Gekommen, um zu bleiben
Warum wir auch nach Egenberger die Ultra-vires-Kontrolle institutionalisieren müssen
Heiko Sauer hat dem BVerfG an dieser Stelle unlängst einen „Kurswechsel im Europaverfassungsrecht“ bescheinigt. Anlässlich des Egenberger-Beschlusses des Zweiten Senats zeichnet er das Bild eines Bundesverfassungsgerichts, das nach den Erschütterungen des PSPP-Urteils (BVerfGE 154, 17) in ruhigeres Fahrwasser zurückkehrt. Sauer spricht von einer „wohltuenden Deflationierung der Ultra-vires-Kontrolle“, ja von einem „Abgesang“ auf die großen europaverfassungsrechtlichen Auseinandersetzungen. Die Karlsruher Kontrollvorbehalte würden auf das zurückgeführt, was sie einst sein sollten: exzeptionelle Letztvorbehalte, theoretische Notbremsen, deren Betätigung in weite Ferne rückt. Der Tenor ist Erleichterung: Die Harmonie scheint wiederhergestellt, weil die Dissonanz leiser geworden ist.
So verlockend diese Deutung angesichts des Wunsches nach einem harmonischen Gerichtsverbund sein mag: Sie läuft Gefahr, die bloße Abwesenheit offenen Streits mit einer strukturellen Befriedung gleichzusetzen. Ich möchte Sauers These daher ergänzen und zugleich wenden: Nicht die Deflationierung, die der Kontrolle die Wirkungskraft entzieht, ist die Lösung, sondern ihre Institutionalisierung.
Echte Kooperation erfordert Regeln für den Umgang mit Kompetenzgrenzen – ein institutionalisiertes Zusammenspiel, das den Konfliktfall nicht als unionsverfassungswidrigen Betriebsunfall, sondern als klärungsbedürftigen Dialog begreift. Die Ultra-vires-Kontrolle ist kein Störfall, sondern – richtig verstanden – ein notwendiges Institut des Unionsverfassungsrechts selbst.
Kein deutscher Sonderweg: Der europäische Befund
Ein zentrales Missverständnis in der Debatte um die „Deflationierung“ ist die Annahme, die Ultra-vires-Kontrolle sei ein deutsches Phänomen, ein Karlsruher Sonderweg, den man nun langsam wieder in den europäischen Mainstream eingliedert. Eine systematische Gesamtschau der europäischen Verfassungsrechtsprechung zeigt jedoch ein ganz anderes Bild: Europäische Normalität ist die Ablehnung eines absoluten, kompetenzblinden Anwendungsvorrangs.
Solange die Mitgliedstaaten über das ‚Ob‘ und ‚Wie‘ der Integration entscheiden, ist die Ultra-vires-Kontrolle keine nationale Marotte, sondern die logische Kehrseite der europäischen Kompetenzordnung. Zwar beansprucht der EuGH für sich eine absolute Autonomie des Unionsrechts und ein damit verbundenes umfassendes Rechtsprechungsmonopol. Doch diese absolute Autonomie ist eine Fiktion, die weder historisch noch dogmatisch in den Verträgen verankert ist. Die EU fußt auf dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 EUV). Dieses Prinzip ist keine bloße politische Absichtserklärung, sondern die rechtliche Lebensader der Union. Damit bleibt die Union eine abgeleitete Rechtsordnung; ihre Geltung beruht nicht auf sich selbst, sondern auf dem Willen der Mitgliedstaaten und deren verfassungsrechtlich verorteten und demokratisch gesteuerten Rechtsanwendungsbefehlen.
Dies ist auch kein deutsches Spezifikum, sondern europäischer Verfassungsstandard: Sei es Art. 23 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes, Art. 88-1 der französischen Verfassung, Art. 90 der polnischen Verfassung oder Art. 11 der italienischen Verfassung – sie alle öffnen die nationale Rechtsordnung für das Unionsrecht, markieren aber als Geltungsgrund zugleich dessen Grenzen.
In der Mehrzahl der Mitgliedstaaten haben Verfassungsgerichte Kontrollvorbehalte etabliert, die funktional der Ultra-vires-Kontrolle entsprechen. Das dänische Højesteret hat im Ajos-Urteil (Case 15/2014) eine klare rote Linie gezogen und dem EuGH die Gefolgschaft verweigert, gestützt auf das Bestimmtheitserfordernis der dänischen Verfassung bei der Hoheitsrechtsübertragung. In Frankreich nutzen der Conseil constitutionnel und der Conseil d’État eine flexible Prinzipienabwägung („Identitätskontrolle“ bzw. „Äquivalenztest“), um sicherzustellen, dass Kompetenzüberschreitungen nicht die Verfassungsidentität aushöhlen – wie etwa im French Data Network-Urteil (Conseil d’État, Nr. 393099) deutlich wurde. Auch in Tschechien (Holubec, Pl. ÚS 5/12), Polen (K 18/04, vor der Rechtsstaatskrise) oder Italien („Controlimiti“, vgl. schon Fragd, 232/1989) behalten sich die Gerichte vor, den Vorrang des Unionsrechts dort zu begrenzen, wo fundamentale Verfassungswerte und die Volkssouveränität berührt sind.
Wenn wir also über eine „Deflationierung“ sprechen, dürfen wir nicht so tun, als sei das PSPP-Urteil ein Betriebsunfall gewesen, den man nun korrigiert. Es war vielmehr der deutlichste Ausdruck einer europaweit geteilten Rechtsüberzeugung: Die Geltung des Unionsrechts endet dort, wo das demokratische Mandat der nationalen Verfassung seine Grenze findet.
Vom Störfaktor zum Institut des Unionsrechts
Das Desiderat der aktuellen Debatte ist ein Perspektivwechsel: Die Ultra-vires-Kontrolle steht nicht außerhalb des unionalen Rechtsrahmens, sondern stützt sich auf die Verträge selbst. Die Ultra-vires-Kontrolle ist damit nicht als Störfaktor, sondern als Institut des Unionsrechts zu begreifen. Sie ist der Schlüssel zur Lösung des Konflikts.
Zunächst verpflichtet die Identitätsklausel des Art. 4 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EUV die Union, die jeweilige nationale Identität der Mitgliedstaaten zu achten, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen zum Ausdruck kommt. Entgegen einer scheinbar verbreiteten Lesart handelt es sich hierbei nicht um unverbindliche politische Lyrik oder eine bloße Höflichkeitsfloskel gegenüber den Hauptstädten, sondern um eine harte, justiziable Rechtsnorm mit klarem Geltungsanspruch. Art. 4 Abs. 2 EUV fungiert als eine Art „Rechtsgrundverweisung“: Das Unionsrecht öffnet sich an dieser Stelle bewusst für die unantastbaren Kernelemente der mitgliedstaatlichen Verfassungen und macht deren Schutz zu einer eigenen unionsrechtlichen Verpflichtung. Damit ist im Primärrecht selbst eine immanente Schranke angelegt, die den Geltungsanspruch des Unionsrechts dort begrenzt, wo es die verfassungsrechtliche Identität und Volkssouveränität eines Mitgliedstaats berührt.
Diese Identitätswahrung ist untrennbar mit den demokratischen Prinzipien der Union verknüpft, wie sie in Art. 2 und Art. 10 EUV niedergelegt sind. Die Europäische Union bezieht ihre demokratische Legitimation nicht aus einem eigenen Staatsvolk, sondern abgeleitet aus den Wahlvölkern der Mitgliedstaaten, vermittelt über die nationalen Parlamente und das Europäische Parlament. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ist der Garant dieser demokratischen Rückbindung: Nur soweit eine Kompetenzübertragung durch die nationalen Parlamente demokratisch legitimiert wurde, darf die Union handeln. Eine qualifizierte Kompetenzüberschreitung – also ein Handeln ultra vires – ist daher niemals nur ein technischer Fehler im Zuständigkeitsgefüge, sondern ein Angriff auf das Demokratieprinzip selbst. Wenn Unionsorgane Mandate an sich ziehen, die ihnen nie übertragen wurden, durchbrechen sie den demokratischen Legitimationszusammenhang und verletzen die Volkssouveränität, die als Kernbestandteil der nationalen Verfassungsidentität unter dem besonderen Schutz des Art. 4 Abs. 2 EUV steht.
Diese Feststellung muss auch prozedural abgesichert werden: Wenn das materielle Unionsrecht über Art. 4 Abs. 2 EUV den Schutz der verfassungsrechtlichen Identität und der demokratischen Selbstbestimmung garantiert, muss es auch ein Verfahren geben, um diesen Schutz im Ernstfall durchzusetzen. Würde man den nationalen Verfassungsgerichten dieses Instrument verweigern, liefe der Schutz der Verfassungsidentität ins Leere, sobald der EuGH eine Kompetenzüberschreitung nicht als solche erkennt oder sanktioniert. Die Ultra-vires-Kontrolle ist daher kein Akt des Ungehorsams gegen das Unionsrecht: Sie stellt sicher, dass die in den Verträgen selbst angelegten Grenzen der Integration nicht durch eine schleichende Kompetenzausweitung contra legem überschritten werden.
Die Kontrolle sichert daher die demokratische Legitimation der Union. Denn die EU ist eine kompetenziell legitimierte Demokratie. Wenn Kompetenzen ohne Mandat wandern („Creeping Competences“), kann die Zustimmung der Bürger erodieren. Die Überwachung der Kompetenzgrenzen verfolgt eine demokratiespezifische Ventilfunktion.
Indem wir die Ultra-vires-Kontrolle als Institut des Unionsrechts begreifen, wandelt sie sich von einer einseitigen „Notbremse“ zu einem Instrument des Dialogs im Verfassungsgerichtsverbund. Das Ziel ist eben nicht der Bruch, sondern die Sicherung der gemeinsamen Rechtsgrundlage. Institutionalisiertes Zusammenspiel bedeutet, dass nationale Verfassungsgerichte und der EuGH nicht gegeneinander, sondern in einem arbeitsteiligen Prozess miteinander fungieren: Der EuGH sichert die Einheitlichkeit (Art. 19 EUV), die nationalen Gerichte sichern die Grenzen der Ermächtigung.
Prozeduralisierung statt Konfrontation: Ein Vier-Stufen-Modell
Wie sieht dieses Zusammenspiel konkret aus? Es darf kein „wildes“ Ausbrechen geben, keine willkürliche Verweigerung der Rechtsbefolgung. Ein europarechtskonformes Ultra-vires-Verfahren muss zwingend prozeduralisiert sein. Nur durch Verfahren lässt sich der Konflikt von der politischen auf die rechtliche Ebene heben und dort befrieden.
Ein solches institutionalisiertes Verfahren könnte man – grob angerissen – de lege lata in vier Stufen konzipieren, die sich aus einer Zusammenschau der verfassungsrechtlichen Grundlagen in Art. 2, Art. 4 Abs. 2 und 3 sowie Art. 5 EUV und den Rechtsschutzgarantien der Art. 19 EUV und Art. 267 AEUV ergeben:
Erstens verlangt das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 und 2 EUV) eine präzise Trennung zwischen einfachem Rechtsverstoß und Kompetenzanmaßung. Nicht jede fehlerhafte Rechtsanwendung ist ein Ultra-vires-Akt; vielmehr muss ein struktureller Ausbruch aus dem „Integrationsprogramm“ des Zustimmungsgesetzes vorliegen. Ein solcher ist gegeben, wenn die Union entweder in einem Bereich tätig wird, für den ihr die Verbandskompetenz fehlt, oder wenn sie eine bestehende Kompetenz unter Missachtung ihrer konstitutiven Schranken – etwa durch Verletzung von Verbotsnormen oder des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes – so exzessiv ausübt, dass dies faktisch einer vertragslosen Kompetenzerweiterung gleichkommt.
Auf der zweiten Stufe greift die prozedurale Sicherung durch die gerichtliche Kooperationspflicht aus Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 267 AEUV. Bevor ein mitgliedstaatliches Verfassungsgericht eine Unionsmaßnahme im eigenen Rechtsraum unangewendet lässt, trifft es eine Vorlage- und Dialogpflicht. Bestehen Zweifel an der Kompetenzgrundlage, muss der Weg nach Luxemburg beschritten werden; der Dialog ist keine Option, sondern eine unionsrechtliche Notwendigkeit zur Klärung der Rechtslage. Das BVerfG hat dies im OMT-Verfahren (BVerfGE 134, 366) vorgemacht: Es legte detailliert dar, warum es eine Kompetenzüberschreitung sah, gab dem EuGH aber die Möglichkeit zur (konformen) Auslegung.
Drittens ist die Zuständigkeitsverteilung nach Art. 19 EUV zu respektieren: Danach hat der EuGH das Mandat zur „Wahrung des Rechts bei der Auslegung der Verträge“. Dabei muss sich der EuGH aber nachvollziehbarer Methoden bedienen. Hier liegt die Chance, die Sauer in seiner Analyse der „Deflationierung“ vielleicht unterschätzt. Wenn das BVerfG in Egenberger die Entscheidung des EuGH akzeptiert, dann nicht aus Resignation, sondern weil es die Antwort des EuGH auf ihre „Methodengerechtheit“ geprüft hat. Wenn der EuGH aber die methodischen Standards völlig missachtet – etwa indem er offensichtliche Tatsachen ignoriert, den Wortlaut verkehrt oder willkürliche Rechtsfortbildung betreibt –, verlässt er den Boden der Auslegung der Verträge und betreibt unzulässige Rechtssetzung. Um hierbei die Rechtssicherheit zu wahren, bedarf es geschärfter Kategorien für solche schwerwiegenden Methodenfehler.
Das Weiss-Urteil des EuGH (C-493/17) war ein warnendes Beispiel für ein methodisches Defizit, in dem der Gerichtshof die wirtschaftspolitischen Auswirkungen der EZB-Politik faktisch ausblendete und so eine Verhältnismäßigkeitsprüfung unmöglich machte. Im Fall Egenberger hingegen sah das BVerfG die Auslegung der Antidiskriminierungsrichtlinie als methodisch vertretbar an. Das ist der Unterschied: Dem EuGH-Urteil wird nicht blind gefolgt („Deflationierung“), vielmehr ist es das Ergebnis einer eingehenden Prüfung („Institutionalisierung“). Das BVerfG behält sich die Kontrolle vor, übt sie aber zurückhaltend aus, solange der EuGH methodisch nachvollziehbar arbeitet.
Viertens muss das Verfahren gegen Rechtsmissbrauch abgesichert sein. Eine Ultra-vires-Kontrolle darf keinesfalls dazu dienen, rechtsstaatliche Standards abzubauen oder sich den Grundwerten der Union zu entziehen. Warnende Beispiele für einen solchen instrumentellen Missbrauch liefern die Rechtsprechungspraxis des politisch gekaperten polnischen Verfassungsgerichtshofs (etwa im Urteil K 3/21) und des ungarischen Verfassungsgerichts (insbesondere Entscheidung 22/2016). Rechtssicherheit schafft hier nur eine präzise Fallgruppenbildung auf Basis von Art. 2 EUV. Denn nationale Identität darf nicht zum Deckmantel autoritärer Strukturen werden: Wer den Rechtsstaat im Inneren schleift, kann sich gegenüber der Union nicht auf ihn berufen.
Fazit: Keine Angst vor institutionalisierter Dissonanz
Sauers „Abgesang“ auf die großen Auseinandersetzungen ist insofern verfrüht, als die institutionellen Fragen noch nicht abschließend geklärt sind. Die Kompetenzfragen werden nicht verschwinden, solange die Union sich dynamisch entwickelt und Krisenbewältigung mit Kompetenzdehnung einhergeht. Sie aber nur „kleinzukochen“, reicht nicht. Wir sollten die Ultra-vires-Kontrolle aus der Schmuddelecke des vermeintlichen Nationalismus holen und sie als prozedurales Element fest in die Unionsarchitektur einbauen.
Das PSPP-Urteil mag als Schock empfunden worden sein, doch historisch betrachtet könnte es die Geburtsstunde einer effektiven Kompetenzkontrolle als Gemeinschaftsaufgabe sein. Ähnlich wie die Solange I-Rechtsprechung (BVerfGE 37, 271) einst den EuGH zwang, den Grundrechtsschutz ernst zu nehmen, zwingt der Ultra-vires-Vorbehalt den Gerichtshof heute, seine Rolle als Hüter der Kompetenzordnung ernster zu nehmen und nicht einseitig als „Motor der Integration“ zu agieren.
Ein institutionalisiertes Verfahren zwingt zur Begründung und zur Auseinandersetzung mit den Argumenten der anderen Seite. Es transformiert den Machtkampf in einen Diskurs. Eine Union, die ihre eigenen Grenzen ernst nimmt und deren Einhaltung durch ein kooperatives Verfahren garantiert, ist am Ende harmonischer, legitimer und auch effektiver als eine Union, die Kompetenzkritik als Majestätsbeleidigung behandelt.
Echte Stabilität wird nicht dadurch erzeugt, dass die Verfassungsgerichte verstummen, sondern indem sie in ein geordnetes europäisches Verfahrensrecht eingebunden werden. Die jüngere Rechtsprechung der europäischen Verfassungsgerichte zeigt immer deutlicher: Die Ultra-vires-Kontrolle ist gekommen, um zu bleiben. Wer ihren Abgesang anstimmt, verkennt, dass gerade die rechtlich eingehegte Möglichkeit des „Nein“ das „Ja“ zur europäischen Integration erst unionsverfassungsrechtlich tragfähig macht. Das ist das „institutionelle Zusammenspiel“, das wir auch nach Egenberger weiterentwickeln müssen.



