wer Verschwörungstheorien nährt, Fake News verbreitet oder sich rein spekulativ zu Fragen in einer Form äußert, die suggeriert, es ginge um wissenschaftlich begründbares Wissen, kann das Mäßigungsgebot verletzen (Dienstvergehen).

Keine Sanktion ohne Gesetz: Ermächtigungsgrundlage für amtliche Kritik

Nimmt eine Hochschulleitung in amtlicher Eigenschaft eine negative Bewertung von Äußerungen eines Hochschulmitglieds vor, liegt hierin ein Grundrechtseingriff, der kraft Grundrechtswesentlichkeit16) einer gesetzlichen Ermächtigung bedarf.17) So hatte das VG Berlin in einem Eilverfahren der Charité untersagt, ein Fachjournal von Amts wegen über wissenschaftliches Fehlverhalten bei der Entstehung der Veröffentlichung zu informieren. Das Gericht hat angedeutet, dass es hierfür eine Ermächtigungsgrundlage für erforderlich halte, seine Entscheidung aber letztlich tragend darauf gestützt, dass die hierzu getroffenen Feststellungen nicht ausreichend gewesen seien.18)

Soweit beamtete Professorinnen und Professoren die Grenzen der Forschungsfreiheit in einem Maß überschreiten, das mit Dienstpflichten nicht mehr vereinbar ist, kann Fehlverhalten auf der Grundlage des Disziplinarrechts zwar sanktioniert werden.19) Jedoch ergibt sich aus dem Dienstrecht keine Ermächtigung, ergriffene Maßnahmen auch öffentlich zu machen. Das BVerwG vertritt darüber hinaus, dass die Kompetenz einer Hochschule, „ob ein Wissenschaftler den ihm verfassungsrechtlich garantierten Freiraum wissenschaftlicher Forschungsfreiheit überschritten und möglicherweise andere verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter verletzt hat“, letztlich „unmittelbar aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG“ folge.20) Überzeugend ist dies nicht. Grundrechte sind keine Eingriffsermächtigungen und die einer Hochschule nach Art. 19 Abs. 3 GG zustehende (kollektive) Wissenschaftsfreiheit richtet sich nach außen gegen den Staat, aber nicht unvermittelt nach innen gegen die ihrerseits grundrechtsberechtigten Hochschulmitglieder.