28 September 2015
Ohrfeige im Polizeigewahrsam: Menschenwürde kennt keine Bagatellgrenze
Es ist so lange nicht her, dass der Schlag ins Gesicht des Gegenübers eine wenn schon nicht übliche, so doch im Großen und Ganzen sozial akzeptierte und respektierte Sache war. Mit einer Ohrfeige stellt die Frau ihre Ehre, mit einem Fausthieb der Mann seine Männlichkeit, und mit einem ganzen Assortissement aus Klapsen, Nasenstübern, Watschen, Kopfnüssen und weißgottnichtallem alle beide ihre Autorität gegenüber aufmüpfigen Kindern wieder her. Immer ins Gesicht musste es jedenfalls gehen, aus dem der Geschlagene gerade noch so unverschämt und rotzfrech herausgeschaut hat, anstatt, wie es sich gehört, die Augen schamvoll zu Boden zu richten. Das ist zwar heute umfassend verboten, aber wenn die Frechheit nur groß genug ist, sind wir auch heute nicht gefeit davor, das schon mal ganz in Ordnung oder zumindest verständlich zu finden, wenn da jemandem "die Hand ausrutscht". Dieser Art von klammheimlichem Verständnis hat heute die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs, zumindest was die Polizei betrifft, ein klares Ende bereitet.22 September 2015
Vermittlungsausschuss: BVerfG streckt die Waffen vor der Flucht ins Informelle
Jedes Verfahren zur Entscheidungsfindung kann nur entweder perfekt effizient oder perfekt legitim sein. Das Parlaments- und Staatsorganisationsrecht steckt voller Versuche, zwischen diesen beiden Polen eine prekäre Balance herzustellen: Das Repräsentationsprinzip ist so einer. Die Fünfprozentklausel ein weiterer. Das Zusammenspiel von Mehrheitsprinzip und Minderheitenrechten. Und das sind genau die Stellen, an denen das Recht nie zur Ruhe kommt und immer neue BVerfG-Entscheidungen gebiert. Ein recht aktiver Eruptionsherd dieser Art ist das Thema Vermittlungsausschuss, und der ist heute in Gestalt einer Senatsentscheidung aus Karlsruhe erneut eindrucksvoll ausgebrochen. Um das Ergebnis vorweg zu nehmen: Im Zweiten Senat scheint unter den Kräften, die hier miteinander ringen, die Effizienz im Augenblick die Oberhand über die Legitimität zu behalten.02 September 2015
Deutschland und die Flüchtlingskrise: von wegen Reluctant Hegemon
Deutschland unter Angela Merkel wird oft als "reluctant hegemon" beschrieben, als gutmütiger Riese, der am liebsten gemütlich weiter seinen kleinen provinziellen Garten bestellen würde, sich aber widerwillig von den Weltläuften gezwungen sieht, einer ihm aufgedrängten Führungsrolle in Europa und der Welt gerecht zu werden. Ich habe immer größere Zweifel, ob diese Beschreibung stimmt.01 September 2015
Straßburg zu Lampedusa: Menschenwürde muss krisenfest sein
Das Urteil kommt zur rechten Zeit: Flüchtlinge haben ein Recht auf Achtung ihrer Menschenwürde, auch wenn sehr viele in sehr kurzer Zeit ankommen und das Ankunftsland darauf sehr schlecht vorbereitet ist. Das ist die Quintessenz des heutigen Lampedusa-Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Die "Krisen-" und "Notstands"-Argumente, mit denen der Aufnahmestaat sich verteidigt, mögen noch so berechtigt sein – gegen die Menschenwürde richten sie nichts aus.27 August 2015
Der Feind in Heidenau und Freital
In der deutschen Gesellschaft insgesamt ist Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit, wenn man den Soziologen glauben darf, seit Jahren rückläufig. Ich wäre nicht überrascht, wenn wir das Gröbste nicht hinter uns, sondern vor uns haben. Ich rechne mit rechtsterroristischen Anschlägen. Und zwar nicht allein auf Flüchtlingsunterkünfte. Sondern auf Kreuzberger Cafés und Friedrichshainer Clubs. Auf ICE-Waggons zwischen Berlin und Hamburg. Auf uns.11 August 2015
BVerfG und die Zeugen Jehovas: Kirche in Berlin, Verein in Bremen
Ein und dieselbe Religionsgemeinschaft kann nach ein und denselben Verfassungsanspruch auf Anerkennung als öffentlich-rechtliche Kirche gleichzeitig haben und nicht haben, je nachdem welches Bundesland darüber entscheidet. Das geht in einem föderalen Gebilde wie der Bundesrepublik. Der Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts wird zwar aufgrund Bundesrechts vergeben, aber von jedem Land in eigener rechtlicher Verantwortung. Wenn es findet, dass die Voraussetzungen vorliegen, dann ja. Wenn nicht, dann nicht. Das hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts soeben entschieden und damit die föderale Quadratur des staatskirchenrechtlichen Kreises in eine völlig neue Komplexitätsdimension vorangetrieben.04 August 2015
Range vs. Maas: Zu wenig Eingriff, nicht zu viel
Ein "unerträglicher Eingriff in die Unabhängigkeit der Justiz" hat also stattgefunden. Der amtierende Bundesjustizminister hat also den amtierenden Generalbundesanwalt zu hindern versucht, pflichtgemäß seine Arbeit zu tun und dem Verdacht auf journalistischen Landesverrat nachzugehen, nur weil ihm diese Arbeit politisch nicht in den Kram passte. Einen regelrechten Verfassungsbruch hat der Minister damit also begangen, indem er die Unabhängigkeit der Justiz brutal der Logik politischer Opportunität unterwarf. Das ist ein strammer Vorwurf und als politischer und sicherheitsadministrativer Vorgang zweifellos höchst bemerkenswert, aber inhaltlich meines Erachtens ein rechter Schmarren. Erstens ist hier von Unabhängigkeit der Justiz gar keine Rede, und zweitens hat, selbst wenn, Minister Maas in dieselbe eher zu wenig als zu viel eingegriffen.21 July 2015
Betreuungsgeld: Karlsruhe schützt die Bayern vor sich selbst
Das Urteil des Ersten Senats zum Betreuungsgeld ist da, und [...]08 July 2015
Merkel, Tsipras und die Schwierigkeit, das offensichtlich Richtige zu tun
In dem aktuellen Drama um Griechenland sehen sich zwei europäische Politiker mit der Erwartung konfrontiert, etwas offensichtlich Richtiges, aber gleichzeitig offenkundig Unmögliches zu tun. Alexis Tsipras soll aus Griechenland endlich einen funktionalen Staat machen, Angela Merkel soll Griechenland endlich aus der Schuldenfalle rauslassen. Wenn das so offensichtlich ist, warum tun sie es dann nicht? Ein großer Teil der Öffentlichkeit übt sich in personalisierender Kompetenz- und Motivationsdiagnostik. Ich halte einen anderen Punkt für interessanter.02 July 2015
Griechenland und die EU: Kann mal jemand auf uns Scheidungskinder hören?
Zu jeder richtigen Ehekrise gehört dazu, dass die beiden Partner an irgendeinem Punkt aufgehört haben, die Rekonstruktion der Wirklichkeit des jeweils anderen verstehen zu wollen. Spätestens seit dem letzten Wochenende scheinen mir Griechenland und der Rest der Eurozone in einem ebensolchen Zirkel angekommen zu sein. Und an "Freunden" und "Freundinnen", die den Streit nach Kräften befeuern, fehlt es auf beiden Seiten nicht. Ich fühle mich unterdessen wie das Kind des Scheidungspaares, das sich im Kleiderschrank versteckt.30 June 2015