15 December 2022

E-Books for the Common Good

Der Prozess gegen das Internet Archive in den U.S.A.

Das Internet Archive ist eine Institution. Bekanntestes Projekt dieser 1996 von Brewster Kahle gegründeten, aus den U.S.A. operierenden digitalen Bibliothek ist die Wayback Machine. Sie ermöglicht es Nutzer:innen, eine Zeitreise durch 771 Milliarden archivierte Webseiten zu unternehmen, von denen viele nicht mehr abrufbar sind. Daneben betreibt das Archive unter anderem eine Leihbibliothek für E-Books. Diese Open Library ist nun Gegenstand einer Klage von vier Verlagen, in der es um die urheberrechtswidrige Nutzung von 127 Titeln geht – und die den Zugang zu Millionen Titeln verschließen könnte.

Digitale Notfallbibliothek

Während der ersten Welle der Corona-Pandemie, als öffentliche und Universitätsbibliotheken aufgrund der nationalen Notlage (national emergency) in den U.S.A. geschlossen waren und die Nachfrage nach digitalem Content über Nacht rasant anstieg, entschieden sich die Betreiber des Archive, auf einen Teil der üblicherweise geltenden Restriktionen für ihr E-Lending-Angebot zu verzichten. Normalerweise ermöglicht das Archive jeweils nur einem Nutzer Zugriff auf eine Kopie der damals 1,4 Millionen (heute 3,9 Millionen) urheberrechtlich geschützten Titel, die es in seinem Bestand hat: one copy, one user. Alle anderen können sich in eine Warteliste eintragen. So repliziert das Archive künstlich die Situation, wie sie bei gedruckten Büchern besteht; ein solches Buch kann eine Bibliothek nicht an mehrere Personen gleichzeitig übergeben.

Nachdem die Wartelisten im Frühjahr 2020 immer länger geworden waren, setzte das Archive die Regel one copy, one user außer Kraft. Aus der Open Library wurde die National Emergency Library. Fortan durften mehrere Nutzer:innen gleichzeitig auf eine Kopie zugreifen. Die anderen Bedingungen der Open Library galten fort: Nutzer:innen erhielten für maximal 14 Tage Zugang zum Werk und durften eine Kopie davon herunterladen. Die Dateien waren mit technischen Schutzmaßnahmen versehen, die weitere Kopien unmöglich machten und die Dateien nach Ablauf der Leihfrist automatisch löschten. Autor:innen, nicht aber Verlagen, ermöglichte das Archive, der Nutzung ihrer Werke durch die National Emergency Library zu widersprechen.

Ärgernis für Verlage

Verlagen war die Leihbibliothek des Archive schon immer ein Dorn im Auge, denn das Archive hat für die darin enthaltenen Werke keine Verträge mit ihnen geschlossen. Es stellt selbst angefertigte Scans von gedruckten Büchern zur Verfügung. Dafür arbeitet es mit U.S.-amerikanischen Bibliotheken zusammen und nimmt Bücherspenden entgegen. Die Bücher müssen die Beteiligten legal erworben haben. Von jedem physischen Exemplar stellt das Archive nur eine Kopie online. Solange jemand über das Archive Zugriff auf ein E-Book erhält, erlauben die kooperierenden Bibliotheken nicht die Ausleihe des Buches, auf dem das Digitalisat beruht; auch das Archive leiht seinen physischen Bestand nicht aus. Weder Archive noch Bibliotheken zahlen den Verlagen eine Vergütung.

Die National Emergency Library brachte das Fass nun zum Überlaufen. Anfang Juni 2020 verklagten vier große Publikumsverlage das Archive: Hachette, Harper Collins, Penguin Random House und Wiley. Nach Erhalt der Klage schloss die National Emergency Library ihre Tore. Seither „verleiht“ das Archive die E-Books wieder nach dem Modell one copy, one user – in der Open Library. Zudem hat es sein Angebot dadurch weiter beschränkt, dass Nutzer:innen grundsätzlich nur noch über die Webseite des Archives auf die Werke zugreifen dürfen und das auch nur für eine Stunde – allerdings mit Verlängerungsmöglichkeit. Den Zugriff für 14 Tage und den Download während der Leihfrist ermöglicht das Archive nur noch für „Dubletten“, also dann, wenn es mehrere Kopien eines Buches anbietet.

In welchem Umfang das Archive die Open Library in Zukunft wird fortführen können, ist unklar. Die Klage der Verlage richtet sich nicht nur gegen Nutzungen in der National Emergency Library. Die Verlage machen geltend, dass auch die Nutzungen in der Open Library gegen das Urheberrecht verstoßen. Der Rechtsstreit läuft. Im Oktober 2022 hat das Archive seinen Antrag auf Klageabweisung im Schnellverfahren noch einmal präzisiert.

Der Fall wird sehr emotional geführt, mit ihm ist die nächste Runde der sprichwörtlichen copyright wars eingeleitet. Maria Pallante, Präsidentin und CEO der American Publisher’s Association und ehemalige Leiterin des U.S. Copyright Office, etwa befand: „It is the height of hypocrisy that the Internet Archive is choosing this moment—when lives, livelihoods and the economy are all in jeopardy—to make a cynical play to undermine copyright, and all the scientific, creative, and economic opportunity that it supports.“ Auch die klagenden Verlage selbst gehen mit dem Archive nicht zimperlich um. Sie werfen ihm „Piraterie“ (piracy) vor und sprechen davon, dass das Archive Werke „gestohlen“ habe (stolen works), indem es sie seinen Nutzer:innen zur Verfügung stelle. Bücher seien ein „cornerstone of our culture and system of democratic self-government“; das Archive habe dem „publishing ecosystem so critical to the world of our books“ geschadet.

Die Vorlage für den Vorwurf, dass das Archive die Pandemie als Vorwand genutzt habe, um seine lang gehegten Ziele zu verwirklichen, hatte Brewster Kahle selbst geliefert. In einer Pressemitteilung hatte er die National Emergency Library wie folgt beschrieben: „This was our dream for the original Internet coming to life: the Library at everyone’s fingertips.“ Vor Gericht betont das Archive nun, seine Mitarbeiter:innen seien „librarians, striving to serve their patrons online just as they have done for centuries in the brick-and-mortar world“. Die Verlage versuchten, ein neues Recht zu etablieren, das dem U.S.-amerikanischen Urheberrecht bislang fremd sei, „the right to control how libraries lend books“.

Technik und Fairness

Tatsächlich aber ist die Rechtslage komplizierter, als das Archive glauben machen möchte. Bei gedruckten Büchern erschöpft sich das Recht an der Verbreitung eines Werkexemplars, sobald dieses mit Zustimmung des Rechtsinhabers in Verkehr gelangt ist (first sale doctrine): Sobald ich ein Buch im Buchladen gekauft habe, darf ich es lesen, verschenken, verleihen oder sogar weiterverkaufen, ohne die Rechtsinhaberin um Erlaubnis bitten zu müssen. Was ich nicht bzw. nur unter engen Voraussetzungen darf, ist, Kopien des Buches zu erstellen. Das Kopieren betrifft nämlich das Vervielfältigungsrecht, und auf dieses Recht ist die first sale doctrine nicht anwendbar. Beim E-Lending passiert aber genau das; bei jedem „Ausleihvorgang“ wird – wenigstens im Arbeitsspeicher der Bibliotheksnutzerin – eine neue Kopie des Werkes erstellt. Ob der Erschöpfungsgrundsatz auch auf solche Sachverhalte Anwendung findet, obwohl dafür rein technisch eine Vervielfältigung erforderlich ist, wird seit Jahren kontrovers diskutiert. In den U.S.A. ist die Frage höchstrichterlich noch nicht entschieden. Der Second Circuit hat in ReDigi geurteilt, dass der Erschöpfungsgrundsatz auf den kommerziellen „Weiterverkauf“ nicht anwendbar ist.

Die first sale doctrine ist denn auch nicht das einzige Element der Verteidigungsstrategie des Archive. Es beruft sich zudem und vor allem auf den zentralen gesetzlichen Erlaubnistatbestand des U.S.-amerikanischen Urheberrechts, die sogenannte fair use defense (17 U.S.C. § 107). Er verpflichtet Gerichte dazu, die widerstreitenden Interessen insbesondere anhand von vier Faktoren abzuwägen: Zweck und Charakter der Nutzung; Natur des urheberrechtlich geschützten Werkes; Umfang und Wichtigkeit des genutzten Teils des Werkes im Verhältnis zum Gesamtwerk; Effekt der Nutzung für den potenziellen Markt oder Wert des geschützten Werkes. Ist eine Nutzung hiernach rechtmäßig, ist sie vergütungsfrei zulässig.

Ob die Nutzungen des Archive von fair use gedeckt sind, ist umstritten. Bislang wurde kein vergleichbarer Fall vor Gericht verhandelt. Wie üblich, wenn sich Nutzer:innen auf diesen Erlaubnistatbestand berufen, hängt der Ausgang des Falles insbesondere davon ab, ob die Nutzung nicht-kommerziell und transformativ ist (1. Faktor) und inwiefern die Open Library Verlagsangebote substituiert (4. Faktor). Zum 1. Faktor spricht gegen das Archive, dass es komplette Werke zur Lektüre anbietet, ebenso wie die Verlage es mit ihren E-Books tun. Transformativ ist die Nutzung mithin höchstwahrscheinlich nicht (auch wenn das Archive argumentiert: We „weave books into the web“). Insofern unterscheidet sich der Fall von Google Books, wo jeweils nur Ausschnitte von Werken für Recherchezwecke zur Verfügung standen. Wenigstens aber ist das Archive nicht kommerziell tätig. Bei nicht-kommerziellen Nutzungen greift nach dem Urteil des U.S. Supreme Court in Sony hinsichtlich des 4. Faktors eine Beweislastumkehr (s. dazu auch den Amicus Curiae Brief von Rebecca Tushnet und anderen): Die Verlage als Kläger müssen beweisen, dass das E-Lending-Angebot des Archive einen Effekt für den potenziellen Markt oder den Wert der geschützten Werke hat. Beide Parteien haben bereits Expert:innen in Stellung gebracht, die beweisen sollen, dass derartige Effekte bestehen bzw. nicht bestehen.

Eine Klage, drei Modelle

Für die rechtliche Würdigung ist wichtig, dass drei unterschiedliche Modelle auf dem Tisch liegen. Am wenigsten problematisch ist das nach Klageerhebung geschaffene Modell des einstündigen Zugriffs über die Webseite des Archive. Es ermöglicht vor allem die gezielte Recherche in einem bestimmten Werk; Verkauf und auch Verleih von E-Books durch Verlage werden dadurch höchstwahrscheinlich nur marginal beeinträchtigt. Etwas komplexer ist die Lage bei dem klagegegenständlichen Modell der Open Library für „Dubletten“: Zugriff und Downloadmöglichkeit für 14 Tage. Die Nutzungsmöglichkeiten ähneln jenen, die Verlage für den Verleih von E-Books vorsehen. Abgemildert werden die Konsequenzen allerdings erstens dadurch, dass die Kopien zwar auf Endgeräten gelesen werden können, nicht aber auf E-Book-Readern wie dem Kindle. Zweitens soll die Regel one copy, one user sicherstellen, dass das E-Lending wirtschaftlich keine wesentlich nachteiligeren Folgen für die Verlage hat als der Verleih analoger Bücher durch öffentliche Bibliotheken, der in den U.S.A. vergütungsfrei zulässig ist (17 U.S.C. § 108). Dass sich auch dieses Modell mit guten Argumenten unter fair use subsumieren lässt, ist wahrscheinlich der Grund, weshalb die Verlage das Archive nicht längst verklagt hatten, obwohl die Open Library bereits seit 2006 besteht.

Hingegen erscheint es plausibel, dass mehr Menschen E-Books erworben oder bei kommerziellen Anbietern „geliehen“ hätten, wenn sie Werke im Frühjahr 2020 nicht über die National Emergency Library hätten beziehen können – ohne Geltung von one copy, one user. Allerdings beruhten diese Effekte auch darauf, dass den Menschen die Alternativen fehlten. 2020 war nicht nur deswegen ein sehr gutes Jahr für die Verlage, weil Menschen mehr Zeit zum Lesen hatten. Den Verlagen hat auch in die Hände gespielt, dass Bibliotheken geschlossen waren. Die vielen Millionen Bücher, die dort normalerweise zur Verfügung stehen, waren nicht erreichbar; die Bibliotheken konnten auf die Schnelle keine eigene Infrastruktur aufbauen, um die Werke selbst unter Geltung von one copy, one user anzubieten. Das Archive funktionierte somit als Aggregator für Bibliotheken in den U.S.A. und darüber hinaus. Für Überlegungen zur Versorgungssicherheit für Wissensressourcen bietet die (für nicht-transformative Nutzungen) stark auf Marktlogiken ausgerichtete fair use defense aber keinen natürlichen Anker. Dieser findet sich allenfalls in der Urheberrechtsklausel der U.S.-Verfassung (Art. 1 Sect. 8 Clause 8), wonach das Urheberrecht dazu dient, den Fortschritt der Künste und damit auch den Zugang zu Wissen zu fördern. Dass der U.S. District Court in New York darauf Bezug nehmen wird, ist nicht sehr wahrscheinlich. Bislang hat sich der U.S. Supreme Court, etwa in Harper & Row, nicht bereit gezeigt, verfassungsrechtliche Positionen außerhalb der exceptions and limitations abzuwägen, die der Copyright Act vorsieht. Es nimmt denn auch kein Wunder, dass das Archive selbst innerhalb der Struktur von fair use argumentiert. Die größte Hoffnung des Archive besteht also darin, dass die Verlage den Nachweis eines relevanten Markteffekts schuldig bleiben (s. dazu den Amicus Curiae Brief von Jason M. Schultz und anderen).

Same same oder Ende von allem?

Selbst wenn das Archive unterliegen sollte, bedeutet das aber nicht unbedingt das Ende der Open Library. Gegenstand der Klage sind 127 im Buchhandel erhältliche und kommerziell erfolgreiche Bücher von Publikumsverlagen. Für sie und vergleichbare Werke wird ein etwaiges Urteil bindend sein. Für die vielen, in der Open Library erhältlichen Werke, die im Buchhandel nicht oder doch wenigstens nicht in digitaler Form erhältlich sind, gibt es hingegen keinen Markt, der durch die Nutzung beeinträchtigt wird. Bei einigen dieser Werke sind die Rechtsinhaber nicht einmal bekannt und/oder mit vernünftigem Aufwand auffindbar. Auch bei den vielen wissenschaftlichen Werken, die in der Open Library erhältlich sind, sind die ökonomischen Bedingungen der Verwertung andere als etwa in der Belletristik. Darauf weist bereits die Entscheidung der Wissenschaftsverlage hin, sich nicht an der Klage gegen das Archive zu beteiligen: Ihre wichtigsten Vertragspartner sind Universitäten, und die wenigsten Universitäten werden einen Lizenzvertrag kündigen, weil das Werk, das Gegenstand des Vertrages ist, in einer selbstgestrickten Version über das Archive erhältlich ist. All diese Werke könnte das Archive also auch künftig anbieten, so es die finanziellen Mittel dafür hat. Die könnten allerdings fehlen, wenn das Gericht befinden sollte, dass das Archive vorsätzliche Urheberrechtsverletzungen begangen hat. Dann könnte es den Verlagen Schadensersatz in einer Höhe zusprechen, die das Archive finanziell ruinieren und sämtliche Projekte gefährden würde – selbst die Wayback Machine.