06 October 2024

Angriff im Deckmantel der Selbstverteidigung

Warum der iranische Raketenangriff nicht vom Recht zur Selbstverteidigung gedeckt war

Die Regierung der Islamischen Republik Iran feuerte am 1. Oktober 2024 Raketen auf Israel. Hierbei gab es mehrere Verletzte, ein Palästinenser im Westjordanland kam ums Leben.  Der Iran  beruft sich auf das Selbstverteidigungsrecht aus Artikel 51 der UN-Charta als Reaktion auf die Tötung von Führungskräften seiner sogenannten „Achse des Widerstands“ durch Israel. Der Konflikt zwischen Israel und der Hamas seit dem 7. Oktober 2023 droht in der Region zu einem Krieg zwischen Israel und Iran zu eskalieren. Beide Parteien berufen sich auf das Recht zur Selbstverteidigung. Doch das Selbstverteidigungsrecht einer Partei schließt gleichzeitig das Recht der anderen aus. Wer kann sich also tatsächlich auf dieses Recht berufen?

Das Recht auf Selbstverteidigung im Völkerrecht

Das Recht auf Selbstverteidigung ist in Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen (UN-Charta) verankert und kann die Anwendung von Gewalt, die ansonsten das Gewaltverbot der UN-Charta verletzten würde, rechtfertigen. Artikel 51 besagt, dass die UN-Charta nicht das naturgegebene Recht auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung im Falle eines bewaffneten Angriffs beschränkt, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens erforderlichen Maßnahmen ergreift. Er definiert nicht, wann das naturgegebene Recht zur Selbstverteidigung besteht und wie es auszuüben ist. Allgemein im Völkerrecht anerkannt ist, dass für die Geltendmachung des Selbstverteidigungsrechts ein bewaffneter Angriff vorliegen muss und die Gewaltanwendung als Reaktion auf diesen erforderlich und verhältnismäßig zu sein hat. Zudem müssen Maßnahmen im Rahmen der Selbstverteidigung unverzüglich dem Sicherheitsrat angezeigt werden.

Bestand ein bewaffneter Angriff gegen den Iran?

Der Iran beruft sich auf „Terrorakte“ in Teheran und gegen andere iranische Ziele durch Israel. Gemeint ist damit die Tötung von Hamas-Führer Ismail Haniyeh während eines Aufenthaltes in der iranischen Hauptstadt Teheran am 31. Juli 2024. Zudem wird Israel zugeschrieben, weitere Mitglieder der irannahen Proxies getötet zu haben, so kürzlich den Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah durch einen Luftangriff in Beirut, Libanon. Der Iran sieht darin einen Angriff auf sich und seine „Achse des Widerstands“. Darunter zählen der Islamischen Republik Iran ideologietreue Gruppen in anderen Ländern des Nahen Ostens, u.a. die Hamas im Gazastreifen, die Hisbollah im Libanon sowie die Houthis im Jemen. Als sogenannte Proxies vertreten sie die Interessen des Iran in den Nachbarländern, werden aber nicht unmittelbar und effektiv vom Iran kontrolliert, wodurch der Iran sich der völkerrechtlichen Verantwortung weitestgehend entziehen kann.

Selbstverteidigung gegen nichtstaatliche Akteure?

Allerdings stützt nicht nur der Iran, sondern auch Israel seine jüngsten Operationen auf ein Recht zur Selbstverteidigung. Sollten die israelischen Operationen gegen Haniyeh, Nasrallah und weitere Mitglieder iranischer Proxies durch das Recht auf Selbstverteidigung gerechtfertigt sein, könnte sich der Iran nicht seinerseits auf ein Selbstverteidigungsrecht berufen.

Da Israel gegen Angriffe von Hamas und Hisbollah vorgeht, muss zunächst die zentrale Frage adressiert werden, ob ein bewaffneter Angriff zwingend einem Staat zugerechnet werden können muss, um das Selbstverteidigungsrecht auszulösen. Die Frage ist vorliegend deshalb entscheidend, weil es sich bei Hamas und der Hisbollah zwar um Proxies handelt, das Handeln beider Gruppen aber nicht unmittelbar dem Iran zugerechnet werden kann. Denn die Ausbildung und Ausstattung nichtstaatlicher Akteure allein reicht noch nicht aus, um nicht-staatliche Gruppen  als de facto-Organe des Unterstützerstaates zu werten, wie der IGH im Fall Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v. United States of America) festgestellt hat. Scheidet ein Selbstverteidigungsrecht damit also aus? Artikel 51 der UN-Charta spezifiziert nicht, dass der Angriff von einem Staat ausgehen muss, sondern lediglich, dass sich der Angriff gegen einen Staat richten muss. Anders als noch der IGH, der im Fall Nicaragua v. United States of America und in seinem Rechtgutachten zu Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory davon ausging, dass es eines Angriffs durch einen Staat bedarf, kann inzwischen eine Veränderung des Rechtsverständnisses durch die opinio iuris der Staatengemeinschaft beobachtet werden. Nach den Terroranschlägen des 11. September betrachteten viele Staaten die militärischen Reaktionen der Vereinigten Staaten gegen den nichtstaatlichen Akteur Al-Qaida als eine legitime Selbstverteidigung (siehe die Sicherheitsratsresolutionen 1368 (2001) und 1373 (2001)). Zudem spricht der Sinn und Zweck des Rechts auf Selbstverteidigung – den Staaten legitime Handlungsoptionen bei Angriffen gegen sich zuzugestehen – für ein weites Verständnis, das sich nicht nur auf Angriffe staatlicher Akteure beschränkt. Nichtstaatliche Akteure spielen schließlich in globalen Konflikten in den vergangenen Jahrzenten eine zentrale Rolle.

Selbstverteidigung auf fremdem Staatsgebiet?

Allerdings darf die Selbstverteidigung nicht ohne Weiteres auf fremdem Territorium ausgeübt werden. Dies verletzt in der Regel das Recht des anderen Staates auf territoriale Integrität. Anders sieht es aus, wenn ein nichtstaatlicher Akteur in einem anderen Staat ansässig ist und dieser Staat nicht willens oder in der Lage ist, effektiv gegen den nichtstaatlichen Akteur vorzugehen (unwilling or unable-Doktrin). Dann könnte ein Angriff gegen den nichtstaatlichen Akteur auf dem Territorium dieses Staates gerechtfertigt sein. Das kann im Fall der Hisbollah angenommen werden, die im Libanon ansässig ist und dort im Grunde frei agiert.

Anders ist das im Fall von Hamas-Führer Haniyeh, der in der iranischen Hauptstadt Teheran getötet wurde. Die Hamas ist nicht im Iran ansässig. Dennoch unterstützt Iran die Hamas. Zudem lud der Iran Haniyeh zu einem offiziellen Besuch ein und gewährte ihm öffentliche Auftritte. Reicht dies aus, um einen Angriff durch Israel auf iranischem Territorium zu rechtfertigen? Die Beurteilung ist umstritten. Israels extraterritorialen Angriff allein über Irans Unterstützung der Hamas zu rechtfertigen ist schwer vertretbar. Bei einem anschließenden Treffen des UN-Sicherheitsrats wurden Bedenken hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des Angriffs mit Blick auf territoriale Integrität und Souveränität Irans geäußert. Auch die Europäischen Kommission äußerte sich kritisch.

Selbstverteidigung on hold – der zeitliche Aspekt

Doch kann der Iran seinen Raketenangriff deshalb auf ein Recht zur Selbstverteidigung abstützen? Die Antwort ist nein. Auch wenn man in der Tötung Haniyehs einen ungerechtfertigten bewaffneten Angriff auf Irans Territorium sieht, setzt eine Selbstverteidigungslage voraus, dass ein gegenwärtiger bewaffneter Angriff vorliegt (oder aber die Bedrohung durch einen unmittelbar bevorstehenden Angriff). Das ist vorliegend nach keiner denkbaren Sichtweise der Fall. Vielmehr kam es dem Iran gerade darauf an, Israel in einem möglichst unerwarteten Moment mit einem Angriff zu überraschen. Es ging dabei nicht um die Abwehr des am 31. Juli beendeten Angriffs auf Haniyeh, sondern um Vergeltung, mit der der Iran bereits seit Wochen droht.  Auch aus objektiver Perspektive lässt sich nicht argumentieren, dass die fast 200 Raketen auf Israel einen gezielten und vom Ausmaß begrenzten Angriff auf einen Hamas-Führer zwei Monate zuvor im Rahmen der Selbstverteidigung abwenden sollen.

Infolge der jüngsten Angriffe auf Mitglieder der Hisbollah, könnte der Iran sich einer anhaltenden Bedrohung vor ähnlichen Angriffen gegen sich ausgesetzt sehen, wenn er seine Proxies weiterhin unterstützt. Das Konzept der antizipierten Selbstverteidigung ist umstritten und nur im Fall von konkreten Hinweisen auf eine unmittelbar bestehende Bedrohung anzunehmen, die keine Wahl der Mittel lässt (Caroline-Kriterien). Mit der abstrakten Gefahr weiterer Angriffe auf seine Proxies, lässt sich daher kein Selbstverteidigungsrecht Irans begründen.

Fazit und Ausblick

Unabhängig davon, ob man den israelischen Angriff auf den Hamas-Führer in Teheran vom Recht auf Selbstverteidigung umfasst sieht, kann sich der Iran bei seinem Raketenangriff auf Israel nicht auf ein Recht zur Selbstverteidigung berufen: Entweder lag kein bewaffneter Angriff durch Israel vor, oder die militärische Reaktion war zu dem Zeitpunkt nicht mehr erforderlich.

Kann Israel jetzt also seinerseits einen Vergeltungsschlag durchführen? Mangels Rechtfertigung des iranischen Angriffs, steht Israel grundsätzlich ein Recht auf Selbstverteidigung gegen den Iran zu. Je mehr Abstand zum Angriff entsteht, desto schwieriger ist es allerdings, eine Reaktion als erforderlich zu rechtfertigen, um den Angriff abzuwenden. Allerdings kann eine Verteidigung im Einzelfall weiterhin erforderlich bleiben, wenn die Gefahr vom Aggressor fortwirkt. Mit Blick auf die Unterstützung der Proxies, den in diesem Jahr bereits zweiten Raketenangriff auf Israel und Irans langbestehendem Vernichtungswunsch, kann im Rahmen des aktuellen Konfliktes von einer fortwirkenden Gefahr seitens Iran ausgegangen werden. Dies stellt jedoch lediglich eine abstrakte Gefahr dar, die allein keine Selbstverteidigungslage begründet (s.o.). Der Iran hat den Raketenangriff zudem als Reaktion auf vorheriges israelisches Handeln benannt, wodurch der Angriff wohl beendet ist und vorerst keine konkrete Gefahr mehr besteht. Anders wäre dies zu werten, wenn man Iran eine operative Steuerung seiner Proxies zuspricht, wie teilweise vermutet wird. Dann ließe sich in der Gesamtschau der Handlungen von Hamas und Hisbollah eine konkrete Gefahr ausgehend vom Iran annehmen, was mit Blick auf völkerrechtliche Zurechnungsfragen aber nicht unstreitig ist. Nicht zuletzt könnte ein (zeitlich versetzter) Gegenschlag Israels, den Netanyahu angekündigt hat, zu einer weiteren Eskalation, wenn nicht gar zu einem großflächigen Krieg führen. Auch wenn das Völkerrecht in der Region zunehmend an Normativität und Einfluss zu verlieren scheint, zeigt dieser Fall doch eindrücklich: Ohne dessen Einhaltung drohen unkontrollierte Eskalationen – und es bleibt das unverzichtbare Fundament für Frieden und Stabilität.