22 August 2020

Dürfen oder Müssen?

Zur Maskenpflicht an Schulen und ihrer Verhältnismäßigkeit

Dank Corona ist die Bedeutung von Grundrechten und ihrem Schutz durch die Gerichte in den Fokus des Interesses und der öffentlichen Debatte geraten. Interessant sind dabei insbesondere die zutage tretenden Grundrechtsverständnisse, die unversehens in die Hoheitsgewässer der Grundrechtstheorie führen: Wogegen schützen die Grundrechte eigentlich genau? Welchen Schutz wovor gebieten sie umgekehrt? Welche neuen Grundrechtsdimensionen lassen sich in der Pandemie entdecken? Was müssen die staatlichen Gewalten tun, um Bürger*innen zu schützen?

Die politische Debatte in Deutschland verwendet im Meinungsaustausch mehr als in anderen Ländern verfassungsrechtliche Argumente. Das mag mit der überragenden Rolle des Bundesverfassungsgerichts zu tun haben, mit einer gewissen Rechts- und Gesetzesgläubigkeit, oder aber politischem Pragmatismus geschuldet sein, der unliebsame Debatten beenden möchte durch Verweis auf angeblich bindende verfassungsrechtliche Vorgaben. Ein interessantes Beispiel für diese Gemengelage von politischen Interessen und Grundrechtsfragen bietet die aktuelle Debatte um eine Maskenpflicht an Schulen. Exemplarisch sei die Gemengelage am Fall Schleswig-Holstein diskutiert, um eine verworrene und viele Menschen in Deutschland aktuell umtreibende Situation zu erhellen.

Das Fallbeispiel Schleswig-Holstein

Die Bildungsministerin des Landes Schleswig-Holstein Karin Prien (CDU), Rechtsanwälting von Beruf, hat in letzter Zeit wiederholt gesagt, wegen der Corona-Pandemie eine Maskenpflicht an Schulen einzuführen sei „unverhältnismäßig“. Schleswig-Holstein hat als eines der ersten Bundesländer nach den Sommerferien wieder mit dem Schulunterricht begonnen. Am 4. August 2020 im Deutschlandfunk interviewt, verwies die Ministerin auf die „dringende Empfehlung“ zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes, erklärte aber zu einer möglichen Maskenpflicht (ab Min. 6:38):

„Und warum machen wir jetzt keine Maskenpflicht? Weil wir das im Angesicht des immer noch niedrigen Infektionsgeschehens in Schleswig-Holstein für nicht verhältnismäßig halten. Wir müssen ja auch noch die Möglichkeit haben, uns auf eine sich möglicherweise verschlimmernde Situation einzustellen. … Und bitte, wir leben in einem Rechtsstaat, und Maßnahmen müssen verhältnismäßig sein.“

Die Praxis sah dann so aus, dass das Bildungsministerium es den einzelnen Schulen überließ, in ihren Hygienekonzepte eine Maskenpflicht vorzusehen. Am 19. August 2020 gab das Verwaltungsgericht Schleswig (Az. 9 B 23/20) ausweislich der Pressemitteilung dem Begehren eines Schülers statt, der im Wege einstweiligen Rechtsschutzes gegen die an seiner Schule angeordnete Maskenpflicht vorgegangen war – und zwar einzig aus verwaltungsprozessualen Gründen: Die Anordnung der Maskenpflicht sei ein Verwaltungsakt, gegen den der Schüler Widerspruch eingelegt habe. Dieser Widerspruch habe aufschiebende Wirkung, weil weder die sofortige Vollziehbarkeit angeordnet worden sei (§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO) noch die Schule Infektionsschutzbehörde sei, weshalb ihre Verwaltungsakte auch nicht sofort vollziehbar seien (§ 16 Abs. 8 IfSG). Soweit, so gewöhnliches Verwaltungsrecht. Explizit nicht äußerte sich das Verwaltungsgericht zur etwaigen grundrechtlichen Verhältnismäßigkeit einer Maskenpflicht.

In Reaktion auf diese Entscheidung kündigte Bildungsministerin Prien am selben Tage in einer Pressekonferenz an, die Landesregierung werde eine Ermächtigungsgrundlage für eine Maskenpflicht an Schulen in der Corona-Bekämpfungsverordnung SH (Corona-BekämpfVO SH) schaffen und ab Montag, 24. August 2020, eine Maskenpflicht für alle Begegnungszonen in Schulen – Flure, Schulhöfe etc. – einführen. Tatsächlich ist in § 12 Abs. 1 S. 1 der Verordnung festgelegt, dass sie für Bildungseinrichtungen, darunter allgemeinbildende Schulen, gerade nicht gilt. Gemäß § 12 Abs. 1 S. 2 der Verordnung erlässt vielmehr das Bildungsministerium „bereichsspezifisch Empfehlungen und Hinweise“. 

Auf der Webseite des Bildungsministeriums findet sich eine Mitteilung vom 20. August 2020, die eine Maskenpflicht ab Montag, 24. August 2020, ankündigt für Flure und Orte, an denen kohortenübergreifende Begnungen stattfinden, jedoch nicht für den Unterricht. Dort könne freiwillig eine Maske getragen werden. (Die Rechtsgrundlage für diese Entscheidung und die Entscheidung selbst habe ich nicht finden können, freue mich aber über Hinweise.) Ebenfalls am gestrigen 20. August 2020 erläuterte die Ministerin laut Zeitungsbericht, 60 von 791 Schulen in Schleswig-Holstein müssten ihre Hygienekonzepte überarbeiten, soweit diese eine Maskenpflicht vorsähen. Prien führt zur Begründung erneut an, eine Pflicht sei wegen der niedrigen Infektionszahlen im Land „derzeit nicht verhältnismäßig“.

Das Infektionsgeschehen

Das Niveau der Neuinfektionen erreicht aktuell in Schleswig-Holstein glücklicherweise in der Tat noch nicht wieder die Höchstände vom Frühjahr. Gleichwohl sind recht deutlich ansteigende Infektionszahlen zu beobachten (Daten der Landesregierung). Diese mögen im Vergleich der Bundesländer nicht herausstechen (absolute Infektionszahlen des RKI), müssen aber ins Verhältnis gesetzt werden zur Bevölkerungszahl und -dichte. In diesem Vergleich kommen in Schleswig-Holstein auf 100.000 Einwohner*innen nur 132 Infektionen, im Vergleich etwa zu Nordrhein-Westfalen mit 309 oder Bayern mit gar 411 Infektionen.

Was bislang über die Verbreitung des Corona-Virus bekannt ist, hat Karl Lauterbach mit besonderem Bezug auf die Öffnung der Schulen in einem sehr hörenswerten Interview in „Lage der Nation“ erläutert. 

So scheint weitgehend konsentiert, dass die Verbreitung des Corona-Virus im Wesentlichen von sogenannten Superspreader-Ereignissen ausgeht: Eine infizierte Person kann im engen Kontakt vielen andere anstecken, für 80 % der Ansteckungen sollen nur 10 % der Infizierten verantwortlich sein. Schulbetrieb bietet die idealen Voraussetzungen, dass solche Superspreader viele weitere Personen anstecken, falls keine geeigneten Maßnahmen dagegen ergriffen werden. Nur eine infizierte Person im Lehrkörper oder der Schülerschaft könnte zahlreiche andere Personen anstecken, die dann wiederum das Virus nach Hause und so möglicherweise zu Hochrisikopersonen im Verwandtenkreis tragen. 

Konsentiert ist weiterhin, dass das Virus auch, möglicherweise sogar vorwiegend über Tröpfcheninfektion (beim Sprechen ausgestoßene Speicheltröpfchen) sowie über Aerosole verteilt wird, die mit der Atemluft ausgestoßen werden (siehe hier). Aus diesem Grunde empfiehlt das Robert-Koch-Institut bereits seit Mitte April das Tragen eines einfachen Mund-Nasen-Schutzes. Solcher Mund-Nasen-Schutz reduziert die Wahrscheinlichkeit, dass eine infizierte Person andere Personen ansteckt, dient also primär dem Fremdschutz, nicht dem Eigenschutz (siehe hier). In Klassenräumen ist sowohl Tröpfcheninfektion als auch die Verteilung über Aerosole wahrscheinlich, wenn eine infizierte Person anwesend ist. Ein Mund-Nasen-Schutz aller im Klassenraum befindlichen Personen verringert die Wahrscheinlichkeit einer solchen Infektion von anderen Personen.

Unterschiedlich wird die Frage beantwortet, wie infektiös Kinder sind (Übersicht hier). Dass auch sie grundsätzlich ansteckend sein können, ist, soweit ersichtlich, aber unstrittig.

Die grundrechtliche Verhältnismäßigkeit

Wie ist diese Lage nun aus grundrechtlicher Sicht zu bewerten? 

Zentral ist in allen Grundrechtsangelegenheiten der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Dieser besagt nach gefestigter Grundrechtslehre, dass eine in Grundrechte eingreifende Maßnahme (1) einen an sich legitimen Zweck verfolgen und (2) überhaupt geeignet sein muss, diesen Zweck zu erreichen. Es darf (3) keine mildere Maßnahme geben, die den Zweck dennoch gleich gut erreicht. Und schließlich darf (4) die Eingriffsintensität der Maßnahme nicht außer Verhältnis zu dem mit der Maßnahme verfolgten Zweck stehen.

Wie dieser Grundsatz verfassungsgerichtlich zu prüfen ist, richtet sich nach dem konkret betroffenen Grundrecht, der zu prüfenden Maßnahme sowie ihrer Schwere, den von der Maßnahme Betroffenen und dem Kontext der Maßnahme. Wie so oft in rechtlichen Fragen verbieten sich einfache Antworten. Zu erörtern ist vielmehr immer die konkrete Situation, in einiger Genauigkeit.

Eine für den Schulbesuch sowie den Schulunterricht angeordnete Maskenpflicht könnte möglicherweise in das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG eingreifen, weil das Atmen erschwert wird. Allerdings wird mit unterschiedlichen Begründungen eine tatsächliche Veränderung am Körper verlangt, um von einem Eingriff sprechen zu können. Die Pflicht, einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen, greift deswegen nicht in das Recht auf körperliche Unversehrtheit ein (niemand wird körperlich „versehrt“). In Betracht kommt deswegen nur ein Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG („freie Entfaltung der Persönlichkeit“). Dieses Grundrecht wird als Auffanggrundrecht herangezogen, um jede Art staatlichen Handelns unter Rechtfertigungsvorbehalt zu stellen, das die Einzelnen irgendwie daran hindert, alles zu tun, was sie wollen. Die „Rechte anderer“ sind eine Grenze dieser Handlungsfreiheit, allerdings muss im modernen Verfassungsstaat diese Grenze rechtlich gezogen werden, etwa durch eine rechtmäßige Verordnung. Eine Maskenpflicht darf also nur auf rechtlicher Grundlage angeordnet werden.

Die Maskenpflicht würde angeordnet, um Leben und körperliche Unversehrtheit von Schüler*innen wie Lehrkräften zu schützen, indem die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung verringert wird. Das ist ein verfassungsrechtlich legitimer Zweck, weil den Staat die grundrechtliche Pflicht trifft, „sich schützend und fördernd vor das Leben der Einzelnen zu stellen (…) sowie vor Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit und der Gesundheit zu schützen (…)“, wie das Bundesverfassungsgericht in einer Corona-Eilentscheidung jüngst noch einmal betont hat (BVerfG[K], 12. Mai 2020, 1 BvR 1027/20, Rn. 6). Auch hier ist noch einmal zu betonen, dass nicht unmittelbar aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG eine Eingriffsgrundlage abgeleitet werden kann, sondern die vielmehr rechtlich geregelt werden muss (dazu grundlegend Wahl/Masing, JZ 1990, Schutz durch Eingriff).

Geeignet, das Ziel des Gesundheitsschutzes während der noch grassierenden Corona-Pandemie zu erreichen, ist eine Maskenpflicht allemal.

Gibt es ein milderes Mittel? In einem Tweet vom heutigen Tage legt Ministerin Prien nahe, freiwilliges Maskentragen sei ein solches milderes Mittel. Allerdings muss das Mittel gleich geeignet sein, das Ziel des Infektionsschutzes zu erreichen. Das scheint mir fraglich bei einer bloßen Empfehlung im Vergleich zu einem Gebot, dass auch zwangsweise durchgesetzt werden kann. Gerade der vom VG Schleswig entschiedene Fall legt nahe, dass es Personen geben kann, die keine Maske tragen wollen.

Stünde der aus einer Maskenpflicht resultierende Eingriff in die Allgemeine Handlungsfreiheit schließlich auch in einem angemessenen Verhältnis zum Zweck des Infektionsschutzes? Hier muss eine weitere Besonderheit des Schulbesuches erwähnt werden: Er ist verpflichtend (z.B. § 20 SchG SH). Wenn aber Schüler*innen staatlich verpflichtet werden, die Schule zu besuchen, so darf ihnen diese Pflicht nur zugemutet werden, wenn das Gesundheitsrisiko soweit als möglich minimiert wird (worauf Johannes Bethge zurecht hingewiesen hat). Das aber ist nur der Fall, wenn wenigstens die nach gegenwärtigem Stand möglichen Maßnahmen ergriffen werden, das Infektionsrisiko zu minimieren. Dies spricht aus meiner Sicht dafür, dass eine Maskenpflicht grundrechtskonform eingeführt werden könnte.

Wo kommt nun aber das aktuelle Infektionsgeschehen vor? Die Maskenpflicht ist nur solange grundrechtskonform möglich, als überhaupt eine Ansteckungswahrscheinlichkeit besteht. Wenn niemand mehr sich anstecken kann oder von einer Ansteckung keine gravierende Gesundheitsgefahr mehr ausgeht, dann ist natürlich auch eine Maskenpflicht obsolet. In der gegenwärtigen Lage jedoch, da es ausreicht, wenn eine einzige infizierte Person in einem Raum ist, um möglicherweise als „Superspreader“ zu wirken, kann der Verweis auf im Lande Schleswig-Holstein „vergleichsweise“ geringe Infektionszahlen nicht überzeugen. Eine Wette auf geringe Ansteckungswahrscheinlichkeit, wie Ministerin Prien sie offenbar einzugehen bereit ist, ähnelt russischem Roulette.

Verfassungsrechtlicher Anspruch auf Einführung einer Maskenpflicht?

Die verfassungsrechtliche Frage, ob eine Maskenpflicht eingeführt werden darf, ohne Grundrechte zu verletzen, ist von der Frage zu unterscheiden, ob eine Maskenpflicht eingeführt werden muss. Bei dieser Frage geht es darum, ob der Verfassung Vorgaben zu entnehmen sind, welche Maßnahmen die Politik während der Corona-Pandemie ergreifen muss.

Eine solche Pflicht zum Eingreifen könnte sich aus der schon erwähnten staatlichen Schutzpflicht für Leben und körperliche Unversehrtheit ergeben. Hier, so urteilt das Bundesverfassungsgericht, kommt „grundsätzlich … dem Gesetzgeber auch dann, wenn er dem Grunde nach verpflichtet ist, Maßnahmen zum Schutz eines Rechtsguts zu ergreifen, ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu (…)“ (neuerlich BVerfG[K], 12. Mai 2020, 1 BvR 1027/20, Rn. 6). Darauf scheint auch Ministerin Prien in einem Tweet von Freitag, 21. August 2020, abzuzielen, in dem sie schreibt, eine Maskenpflicht sei „beim niedrigen Infektionsgeschen in SH z.Z nicht ‚zwingend erforderlich‘“.

Die legislative (und administrative) Einschätzungsprärogative ist erst dann verletzt, „wenn Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen sind, wenn die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben (…)“ (BVerfG[K], 12. Mai 2020, 1 BvR 1027/20, Rn. 7). Diese Situation wird gemeinhin als Verletzung des „Untermaßverbotes“ bezeichnet.

Aus folgenden Gründen halte ich eine Maskenpflicht für zwingend geboten, ausnahmsweise also tatsächlich einmal das Untermaßverbot für relevant: 

Schüler*innen unterliegen der Schulpflicht, sie können dem Infektionsrisiko also nicht ausweichen. Lehrkräfte und weitere Angestellte an Schulen müssen ihren Dienstpflichten nachkommen, obwohl dem Bildungsministerium ihnen gegenüber eine grundrechtliche sowie beamten- bzw. arbeitsrechtliche Schutzpflicht obliegt (die GEW beklagt, nur 32 von 1.600 Anträge auf Freistellung wegen Vorerkrankung sei in Schleswig-Holstein Anfang August stattgegeben worden). Wenn eine Infektion einen schweren Verlauf nimmt, kann sie, selbst wenn sie nicht tödlich endet, doch dauerhafte Gesundheitsschäden nach sich ziehen. Hinzu kommt schließlich, dass der Kreis der Betroffenen auch die Familienmitglieder schulpflichtiger Kinder und Schulangehöriger betrifft.

Die Bundesländer dürfen also verfassungsrechtlich eine Maskenpflicht für Schulen auch dann anordnen, wenn die Infektionsraten „vergleichsweise“ gering sind. Weil Schüler*innen (und ihre Angehörigen) dem Geschehen in der Schule aufgrund der Schulpflicht jedoch zwangsläufig ausgesetzt sind, müssen die Länder sogar alle Maßnahmen ergreifen, um deren Leben und körperliche Unversehrtheit zu schützen.