01 April 2024

Ein glühendes Stück Eisen

Es wird mal wieder über Streikrechtseinschränkungen diskutiert

Nun haben wir es für die nächsten zwei Jahre erst einmal wieder hinter uns; die Streikphase in Bahnverkehr und ÖPNV ist vorbei. Wie aber in heftigen oder langen Streikphasen üblich, wurde auch in diesem Jahr die jahrzehntealte Debatte aufgenommen, ob nicht der Gesetzgeber das Streikrecht beschränken solle. Schließlich gibt es in Deutschland keine gesetzliche Regelung des Arbeitskampfrechts.

Die rechtspolitischen Vorschläge und Themen sind immer wieder dieselben, in den 1970er Jahren vor dem Hintergrund großer Streikwellen in der Industrie, in den 2010er Jahren nach der Verlagerung des Streikgeschehens in Deutschland auf Dienstleistungsbranchen, oder aktuell während tagelanger Einschränkungen des Bahnverkehrs und angesichts einer Verhandlungspolitik der GDL, die für Außenstehende nicht mehr ausreichend nachvollziehbar war. Auf dem Tisch liegen aktuell wieder die folgenden Themen und Vorschläge: Schlichtungszwang, Ankündigungsfristen, Gewährleistung einer Notversorgung, Gemeinwohlbindung, Verhältnismäßigkeitskontrolle.  Der Generalsekretär der FDP soll sogar über „die Möglichkeit, Verhandlungsführer auszutauschen“ gesprochen haben. Einige scheinen dabei – wie im „Professorenentwurf“ von 1988 vorgeschlagen – Einschränkungen für alle Arbeitskämpfe vor Augen zu haben; andere, insbesondere in der CDU, beschränken sich – wie schon der Professorenentwurf von 2012 – auf die „Daseinsvorsorge“ und/oder „sensible Bereiche der kritischen Infrastruktur“.

Die bestehenden Grenzen des Streikrechts

Es gibt kein Arbeitskampfgesetz, also machen wir doch einfach eins? Ganz so einfach ist das nicht, denn es gibt ja durchaus rechtliche Regeln und Grenzen für Arbeitskämpfe. Diese wurden durch die Rechtsprechung, d.h. insbesondere durch das Bundesarbeitsgericht (BAG) und das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nicht im luftleeren Raum, sondern auf Grundlage von Art. 9 Abs. 3 GG entwickelt. Mit anderen Worten: Es gibt einen verfassungsrechtlichen Rahmen, der auch die Grenzen möglicher gesetzlicher Regelungen absteckt.

Ganz so arbeitskampffreundlich wie es in der aktuellen Debatte manchmal klingt, ist die deutsche Rechtsprechung keineswegs. Sie beschränkt das Streikrecht recht weitgehend und über das hinaus, was das internationale Recht erlaubt. Der Europäische Ausschuss für soziale Rechte, der die Einhaltung der Europäischen Sozialcharta (ESC) überwacht, stellte zuletzt 2022 fest, dass mehrere zentrale Grundsätze des deutschen Rechts im Widerspruch zu Art. 6(4) der ESC stehen, insbesondere der Grundsatz, dass Streiks nur im Rahmen von Tarifverhandlungen und mit der Zielsetzung einer tariflichen Regelung zulässig sind, sowie die Anforderungen, die an eine Organisation („Gewerkschaft“) gestellt werden, die zu einem Streik aufrufen darf.

Eine dritte Kritik des Ausschusses hat sich mittlerweile faktisch erledigt, denn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat das deutsche Verbot des Streiks für alle Beamt:innen, unabhängig davon ob sie öffentliche Gewalt ausüben, im Dezember 2023 für jedenfalls mit Art. 11 der Europäische Menschenrechtskonvention vereinbar gehalten. Gleichzeitig ergeben sich aus dieser Entscheidung aber hohe Anforderungen an Einschränkungen des Streikrechts, die in der aktuellen Debatte zu beachten wären.

Anforderungen aus der Rechtsprechung zum Beamtenstreik

Die Völkerrechtskonformität des deutschen Beamtenstreikverbots wurde spätestens mit zwei Entscheidungen des EGMR (Demir und Baykara von 2008 und Enerji Yapi-Yol Sen von 2009) zum Thema in Deutschland. Damals ging es um Streikverbote der Türkei im Bereich der Erziehung und im Energiesektor. Der EGMR hielt diese für rechtswidrig, da sie das Streikrecht öffentlich-rechtlich Beschäftigter allein aufgrund von deren Status ausschlossen.

Es lag nahe, darin das Aus für das deutsche Streikverbot zu sehen. Der Zweite Senat des BVerfG wandte sich dann aber im Jahre 2018 gegen das, was er für „eine unreflektierte Adaption völkerrechtlicher Begriffe“ hielt. Vermutlich „das Große und Ganze, das System und die institutionelle Bedeutung des Beamtentums als Garant der Stabilität, Funktionsfähigkeit und Verlässlichkeit einer rechtsstaatlichen Staatsverwaltung vor Augen“, entwickelte er aus Art. 33 Abs. 5 GG „Grenzen einer völkerrechtsfreundlichen Auslegung“. Die Rechtsprechung des EGMR sei „möglichst schonend in das vorhandene, dogmatisch ausdifferenzierte nationale Rechtssystem einzupassen“. Und das Streikverbot als hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums beschränke die Rechte aus Art. 9 Abs. 3 GG.

Die Stichworte des BVerfG nahm der EGMR dann im Dezember 2023 auf, um die Unterschiede zwischen den türkischen Fällen von 2008/2009 und dem deutschen Fall zu markieren: Die gravierende Einschränkung des Grundrechts, die ein absolutes Streikverbot bedeute, sei mit Blick auf die besonderen Rechte der Beamt:innen und ihrer Gewerkschaften in Deutschland gerechtfertigt. Diese könnten ihre beruflichen Interessen („occupational interests“) insbesondere durch gesetzlich gewährleistete Beteiligungsrechte bei der Vorbereitung beamtenrechtlicher Gesetze sowie durch die gerichtliche Geltendmachung des Anspruchs auf amtsangemessene Alimentation (mit Beteiligungschancen der Gewerkschaften im Gerichtsverfahren) wahren. Auch das Lebenszeitprinzip und die Gewährleistung von Beihilfe im Krankheitsfall und Pensionsrechten, die Personalratsvertretung, sowie die Möglichkeit, zum Arbeitnehmerstatus (mit Streikrecht) zu wechseln, wurden als Argumente angeführt, um das Streikverbot am Ende zu rechtfertigen.

Vor diesem Hintergrund und mit diesen Maßgaben werden weder das BVerfG noch der EGMR für ein absolutes Streikverbot in privatrechtlichen Arbeitsverhältnissen zu haben sein, seien die erbrachten Dienstleistungen auch noch so „wesentlich“ oder „kritisch“.

Die Gewährleistung von Notstands- und Erhaltungsarbeiten

Es bleibt also die Frage, ob ein Gesetz zumindest konkrete Einschränkungen oder Vorgaben machen könnte. Auf die Phantasie, man könne ein Gericht dazu ermächtigen, Verhandlungsführer:innen einer Koalition auszutauschen, sei hier allerdings nicht eingegangen. Ernsthaft wird ein so weitgehender Eingriff in die inneren Angelegenheiten einer privaten Organisation hoffentlich von niemandem in Betracht gezogen – schon gar nicht, wenn es um Organisationen geht, die durch Art. 9 Abs. 3 GG mit besonderen Rechten ausgestattet sind.

Es bleiben Vorschläge wie Schlichtungszwang, Ankündigungsfristen und Gewährleistung einer Notversorgung. Letzteres ist ein enorm wichtiges Thema, und auch bei Fragen wie „Gemeinwohlbindung“, „Verhältnismäßigkeitskontrolle“ geht es am Ende immer genau darum: Wie kann im Rahmen eines Arbeitskampfs gewährleistet bleiben, dass eine „kritische Infrastruktur“ aufrechterhalten bleibt? Mit dieser Rechtsfrage haben sowohl Arbeitskampfparteien als auch die Arbeitsgerichte regelmäßig zu tun, es ist also keineswegs so, dass es hier keine Regeln gäbe. Und man ist sich rechtlich einig darüber, dass in jedem Arbeitskampf „Notstands- und Erhaltungsarbeiten“ gewährleistet bleiben müssen.

Allerdings: Was wäre damit gewonnen, wenn diese Selbstverständlichkeit gesetzlich fixiert würde? Denn eine Juristin muss keine Expertin im Arbeitsrecht sein, um zu ahnen, dass der Teufel im Detail liegt. Die Konkretisierung dessen, was „erforderlich“ ist, um die Produktionsanlagen des Arbeitgebers zu schützen (Erhaltungsarbeiten) oder eine elementare Grundversorgung der Bevölkerung zu gewährleisten (Notstandsarbeiten), kann schon in den Bereichen, die eindeutig eine Notversorgung anbieten müssen, zu Streitigkeiten führen. Denn Krankenhäuser, die z.T. im Normalbetrieb nur noch mit Minimalbesetzungen arbeiten, könnten gar nicht mehr bestreikt werden, wenn man jede einzelne ihrer Tätigkeiten als elementar bewerten würde. Dabei haben gerade Streiks wesentliche Fortschritte bei der Personalbemessung in Krankenhäusern gebracht und insofern zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung beigetragen. Die Gerichte sind im Grunde die richtigen Institutionen, um die Frage der Notstands- und Erhaltungsarbeiten im Einzelfall angemessen zu entscheiden – falls nicht, wie in der Praxis meist, die Gewerkschaften, zusammen mit der Arbeitgeberseite, ohnehin angemessene Lösungen gefunden haben.

Falls Streit entsteht, fängt der übrigens schon bei der Frage an, was außerhalb des Bereichs der Beamtentätigkeit eigentlich zur elementaren Grundversorgung der Bevölkerung gehört. Einig ist man sich nur in Bezug auf den Schutz von Leib und Leben, z.B. bei der Krankenhausversorgung, im Rettungsdienst oder bei Wasser und Elektrizität. Darüber hinaus wird eine große Bandbreite an Dienstleistungen genannt, die in gewisser Hinsicht „notwendig“ zumindest für bestimmte Gruppen der Bevölkerung sind, von Post und Telekommunikation bis hin zu Bankdienstleistungen oder Bedürfnissen der „Hygiene“ (Schliemann, RdA 2012, 17). Verlangt man jedoch, das ein Arbeitskampf so organisiert wird, dass das Alltagsleben der Bevölkerung in keiner Weise beeinträchtigt wird, so schließt man das Streikrecht in einer Vielzahl von Dienstleistungsbranchen aus – was verfassungsrechtlich unzulässig ist, wenn es nicht mit kompensatorischen Garantien wie denen für Beamt:innen verbunden ist.

Einem Gesetzgeber, der das geltende Recht konkretisieren wollte, wäre jedenfalls anzuraten, sich insofern am internationalen Recht zu orientieren, das tatsächlich Einschränkungen des Streikrechts in „wesentlichen Dienstleistungen“ erlaubt. In der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) versteht man darunter zwar die Reinigung von Schulen, aber nicht Transport und Verkehr; der EGMR hat sich dem angeschlossen. Für Bahn und ÖPNV wäre damit also nichts gewonnen.

Prozedurale Beschränkungen des Streikrechts?

Wäre denn stattdessen eine gesetzliche Verpflichtung zur Schlichtung vor einem Arbeitskampf zulässig, oder eine gesetzliche Ankündigungsfrist verfassungsrechtlich? Wenig überraschend kommt es darauf an, und zwar auf die Auswirkungen, die die Einschränkung im konkreten Fall hätte. Im Mittelpunkt stehen dabei die Auswirkungen auf die Fähigkeit der Gewerkschaften, einen Arbeitskampf effektiv zu führen. Denn dies ist der Maßstab, den das BAG und das BVerfG in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben. Hintergrund sind Veränderungen der Wertschöpfungsstruktur der deutschen Wirtschaft, insbesondere der Wandel hin zur Dienstleistungsgesellschaft. In Dienstleistungsbranchen sind nicht nur die Organisationsgrade oft niedrig; die Arbeitgeberseite kann auch eine effektive Umgehung des Streiks oft leichter und ohne eigene Nachteile organisieren, z.B. durch die Nutzung von Leiharbeit und flexiblen Arbeitsformen. Zudem ist die allgemeine Bevölkerung häufiger als in der Industrie direkt vom Streikgeschehen betroffen, was die innergewerkschaftliche Mobilisierung schwieriger macht.

Vor diesem Hintergrund lockerte das BAG in einem Grundsatzurteil von 2009 bisher festgefügte Vorstellungen davon, was einen Streik bzw. eine gewerk­schaft­liche Arbeits­kampfmaßnahme ausmacht. Tatsächlich war die Aktionsform des „Flashmob“, die Anlass zu der Entscheidung gegeben hatte, Ergebnis einer lang andauernden und bis heute keineswegs abgeschlossenen gewerkschaftlichen Suche nach Kampf­mitteln, mit denen noch wirk­samer Druck ausgeübt werden kann. Die damalige Aussage des BAG, es „[gehöre] zur ver­fas­sungs­recht­lich geschütz­ten Frei­heit der Ko­ali­tio­nen, ih­re Kampf­mit­tel an die sich wan­deln­den Umstände an­zu­pas­sen, um dem Geg­ner ge­wach­sen zu blei­ben und aus­ge­wo­ge­ne Ta­rif­ab­schlüsse zu er­zie­len“, hat das BVerfG erst im Jahre 2020 wörtlich wiederholt. Diese Freiheit bringt notwendig eine Einschätzungsprärogative bezüglich Eignung und Erforderlichkeit von Arbeitskampfmitteln und damit eine eingeschränkte Verhältnismäßigkeitskontrolle mit sich.

Vermutlich gibt es Fälle, in denen eine Ankündigungsfrist mit diesem Rechtsrahmen durchaus vereinbar wäre. Deren Dauer müsste allerdings von Fall zu Fall angemessen bestimmt werden. Eine gleichzeitig rechtssichere und verfassungskonforme (d.h. einzelfallsensible) gesetzliche Regelung dieser Frage kommt der Quadratur des Kreises gleich. An der derzeitigen Arbeitskampfpraxis der Gewerkschaften würde sie voraussichtlich nicht einmal merklich etwas ändern. Auch hier bliebe die gerichtliche Prüfung des Einzelfalls das Mittel der Wahl.

Aber sollten die Arbeitskampfparteien nicht zumindest vor dem Streik in „sensiblen“ Bereichen mit den Einschätzungen und Lösungsvorschlägen eines oder einer Dritten konfrontiert werden? Dies ist es ja, was eine Verpflichtung zur Schlichtung bedeuten würde. Selbstverständlich ist es immer wünschenswert, sich die Meinung unbeteiligter, aber sachverständiger Dritter anzuhören. Aber lässt sich dies wirklich erzwingen? Historische und vergleichende Erfahrungen zeigen eher, dass solche Pflichten kaum zur Streikvermeidung beitragen. Wenn sie aber leer laufen, droht das Regelungs- und Schlichtungssystem ingesamt an gesellschaftlicher Legitimität zu verlieren. Und damit wäre der Schaden am Ende wohl größer als der Gewinn, den der Gesetzgeber hätte, wenn er seinen Steuerungswillen symbolisch behauptet.

Wünschbar und machbar?

Bereits auf der Podiumsdiskussion „Kodifizierung des Arbeitskampfrechts?“ auf dem 51. Deutschen Juristentag 1976 hatte Thilo Ramm drei Fragen unterschieden: „Ist eine Regelung wünschbar? Ist sie rechtlich geboten? Und ist sie politisch machbar?“ Die damalige Antwort auf die letzte Frage von Bernd Rüthers passt auch heute noch, fast fünfzig Jahre später: „Wenn wir die letzten dreißig Jahre betrachten, dann gibt es keine verläßlichere gesetzgebungspolitische Erfahrung als die, daß Regierung wie Parlament dieses glühende Stück Eisen Arbeitskampfrecht möglichst weitgehend gemieden haben.“

Das spricht allerdings nicht dagegen, sich mit den beiden anderen Fragen ganz nüchtern zu beschäftigen; der Gewinn persönlicher, rechtlicher und politischer Erkenntnisse ist es wert. Also: Ist eine gesetzliche Regelung wünschbar und rechtlich geboten? Wie gezeigt, kann die Antwort auch hier nur „nein“ lauten: Verfassungsrechtlich zulässig wären keine allgemeinen Einschränkungen, sondern nur Beschränkungen in gewissen Bereichen und durch konkrete Verfahrensanforderungen. Deren rechtliche Zulässigkeit muss aber an den Verhältnissen des jeweiligen Konflikts im konkreten Fall bestimmt werden, und dies bleibt am Ende Aufgabe der Rechtsprechung. Ein nicht geeignetes oder nicht erforderliches Gesetz ist aber verfassungswidrig.

Der Gesetzgeber kann sich hier nur verrennen. Die Erfahrungen mit dem Tarifeinheitsgesetz (§ 4a TVG), mit dem bereits einmal erfolglos versucht wurde, im Bereich der Bahn Rechtsfrieden per Gesetz zu schaffen, sollten insofern Lehre genug gewesen sein.

Die Bahnkundin darf immerhin hoffen, dass die Energie, die in den Entwurf von Streikrechtseinschränkungen investiert worden ist, ausreicht, um Ideen zu entwickeln, wie der Staat seiner Gewährleistungsverantwortung für die „kritische Infrastruktur“ im Normalbetrieb gerecht werden kann.