Ein Gericht rudert zurück: „Nikolaus“ ohne Haus
Mit seinem Beschluss vom 11. April 2017 sieht sich das Bundesverfassungsgericht zum wiederholten Male genötigt, ein Loch zuzuschaufeln, das es zuvor selbst gegraben hat: Wie grenzt man verfassungsunmittelbare Leistungsansprüche auf Leistungen der Gesundheitsversorgung ein, wenn man sie zuvor kühn konstruiert hat?
Die Erfindung von „Nikolaus“
Unter welchen Voraussetzungen ein Anspruch auf Leistungen der Gesundheitsversorgung besteht, gehört angesichts der Hochrangigkeit der Rechtsgüter Leben und Gesundheit, aber auch der Kosten moderner Medizin zu den wichtigsten und brisantesten Fragen, die sich dem Sozialstaat stellen. In dem zentralen Versorgungssystem in Deutschland, der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), spielen insoweit die Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), eines Gremiums der sog. gemeinsamen Selbstverwaltung von Krankenkassen und Ärzten, eine zentrale Rolle. Kritik an dieser Rolle und insbesondere an der Legitimation des G-BA, der insbesondere über den Zugang neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in den GKV-Versorgungskatalog entscheidet, gab es schon immer. Sie blieb nur rechtspraktisch folgenlos, weil insbesondere das Bundessozialgericht keine Veranlassung sah, an der Befugnis des G-BA zu rechtsverbindlichen Versorgungsentscheidungen verfassungsrechtliche Kritik zu üben.
Die Lage änderte sich plötzlich und überraschend, als eine Verfassungsbeschwerde gegen eine der einschlägigen Entscheidungen des Bundessozialgerichts zum Bundesverfassungsgericht kam. In seinem Beschluss vom 6. Dezember 2005, dem der Regensburger Kollege Thorsten Kingreen den schönen Namen „Nikolaus-Entscheidung“ verpasst hat (NJW 2006, 877, 880), leitete der erste Senat des Verfassungsgerichts plötzlich einen grundrechtlichen Versorgungsanspruch auf konkrete Leistungen aus dem Grundgesetz ab, was zuvor immer tunlichst vermieden worden war. Danach sollte nun auch auf eine Leistung, die der G-BA noch nicht für GKV-würdig oder sogar schon für -unwürdig befunden hatte, ein Anspruch bestehen, wenn (1) der Versicherte unter einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung leidet, (2) für deren Behandlung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht und (3) für die begehrte Behandlungsleistung eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.
Diese Entscheidung kann man aus vielen Gründen kritisieren. Wer sich nur ein wenig mit der Bewertung medizinischer Methoden und der Komplexität dieses Vorgangs beschäftigt hat, wird die Formulierung von der „nicht ganz entfernt liegenden Aussicht“ für reichlich naiv halten. Auch die eigenartige doppelzügige grundrechtliche Begründung dieses Anspruchs, der sich sowohl aus der Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG als auch aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip ergeben soll, weil zu unterstellen sei, dass dem beitragspflichtigen Zwangsversicherten keine eigenen Mittel mehr für die Gesundheitsversorgung zur Verfügung stehen, wirft bis heute etliche Rätsel auf. Und schließlich kann man sich fragen, ob es denn wirklich – und sei es in einer „notstandsähnlichen Situation“ – ein Grundrecht gibt, auf Kosten der Solidargemeinschaft alles auszuprobieren, was es in der an den Rändern doch recht bunten medizinischen Welt so gibt – und das alles ganz unabhängig von der Höhe der Kosten, von der bis heute in der Verfassungsrechtsprechung keine Rede ist.
Man kann darüber spekulieren, was das Verfassungsgericht zu dieser Entscheidung getrieben hat. Vielleicht war es ein etwas fehlgeleiteter Lebensschutz-Rigorismus à la „Not kennt kein Gebot“. Nicht unwahrscheinlich ist aber auch die Annahme, dass man durch die Konstruktion eines unmittelbaren grundrechtlichen Leistungsanspruchs eine Auseinandersetzung mit dem Grundproblem mit potentiell systemsprengender Wirkung vermeiden wollte: der Legitimation des G-BA. Wie dem auch immer gewesen sein mag: Der Anspruch war in der Welt, und damit alle Probleme, die derartige konkrete soziale Rechte nun einmal mit sich bringen.
Nikolaus „insbesondere“
Die Sozialgerichte standen nun vor der undankbaren Aufgabe, diesen Leistungsanspruch in vielen Einzelfällen zu konkretisieren – ohne die Hilfe des G-BA und aller Bewertungsverfahren in der GKV, denn der Anspruch läuft ja völlig neben den üblichen Entscheidungswegen her. Sie sahen sich dabei sogar veranlasst, den Anspruch über die lebensbedrohlichen Krankheiten hinaus auf „wertungsmäßig vergleichbare Erkrankungen“ auszudehnen. Die Vorlage dafür hatte das Verfassungsgericht selbst geliefert, als es in seiner Entscheidung formulierte, es bedürfe einer besonderen Rechtfertigung, „wenn dem Versicherten Leistungen für die Behandlung einer Krankheit und insbesondere einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung durch gesetzliche Bestimmungen oder durch deren fachgerichtliche Auslegung und Anwendung vorenthalten werden.“ Der Jurist schließt nämlich messerscharf, dass es auch andere Krankheiten geben muss, bei denen der „Nikolaus-Anspruch“ greift, wenn dies für die lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankungen „insbesondere“ gilt. Auch der Gesetzgeber sah das wohl so; jedenfalls kodifizierte er den „Nikolaus-Anspruch“ im Sozialgesetzbuch in diesem weiten Sinne (§ 2 Abs. 1a SGB V).
Seitdem gibt es vor den Sozialgerichten ein recht reges Treiben, in dem Versicherte vor und neben aller Methodenbewertung durch den G-BA – und manchmal auch dagegen – versuchen, Leistungen einzuklagen. Der Verfasser dieses Beitrags unterhält dazu eine gut frequentierte Datenbank, auf der man sich informieren kann, über welche manchmal diskussionswürdigen, gelegentlich aber auch abstrusen Strohhalme nun gerichtlich gestritten wird. Aus der Systemfrage schien aber die Luft raus: Ob der G-BA vernünftig und legitimiert entscheidet, war seit der Öffnung des „Nikolaus“-Ventils kaum mehr ein Thema.
Fang den Nikolaus!
Im Laufe der Zeit erhoben sich nun aber auch beim Bundesverfassungsgericht Bedenken – in zweierlei Hinsicht. Zum einen geriet die Legitimationsproblematik nun doch wieder in den Blick. Als wieder einmal eine Verfassungsbeschwerde gegen eine Entscheidung des Bundessozialgerichts, die einen Leistungsanspruch unter Berufung auf den G-BA abgelehnt hatte, entschieden zu werden drohte, hielt das Gerücht die gesundheitsrechtliche und –politische Welt in Atem, dass der Vorsitzende des entscheidenden ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts in einem Vortrag die fehlende Legitimation des G-BA so deutlich angezweifelt hatte, dass man erwarten müsse, das Verfassungsgericht werde die GKV nun in die Luft sprengen. So schlimm kam es dann aber nicht: In seiner Entscheidung vom 10.11.2015 erklärte das Gericht die Verfassungsbeschwerde mangels hinreichend substantiiertem Vortrag sogar für unzulässig. In einem Obiter dictum formulierte es aber einige Sätze, die nachwirken: „Mit dem Vorbringen – durchaus gewichtiger – genereller und allgemeiner Zweifel an der demokratischen Legitimation des Gemeinsamen Bundesausschusses als Institution kann das nicht gelingen. Vielmehr bedarf es konkreter Ausführungen nicht nur zum Einzelfall, sondern auch zur Ausgestaltung der in Rede stehenden Befugnis, zum Gehalt der Richtlinie und zur Reichweite der Regelung auf an ihrer Entstehung Beteiligte oder auch unbeteiligte Dritte. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass der Gemeinsame Bundesausschuss für eine Richtlinie hinreichende Legitimation besitzt, wenn sie zum Beispiel nur an der Regelsetzung Beteiligte mit geringer Intensität trifft, während sie für eine andere seiner Normen fehlen kann, wenn sie zum Beispiel mit hoher Intensität Angelegenheiten Dritter regelt, die an deren Entstehung nicht mitwirken konnten. Maßgeblich ist hierfür insbesondere, inwieweit der Ausschuss für seine zu treffenden Entscheidungen gesetzlich angeleitet ist.“
Für den G-BA sind dies gute und schlechte Nachrichten: Er steht als Institution nicht in Frage, wohl aber möglicherweise einzelne seiner Entscheidungsbefugnisse. Das Bundesgesundheitsministerium hat jedenfalls schon vorsorglich Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, die diese Befugnisse aufarbeiten und auf ihre hinreichende „gesetzliche Anleitung“ untersuchen sollen. Schon in der Ausschreibung war deutlich, dass ein Gutachten eher affirmativ, das andere eher kritisch sein soll – so baut sich die Politik einen schönen Handlungskorridor. Zu beneiden wird sie um die Realisierung der „gesetzlichen Anleitung“ in diesem komplexen Handlungsfeld freilich nicht sein. Vielleicht geht es aber auch ganz anders; auch von Fachaufsicht über den G-BA, Übernahme seiner Entscheidungen in ministerielle Rechtsverordnungen oder Ergänzung des G-BA um weitere Parteien („Dritte“) ist nun die Rede, um die Legitimationszweifel zu zerstreuen. Wen die Sorge umtreibt, dass eine derartige Politisierung oder die Vertretung von „Big Pharma“ im G-BA nicht unbedingt zu rationaleren Versorgungsentscheidungen führen werden, hat jedenfalls eine neue Chance, sein Herz für den G-BA und das überkommene Regulierungsdesign zu erwärmen.
Gleichzeitig mit der Befeuerung der Legitimationsdiskussion hat das Bundesverfassungsgericht den „Nikolaus-Anspruch“ dagegen eher minimiert, und in diese Entwicklungslinie gehört auch die Entscheidung vom 11. April 2017. Sowohl hier als auch im November 2015 beharrt das Gericht nämlich darauf, dass es aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht erforderlich sei, diesen Anspruch auf die „wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankungen“ auszudehnen. Vielmehr sei diese Irrlehre durch die Sozialgerichte in die Welt gekommen, denen der Gesetzgeber dann gefolgt sei; das Verfassungsgericht selbst habe so etwas nie gesagt. Das ist zwar angesichts der zitierten „insbesondere“-Formulierung von 2005 eine mehr als angreifbare Behauptung, aber in der Sache geht das in die richtige Richtung: Es macht einfach keinen Sinn, für alle möglichen Erkrankungen neben dem etablierten Verfahren der Methodenbewertung durch den G-BA ein Paralleluniversum von „Nikolaus“-Einzelfallentscheidungen zu installieren. Entweder das GKV-System funktioniert, dann können und müssen seine Entscheidungen auch akzeptiert werden. Oder es ist sachlich oder legitmationsrechtlich defizitär, dann muss sich daran etwas ändern. Der Ausweg über grundrechtliche Leistungsansprüche ist nicht geeignet, ein – tatsächliches oder vermeintliches – „Systemversagen“ zu kompensieren.
Liest man den Sachverhalt der neuen Entscheidung, bekommt man auch einen Eindruck, welches zweite Bedenken das Verfassungsgericht hier umgetrieben haben mag. Der Beschwerdeführer erhielt eine Behandlung, die eine lebensgefährliche Situation ausschloss. Nun begehrte er aber ein Medikament, das für seine Krankheit nicht einmal zugelassen war – und dafür eine Kostenerstattung in Höhe von fast 832.000 Euro! Dass wir nun aus verfassungsrechtlichen Gründen verpflichtet sind, selbst bei nicht lebensbedrohlichen Erkrankungen medizinische Leistungen im Wert von gediegenen Einfamilienhäusern zur Verfügung zu stellen, obwohl sich bisher niemand in einem halbwegs koordinierten Verfahren deren Wirksamkeit und Nutzen angeschaut hat – das war dann wohl selbst dem Verfassungsgericht zu viel. Recht so!
Danke für diesen schönen Einblick in den Sachverhalt. Zwei kurze Anmerkungen: 1) Dass das BVerfG mit sich selbst und den Sozialgerichten in Dialog tritt und seine eigene Entscheidung ein Stück weit wieder einfangen muss, scheint mir zwar ein wenig ineffektiv, aber nicht sonderlich problematisch. Im Gegenteil – zeigt es nicht exemplarisch das Dialogische unserer Rechtsordnung und ihr gutes Funktionieren? 2) Problematisch erscheint aber nach wie vor die fehlende demokratische Legitimation des G-BA. Wäre eine Fachaufsicht nicht das mindeste, was demokratietheoretisch zu fordern wäre?
Ich muss für den Lungenkrebs meines Nachbarn zahlen, obwohl der wusste, dass dort ein Zusammenhang bestand. Und ich muss für den Mord an einem ungeborenen Kind zahlen, obwohl ich Mord ablehne. Vielleicht ist an dem Zwang, an diesem System teilzuhaben generell etwas falsch?
Sehr geehrter Herr Huster,
Ihre Argumentation ist gut nachvollziehbar, aber der Gesetzgeber hat den Nikolausbeschluss, wie sie ja selbst schreiben, in § 2 Abs. 1a Satz 1 SGB V in der weitern Fassung positiviert. Solange diese Regelung bestand hat, sind die Relativierungen des BVerfG doch irrelevant, oder nicht?
@ Law as integrity (gefällt mir schon wegen der Anspielung auf RD gut ;-))
1. Das ist die freundliche Interpretation. Aber ist nicht realistischer “Man ist damals etwas forsch gewesen und muss nun zurückrudern”?
2. Fachaufsicht klingt gut, aber a) führt das zu einer nicht unproblematischen Politisierung von Versorgungsentscheidungen (“Wenn Mütter mit ihren weinenden Kindern vor dem BMG stehen und das Fernsehen ist da, knickt jeder Gesundheitsminister ein”, sagen Systemkundige gern) und b) fragt es sich, wer denn die FACHaufsicht im BMG eigentlich machen soll: Die Juristen, die jetzt die Rechtsaufsicht machen? Da müsste man wohl zunächst das BMG ganz anders aufstellen…
@ Frank Frei
1. Mag sein, dass man den Rauchern letztlich eine Prämie für sozialverträgliches Frühableben zahlen muss, wenn man wirklich mal rechnet….
2. Die GKV bezahlt nicht für rechtswidrige Schwangerschaftsabbrüche, vgl. § 24b SGB V.
@ RSG
Stimmt. Aber mit § 2 Ia SGB V bekommen Sie keine Verfassungsbeschwerde hin….