01 September 2016

Kalter Entzug: Auch Junkies haben Menschenrechte

(c) Sasha Taylor

(c) Sasha Taylor

Drogenabhängigen, die im Gefängnis sitzen, darf der Staat nicht ohne weiteres den Zugang zu Substitutpräparaten wie Methadon verweigern. Mit diesem Urteilsspruch hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg der bayerischen Drogenbekämpfungs- und Justizvollzugspraxis heute ordentlich einen mitgegeben. Aus verfassungsrechtlicher Perspektive finde ich an der Entscheidung aber vor allem etwas anderes interessant – nämlich, wie unterschiedlich die Welt aussieht, wenn man mit den Augen eines Menschenrechtsgerichtshofs bzw. einer bayerischen Strafvollstreckungskammer betrachtet.

Zum Fall: Geklagt hatte ein Häftling aus der JVA Kaisheim in Bayerisch-Schwaben, der seit über 40 Jahren schwerst heroinabhängig ist. Der Mann hatte bereits fünf erfolglose Entzugstherapien hinter sich und befand sich über 17 Jahre in einer Substitutionstherapie, bis er 2008 wegen Drogenhandels verhaftet wurde. Er wurde zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt und erst mal in eine weitere Entzugstherapie gesteckt, die nach ein paar Monaten mit der Prognose beendet wurde, dass der Mann sowieso nicht von seiner Sucht loskommen werde. Die Therapie mit Drogensubstituten fortzusetzen, weigerte sich die Anstaltsleitung: das sei weder medizinisch noch zur Rehabilitation des Gefangenen angezeigt.

Nun steht ein Staat, der die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert hat, nach Straßburger Rechtsprechung in der Pflicht, kranken Gefangenen medizinische Hilfe zukommen zu lassen, und wenn er diese Pflicht versäumt, dann kann das unmenschliche Behandlung i.S.v. Art. 3 EMRK sein. Er muss dafür sorgen, dass Spezialisten die Krankheit diagnostizieren und therapieren, auf dass den besonders verletzlichen Gefangenen nicht mehr Übel angetan wird als durch den Strafzweck angezeigt. Er muss alles Nötige und Angemessene tun, und das muss er nachweisen können.

Das konnte die bayerische Justiz in diesem Fall aber nicht, so die EGMR-Kammer. Warum einem seit 40 Jahren Abhängigen, dessen Sucht amtlich festgestelltermaßen unheilbar ist und der in Freiheit über 17 Jahre mit Drogensubstituten therapiert worden war, in der Haft kein anderer Weg als der kalte Entzug offenstehen soll, dafür kann die Kammer kein tragfähiges Argument entdecken. Im Gegenteil: nach den Richtlinien der Bundesärztekammer und einer vom Bundesgesundheitsministerium in Auftrag gegebenen Studie ist die Substitutionstherapie die beste Lösung. Zumal außerhalb Bayerns Drogensubstitute in Gefängnissen längst in großem Umfang eingesetzt werden. Und externe Ärzte die Wiederaufnahme der Substitutionstherapie eindringlich empfohlen hatten. Und der Gefangene, kaum war er entlassen, wieder eine bekam, was deshalb relevant ist, weil die EMRK den Staat verpflichtet, seinen Gefangenen die gleichen medizinischen Standards angedeihen zu lassen, die sie in Freiheit bekämen. Kurzum: da ist jemand, den der Staat in seiner Gewalt hat, krank und bekommt nicht, was er offenkundig braucht – das verstößt gegen das Verbot von unmenschlicher Behandlung nach Art. 3 EMRK.

So sieht das ein Menschenrechtsgerichtshof. Eine Strafvollstreckungskammer sieht aber keinen Menschen, der krank ist und etwas braucht. Sie sieht einen Strafgefangenen, der etwas will.

Aus Sicht von bayerischer Justiz und Justizvollzug stellt sich die Sache so dar: Da kommt einer und will, dass wir was anders machen, als wir es sonst machen. Ist das medizinisch nötig? Um das zu beurteilen, haben wir Gefängnisärzte. Die sagen, das sei nicht nötig, und wer sind wir, ihr Urteil anzuzweifeln? Ist das für den Erfolg des Strafvollzugs nötig? Der Mann ist im Gefängnis, damit er aufhört, Drogen zu nehmen, und das gelingt am besten, wenn er aufhört, Drogen zu nehmen. In der Freiheit mag ihm das nicht möglich sein, aber im Gefängnis ist er überwacht, da ist für ihn gesorgt, eine regelrechte “Rundumversorgung” (sic!) genießt er da. Wer in Kaisheim an Drogen kommen will, der kommt auch an welche? Ja, aber wenn er das tut, dann “sucht (er) bewusst die Illegalität”, und davon werde er sich auch nicht durch Substitute abhalten lassen.

Das ist nur dann einigermaßen schlüssig, wenn man auf die Drogensucht allein als normwidriges Verhalten fokussiert und nicht als Krankheit. Wie nah beides für viele immer noch beieinander liegt, wird einem klar, wenn man wie ich in Bayern aufgewachsen ist und weiß, wie leicht man dort auch heute noch das Wort “Krüppel” als Schimpfwort im Munde führt (“Hundskrüppel, verreckter!”). Krank sein ist aus dieser Perspektive etwas, das nicht Mitgefühl, sondern Anstoß erregt, das verschwinden muss, das weg oder zumindest unsichtbar gemacht gehört. Diese Perspektive mit einer Gegenperspektive zu konfrontieren, in der der Mensch, um den es geht, wieder sichtbar wird, das ist die Aufgabe der Menschenrechte. Und diese Aufgabe hat Straßburg gegenüber der bayerischen Strafjustiz erfüllt.

 

 


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Kalter Entzug: Auch Junkies haben Menschenrechte, VerfBlog, 2016/9/01, https://verfassungsblog.de/kalter-entzug-auch-junkies-haben-menschenrechte/, DOI: 10.17176/20160901-160936.

31 Comments

  1. Susi Thu 1 Sep 2016 at 19:58 - Reply

    Das Begriff „Hundskrüppel, verreckter!“ wird meiner Erfahrung nach selten auf “Krüppel” im medizinischen Sinne angewandt – eher auf unsympathische Zeitgenossen. Scheint mir eine Verwechslung zu sein, hier mit der Krankheit zu argumentieren.

  2. schorsch Thu 1 Sep 2016 at 21:50 - Reply

    Apropos kalter Entzug: Schön, dass Sie Ihre Sommerpause (so es eine war) beendet haben!

  3. Hannah Fri 2 Sep 2016 at 03:46 - Reply

    @Susi: Selbst wenn das Wort auf anderes angewandt wird als Behinderungen bzw. behinderte Menschen, “arbeitet” diese Verwendung dennoch mit einer behindertenfeindlichen Abwertung.

  4. Norbert Fiedler Fri 2 Sep 2016 at 08:58 - Reply

    “Mit diesem Urteilsspruch hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg der bayerischen Drogenbekämpfungs- und Justizvollzugspraxis heute ordentlich einen mitgegeben.” spielt wohl in derselben Kategorie wie “Die schallende Ohrfeige”, zu der sich Thomas Fischer in seiner Zeit-Kolumne äußerte.
    http://www.zeit.de/gesellschaft/2016-08/rechtsbeugung-instanzen-und-hierarchien-fischer-im-recht/seite-4

  5. leser Fri 2 Sep 2016 at 09:50 - Reply

    “Das Begriff „Hundskrüppel, verreckter!“ wird meiner Erfahrung nach selten auf „Krüppel“ im medizinischen Sinne angewandt – eher auf unsympathische Zeitgenossen.”

    Das mag so sein. Aber einen anderen als “Drecksjuden”, “Kümmeltürken” oder “Spaghettifresser” zu beschimpfen, ist eine rassistische Äußerung, auch wenn der Beschimpfte weder Jude noch Türke noch Italiener ist. Einen männlichen Zeitgenossen als “Mädchen” zu beschimpfen, dürfte auch nicht unbedingt für gesteigerten Respekt für, nun, Mädchen verstanden werden. Dasselbe gilt für eine Beschimpfung als “Krüppel”.

  6. Petra Fri 2 Sep 2016 at 11:25 - Reply

    @hannah&leser: Einen Polizisten als “Bullen” zu bezeichnen, beleidigt also auch Tiere?

  7. Petra Fri 2 Sep 2016 at 11:28 - Reply

    Es gibt den Begriff “Sprach-Nazi” nicht ohne Grund (der beleidigt übrigens auch keine Nazis…).

  8. schorsch Fri 2 Sep 2016 at 11:37 - Reply

    @Petra: Nicht Ihr Ernst, oder? Der Gleichsetzung mit einem Tier ist eine Herabsetzung, weil wir davon ausgehen, das Tieren bestimmte kognitive und soziale Fähigkeiten fehlen, dass sie zu moralischem Handeln nicht fähig sind. Die Bezeichnung als Jude ergibt als Herabsetzung nur Sinn, wenn – und inpliziert daher, dass – Sie von Juden ähnlich denken. Im Übrigen waren die bisher genannten Beispiele allesamt darüber hinaus herabsetzend. Es ging nicht um behinderte Menschen, Türken, Italiener oder Juden, sondern um… (siehe oben).

    Ihr Beispiel hätte also zumindest “Drecksbulle” lauten müssen. Dann wäre es nur noch ein Kategorienfehler gewesen: Tiere haben keine persönliche Ehre (siehe oben).

  9. Petra Fri 2 Sep 2016 at 11:44 - Reply

    @schorsch: Wenn die Bezeichnung “Hundskrüppel” angewendet auf einen gesunden Menschen Kranke beleidigt, dann stellt sich mir die Frage, ob die Bezeichnung “Bulle” angewendet auf einen Polizisten Tiere beleidigt. Steinbeis scheint das zu meinen, ich bin mir da nicht so sicher.

  10. Petra Fri 2 Sep 2016 at 11:54