Durch die Dunkelheit
Recht hat, wie wir wissen, viele Funktionen. Eine davon ist im vergangenen Jahr besonders deutlich hervorgetreten– Recht als gemeinsame Sprache, als Medium, das es uns erlaubt, miteinander zu kommunizieren. Während andere Kanäle nach und nach zusammenbrachen und Feindseligkeit und Schweigen an die Stelle von Dialog und Debatte traten, erlaubt uns das Recht, Konflikte innerhalb seiner Sprache, Regeln und Methoden auszutragen. Darin liegt ein großer Wert, denn miteinander zu reden – selbst im starren Stil des Legalismus, der die Lebenswirklichkeit so oft nicht abbildet – ist besser, als nicht zu reden.
Doch die Polarisierungen und Machtgefälle, die sich durch politische Diskurse ziehen, beschädigen auch das Recht und seine Sprache. Die Frage, wer sprechen darf – und wer gehört wird – ist unmittelbar mit epistemischen Ungleichheiten verknüpft.
Auf das Recht als Sprache auszuweichen hat jedoch auch seinen Preis: Je mehr wir politische Konflikte mit rechtlichen Mitteln ausfechten, desto brüchiger wird die Sprache des Rechts – das Politische vereinnahmt das Recht und lässt es von einer Sprache zu einem bloßen Sprachrohr verkommen. Die „Rede“, so wie Hannah Arendt es ausdrückte, „wird dann tatsächlich zu bloßem Gerede, einfach zu einem Mittel unter anderem, um den Feind zu täuschen oder jedermann durch Propaganda zu blenden; hier enthüllen die Worte nichts mehr“. Wie navigiert man einen rechtswissenschaftlichen Blog durch eine solche Umgebung?
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Academic freedom is a fundamental value that promotes freedom of science and the free exchange and expansion of human knowledge. Yet it is globally in decline. The GlobCon special issue ‘Academic freedom: Global variations in norm conceptualization, diffusion, and contestation’ explores what academic freedom means, how this may vary on a global level, how the norm spreads around the world, and what current contestations look like.
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Vor etwa einem Jahr veröffentlichten wir ein Editorial mit dem Titel „Menschenwürde“. Wir schrieben, dass unsere Verpflichtung auf die universelle und uneingeschränkte Menschenwürde eine Art Leitstern für unsere redaktionellen Entscheidungen nach dem Massaker vom 7. Oktober sei. Gleichzeitig haben wir bekräftigt, dass wir unsere Verpflichtung darin sehen, weiterhin Diskurse zu öffnen, anstatt sie zu schließen. An dieser doppelten Verpflichtung halten wir fest.
Ein Jahr später ist klar, wie schwierig es ist, beidem gerecht zu werden – gerade in einer Zeit, in der die Verständigung darüber schwindet, was die Menschenwürde in Bezug auf offene Diskurse überhaupt verlangt.
Manche Fälle sind einfach: Texte, die offen die Menschlichkeit oder Rechte einer Gruppe in Abrede stellen oder versuchen, rechtswidriges Handeln zu rechtfertigen, haben bei uns keinen Platz. Die weit überwiegende Mehrheit der Textvorschläge fällt (glücklicherweise) ohnehin nicht in diese Kategorie. In seltenen Fällen erreichten uns jedoch auch Beiträge, die in einer Grauzone liegen, sich im Halbschatten bewegen. In solchen Fällen lassen sich keine klaren Linien ziehen. Stattdessen versuchen wir, behutsam abzuwägen. Das ist ein Balanceakt, noch dazu in einer Umgebung zunehmend aggressiver Diskurse, ausgreifender Desinformationen und sich verfestigender Machtungleichgewichte.
Um in diesen Grauzonen zu navigieren, diskutieren wir solche Grenzfälle als Gruppe. Was uns als Redaktion dabei an Diversität fehlt, versuchen wir durch Empathie und sorgfältige Perspektivwechsel auszugleichen. Sind wir uneins, wenden wir uns an unser (diverseres) Advisory Board. Und dennoch: Uns unterlaufen dabei auch Fehler – und manchmal polarisieren Texte stärker, als wir dachten. Redaktionelle Fehler sind schmerzhafte und lehrreiche Lektionen für jede weitere Abwägung. Deshalb sind wir sowohl jenen dankbar, die unsere Entscheidungen konstruktiv kritisieren, als auch unseren mutigen Autor*innen, die beweisen, dass sie nicht nur Vertrauen in uns haben, sondern auch in den offenen Diskurs als gemeinsames Projekt. Gerade in einer Zeit, in der unvorstellbare Gewalt viele Menschen verstummen oder feindselig werden lässt.
Wir sind uns bewusst, dass wir besondere Verantwortung dafür tragen, welche Stimmen und Perspektiven wir in diesem spezifischen Konflikt veröffentlichen. Als Blog mit Sitz in einem Land, das die Sicherheit Israels als „Staatsräson“ begreift, beobachten wir, dass die Marginalisierung und das Silencing palästinensischer Stimmen offene Diskurse gefährdet. Dieser Trend hat sich im vergangenen Jahr verstärkt, die Wissenschafts- und Meinungsfreiheit in Deutschland geraten zunehmend unter Druck. Das ist nicht nur bestürzend, weil es ohnehin vulnerable Stimmen trifft, sondern auch, weil es gerade nicht dazu beiträgt, der Antagonisierung und Entmenschlichung im politischen Diskurs Einhalt zu gebieten. Dem wollen wir uns entgegenstellen.
Ebenso sehen wir, wie sehr jüdische Menschen in Angst leben, angegriffen werden und ja, auch Zensur und Silencing erfahren. Diese Realität zu ignorieren hieße, sich in selektiver Empathie zu üben und eine Entmenschlichung voranzutreiben, die uns unfähig macht, die Würde und Verletzlichkeit des anderen zu erkennen. Es ist entscheidend, beide Wahrheiten anzuerkennen und Ambivalenzen und Gleichzeitigkeiten nicht zu leugnen, sondern sie auszuhalten und anzuerkennen.
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Die Neuausgabe des Handbuchs des Staatsrechts bietet eine umfassende Darstellung des deutschen Staatsrechts, inklusive europäischer, internationaler und interdisziplinärer Aspekte. Es nimmt Stellung zu aktuellen Herausforderungen und liefert zukunftsweisende Ansätze. Band II behandelt Entstehung und Prinzipien des Staatsrechts, darunter Verfassungsgebung, Verfassungsänderung, Verfassungsauslegung, sowie Grundprinzipien wie Menschenwürde, Freiheit, Rechtsstaat und Sozialstaat.
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Deshalb wollen wir unterschiedlichen „Seiten“ weiterhin ermöglichen, ihre juristischen Argumente vorzutragen, solange sie anderen Menschen nicht ihre Würde absprechen. Wir glauben, dass eine andere redaktionelle Entscheidung der Bedeutung rechtlicher Diskurse nicht gerecht werden würde. Während Boykotte wirksame, subversive Strategien sein können, ist ihre Effektivität zumindest im (juristischen) Diskurs zweifelhaft. Akademische Boykotte bringen zum Schweigen, sie sind ein Mittel der Zensur. Sie verhindern, dass wir miteinander sprechen, also in Beziehung treten. Sie verhindern die Rede und deren relationale Qualität. Bevor wir gemeinsamen Boden finden können und mit ihm die Hoffnung auf Gemeinschaft und Heilung, müssen wir in der Lage bleiben, zu sprechen – nicht nur übereinander oder gegeneinander, sondern miteinander.
Um einen Neuanfang initiieren zu können, braucht Sprache einen Raum, „wo Menschen mit anderen sind und weder für noch gegen sie – das heißt in bloßer menschlicher Gemeinschaft“, schreibt Arendt. Als Blog glauben wir, dass es unsere zentrale Verantwortung ist, einen solchen Raum zu schaffen: einen Raum, der die Möglichkeit schützt, zu sprechen, sich auszutauschen, zu widersprechen, sich zu begegnen und sich zu verbinden – nicht nur wegen, sondern trotz der scheinbar unüberbrückbaren Gräben, des Schmerzes und des Leids, und auch wenn wir wieder und wieder scheitern, uns als gleichwertige Menschen anzuerkennen. Diese Verantwortung bedeutet auch anzuerkennen, dass Machtungleichheiten den Zugang zu diskursiven Räumen beschränken – und diesen Ungleichheiten bewusst etwas entgegenzusetzen. Sprache kann nur dann ihre relationale Wirkung entfalten, wenn alle, die sprechen wollen, mit am Tisch sitzen. In unserem Symposium zum Gutachten des Internationalen Gerichtshofs zu den rechtlichen Folgen von Israels Besatzungspolitik haben wir versucht, dieser Verantwortung gerecht zu werden.
Dies mag unbedeutend erscheinen oder, schlimmer noch, illusorisch – Kooperation und Dialog zur Schau tragen, wo sie in Wirklichkeit nicht existieren. Wir hoffen jedoch, dass zumindest das erfolgreiche Zustandekommen des Symposiums die Möglichkeiten sichtbar macht, die das Recht uns eröffnet: miteinander zu reden – selbst angesichts der schrecklichen Gewalt, die uns für die Menschlichkeit des anderen blind machen soll. In den Worten von Arendt: „Der kleinste Akt unter den beschränktesten Umständen trägt den Keim der (…) Grenzenlosigkeit in sich, denn eine Tat, und manchmal ein Wort, genügt, um jede Konstellation zu verändern.“
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Editor’s Pick
von JAKOB GAŠPERIN WISCHHOFF
„Mädchen, Frau, etc.“ verflechtet Fabeln über Schwarze Weiblichkeit, Identität, Rasse und Migration miteinander, wunderschön und nuanciert. Mit ihrer großartigen Schreibkunst klangen Bernadine Evaristo’s Erzählungen in mir nach, lange nachdem ich die letzte Seite gelesen hatte.
„if anyone asks her if she’s related to Osama bin Laden
if anyone tells her she’s responsible for them being unemployed
if anyone tells her she’s a cockroach immigrant
if anyone tells her to go back to her jihadist boyfriend
if anyone asks her if she knows any suicide bombers
if anyone tells her she doesn’t belong here and when are you leaving?
if anyone asks if she’s going to have an arranged marriage
if anyone asks her why she dresses like a nun
if anyone speaks slowly to her like she can’t speak English
if anyone tells her that her English is really good“
Bernadine Evaristo, Mädchen, Frau, etc., btb 2022, Taschenbuch, 560 S.
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Die Woche auf dem Verfassungsblog
… zusammengefasst von EVA MARIA BREDLER
Seit Solingen scheint sich die politische Debatte nur noch um Sicherheit zu drehen, Überwachung steht hoch im Kurs. Der bayerische CSU-Innenminister JOACHIM HERRMANN (DE) forderte „mehr Opferschutz durch Vorratsdatenspeicherung“, und Parteien aller Couleur verlangen die verpflichtende Speicherung von IP-Adressen. ERIK TUCHTFELD (DE) versachlicht: Die digitalen Ermittlungswerkzeuge, die der Strafverfolgung zur Verfügung stehen, waren noch nie besser, und die digitalen Datenpools, die analysiert werden können, waren noch nie größer, was andere Ermittlungsmethoden vielversprechender macht.
Als weniger vielversprechend könnte sich dagegen die Idee der Münchener Generalanwaltschaft herausstellen, ein Telefon der „Letzten Generation“ abzuhören, das diese als sog. „Pressetelefon“ nutzte. Inzwischen haben mehrere Journalisten Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. Das ist zu begrüßen, findet THORSTEN KOCH (DE), denn die Maßnahmen gegen Journalist*innen würfen Fragen auf, die im Lichte der Pressefreiheit grundsätzlicher Klärung bedürften.
Ein Jahr nach dem Hamas-Massaker steht Israel an der Schwelle zu einem regionalen Krieg mit dem Iran. Der Iran feuerte am 1. Oktober 2024 Raketen auf Israel ab. Mehrere Menschen wurden verletzt, und im Westjordanland starb ein Palästinenser. Der Iran beruft sich auf das Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 der UN-Charta als Reaktion darauf, dass Israel Führer der sogenannten „Achse des Widerstands“ tötete – ohne Erfolg, argumentiert NARIN NOSRATI (DE), denn es gebe keinen unmittelbaren bewaffneten Angriff gegen den Iran.
Außerdem grüßte diese Woche die koloniale Vergangenheit (und zeigte einmal mehr, dass sie nicht vergangen ist).
Ein Gruß kam aus dem Indischen Ozean, vom Chagos-Archipel, dem letzten kolonialisierten Gebiet Großbritanniens. Das Vereinigte Königreich übt offiziell Souveränität über das Archipel aus (obwohl der IGH in einem Gutachten fordert, es an die Chagossianer zurückzugeben, die in den 1960er Jahren zwangsweise deportiert wurden). Britten (gemeinsam mit Regierung von Mauritius) haben nun jedoch angekündigt, die Souveränität aufzugeben. SEBASTIAN VON MASSOW (EN) schildert, wie ein US-Militärstützpunkt, britische Kolonialgerichte und tamilische Flüchtlinge die Lage auf dem Archipel verkomplizieren – eine abenteuerliche Geschichte.
Der zweite Gruß kam (via dem EuGH) aus der Westsahara, einer ehemaligen spanischen Kolonie, auf die sowohl Marokko als auch das indigene saharauischen Volk (vertreten durch die Frente Polisario) Ansprüche geltend machen. Die Westsahara gilt als nicht-selbstverwaltetes Gebiet, der IGH erkannte ein Recht auf Selbstbestimmung der Bevölkerung an. Seit Jahrzehnten wird über Verträge gestritten, die die EU mit Marokko geschlossen hat und die ausdrücklich auf das Gebiet der Westsahara anwendbar sein sollen. Am 4. Oktober 2024 hat der EuGH diese Verträge der EU nun für ungültig erklärt, da sie Völkerrecht verletzten – das gab es noch nie. JED ODERMATT (EN) erklärt, warum (und wessen) Zustimmung zu den Verträgen entscheidend ist.
Internationales und EU-Recht kollidieren derzeit auch auf Malta, wo das maltesische Investitionsbürgerschaftsprogramm grundsätzliche Fragen aufwirft. Der Konflikt dreht sich um die Frage, ob das EU-Recht Anforderungen für den Erwerb der Unionsbürgerschaft aufstellt und ob eine „echte Verbindung“ zwischen dem jeweiligen Staat und der Einzelperson erforderlich ist. Letzte Woche gab Generalanwalt Collins in der Sache seine mit Spannung erwartete Stellungnahme ab und schlug vor, die Klage der Kommission gegen Malta abzuweisen. MARTIJN VAN DEN BRINK (EN) findet es „schwer, dem Generalanwalt zu widersprechen“. LUKE DIMITRIOS SPIEKER (EN) widerspricht wiederum Brink.
Unterdessen befasste sich EGMR im Fall M.D. and Others v Hunga