Doch noch ein Verfassungsreferendum in Italien
Am 8. Oktober 2019 beschloss das italienische Parlament, sich selbst um ein gutes Drittel zu verkleinern. Aus insgesamt 945 Parlamentariern sollen künftig 600 werden, zudem wird die Sitzverteilung im italienischen Senat geographiegerecht angepasst. Obschon eine solche Verfassungsänderung nicht unproblematisch ist und vor allem die Vertretung von Sprachminderheiten und Auslandsitalienern viel zu sehr verengen könnte, bleibt jenseits der rechnerischen Verkleinerung alles beim Alten. Jedoch könnte sich die von der Protestpartei Fünf-Sterne-Bewegung angestrebte Reform verzögern, weil die Voraussetzungen für ein obligatorisches Verfassungsreferendum erfüllt wurden.
Art. 138 der italienischen Verfassung schreibt das Prozedere für Verfassungsänderungen vor. Falls beide Parlamentskammern dem verfassungsändernden Gesetzestext jeweils mit Zweidrittelmehrheit zustimmen, tritt dieser ohne weiteres in Kraft (Abs. 3). Wenn aber dieses Quorum auch nur in einer der beiden Kammern verfehlt wird, besteht die Möglichkeit, dass innerhalb von drei Monaten ein Fünftel der Mitglieder einer der beiden Parlamentskammern einen Antrag auf Durchführung eines Referendums stellt (Abs. 2). Dabei spielt es keine Rolle, wie (und ob überhaupt) die beantragenden Parlamentarier über den Text abgestimmt hatten und ob in ihrer Kammer die notwendige Zweidrittelmehrheit erreicht wurde oder nicht. Dieselbe Befugnis räumt die Verfassung auch einer Mindestzahl von Regionalparlamenten (mindestens fünf) oder von wahlberechtigen Bürgern (mindestens 500.000) ein (Abs. 2). Wird der Antrag von der vorgeschriebenen Mindestzahl von Parlamentariern, Wählern oder Regionalparlamenten fristgerecht erreicht, dann ist verpflichtend ein Referendum anzusetzen, bei dem das Wahlvolk mit einfacher Mehrheit entscheidet, ob die Verfassungsänderung angenommen wird. Kommt kein Antrag erfolgreich zustande, wird das mit einfacher Mehrheit verabschiedete Verfassungsgesetz ohne Referendum ausgefertigt.
Sowohl bei dem Vorhaben einer tiefgehenden Verfassungsänderung 2013 als auch bei der heftig diskutierten Verfassungsreform 2015-2016 tauchte in der verfassungsrechtlichen Debatte ein Disput darüber auf, ob es verfassungskonform sei, dass Mitglieder des Parlaments ein Referendum über eine Verfassungsänderung beantragen, der sie selbst zugestimmt hatten. Es wurde argumentiert, dass dadurch antiparlamentarische Tendenzen drohten und ausschließlich ein „oppositionelles Referendum“ dem Geiste der Verfassung entspreche. Diese Diskussion ist letztlich eingeschlafen, nicht nur weil keine Anhaltspunkte für eine derart restriktive Auslegung im Verfassungstext zu finden sind, sondern auch weil beide Reformvorhaben gescheitert sind, das zweite bekanntermaßen in einem gerade auch von den Befürwortern angestrebten Referendum. So oder so bahnte sich die traditionelle Scheu der italienischen Wähler vor Änderungen der Verfassung ihren Weg.
Anders könnte es mit dem diesjährigen Verfahren aussehen. Das rein „oppositionelle“ Referendum, das dieser Tage erfolgreich von 71 Senatoren beantragt wurde, um die Parlamentsverkleinerung zu verhindern, verspricht nicht den größten Erfolg. Die parallele Kampagne für einen Referendumsantrag unter einfachen Wahlberechtigten konnte nur 669 (sic!) statt der erforderlichen halben Million Unterschriften erreichen. Die ersten Umfragen über das zukünftige Referendum signalisieren eine Zustimmung von etwa 85% der Wähler für die beschlossene Parlamentsverkleinerung.
Man kann sich also fragen, wozu eigentlich ein solches Referendum genau dient. Die These eines „oppositionellen Referendums“, mit dem sich das Wahlvolk gegen eine herrschende Staatsführung wehren könnte, klingt vielleicht faszinierend, schießt aber weit über Ziel und Zweck der geltenden Verfassungsbestimmung hinaus. Diese dient dazu, dass bei parlamentarischen Entscheidungen über Verfassungsänderungen, die nicht die Zustimmung des erforderlichen Quorums erreichen, eine zusätzliche Verabschiedungsmöglichkeit eingeräumt wird. Es besteht aber weder eine Pflicht, das Volk bei verfehlter doppelter Zweidrittelmehrheit im Parlament abstimmen zu lassen, noch eine Beschränkung, welche Parlamentarier (oder gar Wähler) ein Referendum beantragen dürfen und welche nicht. Jedoch gilt auch eine einfache Mehrheit in der Volksabstimmung für oder gegen eine vorgeschlagene Verfassungsänderung als Ausdruck einer breiten politischen Akzeptanz, wie sie parlamentarisch nur durch eine doppelte Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern vermittelt würde. Das Ziel der Verfassung ist also, dass nur bei außerordentlich breiter Zustimmung das höchste Gesetz des Landes geändert werden darf. In diesem Sinne ist das Verfassungsreferendum des Art. 138 Abs. 2 ital. Verf. weder „oppositionell“ noch „bestätigend“, sondern es dient der Findung eines nationalen Konsenses über die Verfassung selbst.
Und so kehren wir zurück zum kommenden italienischen Verfassungsreferendum. Der Koalitionswechsel des letzten Sommers im Rom hat die Reform zur Parlamentsverkleinerung „in der Mitte ihres Lebensweges“ getroffen. Die sozialdemokratische PD konnte ihre Stimmen nur nach dem Einstieg in die Regierungsmehrheit für die Verfassungsänderung zusichern, freilich gegen andersgeartete Zusagen in der Koalitionsvereinbarung. Nachdem der Senat im Juli 2019 die Reform nur mit den Stimmen der vormaligen Regierungsmehrheit verabschiedet hatte – das heißt ohne Zweidrittelmehrheit –, konnte dieses Quorum im Unterhaus im Oktober doch erreicht werden. Das war freilich vergeblich, denn die Zweidrittelmehrheit hätte in beiden Parlamentskammern zustande kommen müssen, um ein Referendum zu vermeiden. Allerdings war damit der Weg für die Anberaumung einer neuen Volksabstimmung frei. Und das ist auch gut so, damit Änderungen der Verfassung im politischen Alltag nicht zum Zankapfel oder zur Verhandlungsmasse andauernd streitender Koalitionen werden.