11 July 2022

Fiktive Einheit vor Pluralität

Das Tarifeinheitsgesetz besteht auch vor dem EGMR

Nun hat also auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Sachen Tarifeinheitsgesetz entschieden. Wie zuvor schon das BVerfG kommt er zum Ergebnis, dass der neue § 4a TVG in Menschenrechte eingreift, kann sich aber nicht dazu durchringen, Deutschland hierfür zu verurteilen. Und wie bereits im BVerfG haben zwei Richter:innen ihren Widerspruch in einem Sondervotum formuliert.

Arbeitskonflikte finden täglich und an vielen Orten statt. Da geht es immer auch um Macht, und weil diese zwischen Unternehmen und Beschäftigten ungleich verteilt ist, sind Gewerkschaften in solchen Auseinandersetzungen strukturell im Nachteil. Das Recht muss dies anerkennen, berücksichtigen und ausgleichen. Es gehört jedoch nicht zu den Aufgaben von Politik und Recht, in die politischen Dynamiken innerhalb der Arbeitnehmerschaft einzugreifen. Klar, je geschlossener diese in einem Konflikt auftreten kann, desto größer sind die Durchsetzungs­chancen. Und gerade solche Arbeitnehmer:innengruppen, die schwächer als andere mit Macht ausgestattet sind, sind auf die Solidarität anderer Beschäftigter angewiesen. Das Tarifeinheitsgesetz ist aber nicht nur ein ungeeignetes Instrument, um diese Solidarität rechtlich zu erzwingen. Es greift auch tief in Grund- und Menschenrechte ein. Die Mehrheit des EGMR hat dennoch keinen Verstoß gegen Art. 11 EMRK feststellen mögen.

Ein kurzer Rückblick

Das Tarifeinheitsgesetz (§ 4a TVG) hat eine politische und eine rechtliche Vorgeschichte. Politisch handelt sie von der Entwicklung der Gewerkschaftskonkurrenz in Deutschland; diese ist die hauptsächliche Quelle der Tarifpluralität, auf die das Tarifeinheitsgesetz reagiert. Da auch in Deutschland Gewerkschaftsfreiheit herrscht, ist es – jedenfalls in der Bundesrepublik – seit jeher gar nicht so ungewöhnlich, dass es in einem Betrieb mehrere Gewerkschaften gibt. Allerdings lösten sich in den 2000er Jahren einige Gewerkschaften, die nur bestimmte Berufsgruppen und nicht die ganze Breite der Arbeitnehmer:innenschaft repräsentieren, aus vorher bestehenden Tarif- und Solidaritätsgemeinschaften mit den (dem DGB angehörenden) Einheitsgewerkschaften. Besonders die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) machte sich auf, die Macht- und Verhandlungsposition ihrer Mitglieder in eigene Forderungen und Tarifverträge umzumünzen. Und sie zeigte vor allem 2007 aller Öffentlichkeit diese Machtposition, mit zahlreichen längerdauernden Streiks bei der Bahn.

In der rechtlichen Geschichte ist der 4. Senat des Bundesarbeitsgerichts (BAG) unter seinem Vorsitzenden Klaus Bepler ein zentraler Akteur. 2010 formulierte er seine schon vorher viel diskutierte Ankündigung, die langjährige Rechtsprechung zum Grundsatz der Tarifeinheit ändern zu wollen, in einer Vorlage an den Großen Senat des BAG. Als der 10. Senat sich daraufhin der Rechtsauffassung des 4. Senats anschloss (§ 45 Abs. 3 Satz 1 ArbGG), war klar, dass das BAG künftig mehrere Tarifverträge in einem Betrieb nebeneinander bestehen lassen würde (Tarifpluralität), statt wie bisher nach dem Spezialitätsprinzip einem Tarifvertrag den Vorrang zu geben (Tarifeinheit). Da Tarifverträge im deutschen Recht in der Regel nur für die Mitglieder der tarifschließenden Verbände gelten (§ 4 Abs. 1 TVG), war das rechtstechnisch durchführbar.

Schon bevor das BAG 2010 abschließend entschieden hatte, taten sich die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) zusammen, um die Wiederherstellung des Tarifeinheitsprinzips per Gesetz zu fordern: „Die Interessen der Gesamtbelegschaften dürfen nicht von Einzelinteressen verdrängt werden.“ Ungeachtet der Tatsache, dass es hierzu unter den DGB-Gewerkschaften Distanzierungen und andere Auffassungen gab, wurde diese Forderung durch die Große Koalition im Juli 2015 mit § 4a TVG umgesetzt. Seither sind in einem Betrieb nur noch „die Rechtsnormen des Tarifvertrags derjenigen Gewerkschaft anwendbar, die zum Zeitpunkt des Abschlusses des zuletzt abgeschlossenen kollidierenden Tarifvertrags im Betrieb die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hat“ (Tarifeinheit nach dem Repräsentativitätsprinzip).

Eingriff in Grund- und Menschenrechte

Nun ist die Tätigkeit von Gewerkschaften – auch die von Minderheitengewerkschaften – grund- und menschenrechtlich geschützt, im Grundgesetz (GG) durch Art. 9 Abs. 3, in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) durch Art. 11. Und ein Kern gewerkschaftlicher Tätigkeit und Daseinsberechtigung ist es, Tarifverträge abzuschließen, mit denen die Interessen der Mitglieder rechtlich geschützt werden können. Das Tarifeinheitsgesetz entwertet dieses Recht von Minderheitengewerkschaften. Dies war ursprünglich schon die Begründung für die Rechtsprechungsänderung des BAG 2010 (Rn. 22, 53 ff). Angelehnt an die Formulierung von Max Steinbeis: „Wenn ich Mitglied einer Gewerkschaft bin und die schließt nach allen Regeln der Kunst mit einem Verband, in dem mein Arbeitgeber Mitglied ist, einen Tarifvertrag – dann kann ich diesen Tarifvertrag in der Pfeife rauchen, wenn die Kollegen aus der Soundso-Abteilung mit ihrer Gewerkschaft [in der Mehrheit sind] und einen [anderen] Tarifvertrag für sich klar gemacht haben.“

Sowohl das BVerfG wie der EGMR gehen dementsprechend davon aus, dass ein Eingriff in Grund- und Menschenrechte vorliegt. Das BVerfG (Rn. 136) unterstreicht zu Recht den gravierenden Charakter des Eingriffs, der sich auch aus den „grundrechtsbeeinträchtigenden Vorwirkungen“ ergibt: „Die Möglichkeit, dass der eigene Tarifvertrag verdrängt werden könnte, und die gerichtliche Feststellung, in einem Betrieb in der Minderheit zu sein, können eine Gewerkschaft bei der Mitgliederwerbung und bei der Mobilisierung der Mitglieder auch für Arbeitskampfmaßnahmen schwächen und Entscheidungen zur tarifpolitischen Ausrichtung und Strategie beeinflussen.“

Demgegenüber erscheint der Eingriff in den Feststellungen des EGMR vergleichsweise harmlos: Man habe schon Schlimmeres durchgehen lassen (Rn. 68). Schließlich behielten die betroffenen Gewerkschaften ja formal ihre Kollektivverhandlungsrechte „as such“. Sie würden nur eben ermutigt, Verhandlungen mit anderen zu koordinieren (Rn. 63) und könnten sich ohnehin dem Mehrheitstarifvertrag per Nachzeichnung (§ 4a Abs. 4 TVG) anschließen. Gegen diese Verharmlosung wendet sich das Sondervotum der Richter Georgios Serghides und Andreas Zünd „respektvoll“ und zu Recht mit scharfen Worten: Der Kern oder Wesensgehalt des Rechts werde beeinträchtigt, es werde inhaltsleer, zu einer leeren Hülle, die Norm werde bedeutungslos. Auch das Streikrecht werde ineffektiv und illusorisch gemacht sowie jedes wirklichen Ziels beraubt. Dies sei offensichtlich, und die Argumentation der Mehrheit unlogisch; sie stehe dem Prinzip der EMRK, dass formale Rechte tatsächlich effektiv werden müssten, entgegen.

Die Rechtfertigung

Nachdem der EGMR schon den Eingriffscharakter verharmlost, überrascht es nicht, dass er den Eingriff am Ende als gerechtfertigt ansieht. Schließlich gehe es um die Funktionsfähigkeit des Systems der Tarifautonomie bzw. um Frieden und Solidarität im Betrieb („keeping peace and solidarity within the economic unit“) (Rn. 53). Nun, dies sind ehrenwerte Ziele; wer wird schon gegen Frieden und Solidarität sein?

Dann braucht es nur noch den energischen Hinweis auf die Einschätzungsprärogative und den Spielraum des nationalen Gesetzgebers, um die Argumentation abzuschließen. Zur Frage der Verhältnismäßigkeit kommt der EGMR deshalb gar nicht. Um ein wirkliches Verständnis, mit welchen Erwägungen der deutsche Gesetzgeber seiner Verantwortung bei Bewertung von Eignung und Erforderlichkeit nachgekommen sein mag, bemüht sich das Gericht nicht. Das Sondervotum von Serghides/Zünd meint dagegen, für das angestrebte Ziel würden vollständig unverhältnismäßige Mittel eingesetzt („entirely disproportionate to their legitimate aim“).

Im Gesamtinteresse aller Arbeitnehmer:innen?

Der EGMR macht aber immerhin hinreichend deutlich, worin er die Gefahr für die Tarifautonomie und „Frieden und Solidarität im Betrieb“ sieht. Zum einen sollen Gewerkschaften, die Beschäftigte in Schlüsselpositionen vertreten, gehindert werden, Kollektivverträge zum Nachteil („detriment“) anderer Beschäftigter abzuschließen. Welche Nachteile dies genau sein sollen, wird nicht genannt; aber man kann es sich vorstellen: Jeder Euro kann nur einmal ausgegeben bzw. versprochen werden, und wenn die Lokomotivführer:innen deutlich mehr als vorher bekommen, können wahrscheinlich die Büroangestellten nicht auch noch mehr bekommen. Ob man das schon als Nachteil bezeichnen sollte, der rechtlich relevant werden kann, ist aber eher fraglich. Umso wichtiger ist deshalb der zweite Aspekt: Es soll ein „overall compromise“ gefördert werden (Rn. 28). Der EGMR verweist insofern auf ein Urteil von 1975, in dem er (lange vor Beginn der Fortentwicklungen seiner eigenen Rechtsprechung zu Art. 11 EMRK) festgestellt habe, dass es ein legitimes Ziel „in itself“ sei, eine „kohärente und ausgewogene Personalpolitik, die die beruflichen Interessen des gesamten Personals angemessen berücksichtigt“, sicherzustellen. (Diese 1975 noch in Anführungszeichen gesetzte Formulierung von Belgien, dem damaligen Beschwerdegegner, übernimmt der EGMR nun als eigene Aussage, allerdings ohne den damaligen Zusatz Belgiens, der sich polemisch gegen „trade union anarchy“ richtete.)

Ein „Gesamtkompromiss“ ist grundsätzlich eine wunderbare Vorstellung und wirklich sehr erstrebenswert: Gewerkschaften und Tarifparteien sollten möglichst alle unterschiedlichen Interessen, die es ja auch unter Arbeitnehmer:innen gibt, wirksam machen. Je mehr dies nach Prinzipien der Solidarität geschieht, in der die Stärkeren nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Schwächeren eintreten, umso besser gelingt Sozialpolitik und wird gesellschaftlicher Zusammenhalt gefördert. Es spricht deshalb überhaupt nichts dagegen, Funktionen der Tarifautonomie nicht nur in der Festschreibung von Interessen in der vertikalen Auseinandersetzung zwischen Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen zu suchen, sondern auch im fairen horizontalen Ausgleich unter den Beschäftigten. Das Funktionieren von Tarifautonomie setzt schließlich keineswegs voraus, dass die Konkurrenz von Gewerkschaften unbedingt Ausdruck in divergierenden Tarifnormen finden müsste.

Die Frage ist nur, mit welchen Mitteln der faire Ausgleich erzielt werden und zu welchem Preis das Recht ihn erzwingen kann. Schon das BVerfG hatte mit der Formulierung, das Grundrecht (Art. 9 Abs. 3 GG) „vermittel[e] kein Recht auf unbeschränkte tarifpolitische Verwertbarkeit von Schlüsselpositionen und Blockademacht zum eigenen Nutzen“ angesetzt, den subjektivrechtlichen Charakter des Koalitionsrechts zu entwerten. Beim EGMR wird nun ebenfalls die Institution der Tarifautonomie gegen die subjektiven Rechte in Stellung gebracht, deren objektivrechtlicher Reflex sie ist. Klar, die Koalitionsfreiheit wird gerade deshalb rechtlich so stark geschützt, weil mit ihrer Hilfe „Tarifverträge mit der ihnen innewohnenden Richtigkeitsvermutung angemessene Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen hervorbringen können“ (BVerfG, Rn. 145). Aber hier geht es ja (anders als in den vom EGMR Rn. 60, vergleichend herangezogenen Fällen) nicht um ein staatlich eingehegtes System, sondern um Kollektivverhandlungsautonomie auf Grundlage von Freiheitsrechten, also auf Grundlage der Idee, dass „angemessene“ Regelungen am besten als Ergebnis wirtschaftlicher und politischer Auseinandersetzung entwickelt werden. Dies ist der Hintergrund, weshalb das Sondervotum zur EGMR-Entscheidung (Rn. 6) zu Recht „Pluralität der Stimmen“ und das Demokratieprinzip betont.

Das Tarifeinheitsgesetz verlangt dagegen jetzt in § 4 Abs. 2 Satz 1, 2. Hs. TVG (angestoßen durch das BVerfG in seinem unbedingten Willen, das Gesetz irgendwie zu halten), dass der Mehrheitstarifvertrag die Interessen, die der Minderheitstarifvertrag erfasst, „ernsthaft und wirksam berücksichtigt“ – ansonsten bleibt es bei Tarifpluralität. Da kommt die problematische Vorstellung vom Einheitsinteresse der Arbeitnehmer:innen, das irgendwie objektiv ermittelt werden könne, einigermaßen explizit zum Ausdruck. Dem EGMR gefällt sie (Rn. 65).

Zu allem Überfluss: ein Gesetz ohne Wirksamkeit

In der Praxis des Gesetzes spielt all dies aber aktuell sowieso keine Rolle; Frieden und Solidarität lassen sich eben nicht gut durch Recht verordnen. Mal abgesehen davon, dass es die Probleme, die das Gesetz lösen sollte, aus sozio-ökonomisch erklärbaren Gründen ohnehin nur in einer sehr begrenzten Zahl von Berufsgruppen gibt (falls man die Wahrnehmung von Grundrechten als Problem markieren möchte). In diesen Bereichen jedenfalls scheint teils einzutreten, was die Verfassungsrichter:innen Paulus/Baer in ihrem Sondervotum (Rn. 8-9) bereits befürchtet hatten: Die Regelung könnte neue „Häuserkämpfe“ um die betriebliche Mehrheit provozieren.

Oder, in den Worten von Reinhard Richardi: § 4a TVG schießt mit Kanonen auf Spatzen, ohne diese zu treffen. Wobei dieser Autor mit den Spatzen ein Ziel des Gesetzes meinte, das zwar nicht geheim, aber (weil verfassungswidrig) versteckt gehalten wurde, nämlich das Ziel einer Einschränkung des Streikrechts. Der Satz gilt aber genauso für das Ziel, „Frieden und Solidarität“ in Betrieben zu schaffen. Nicht alle, denen das Schicksal einer Minderheitengewerkschaft und damit der Entwertung einer Kernfunktion der eigenen Daseinsberechtigung droht, nehmen das kampflos hin. Die schiere Rechtsunsicherheit, die das Gesetz geschaffen hat, bietet zwar einen gewissen Anreiz für Festlegungen auf Vereinbarungsbasis. Immerhin regelt § 4a TVG nicht einmal ein Verfahren, mit dem Mehrheitsverhältnisse verlässlich und ohne Offenlegung absoluter Mitgliederzahlen festgestellt werden könnten. Die Auseinandersetzungen zwischen GDL und Bahn im letzten Sommer haben aber gezeigt, wie labil ein so geschaffener Frieden sein kann. Das Tarifeinheitsgesetz mag vor Gericht bestanden haben; in der Realität kann es mangels Eignung als gescheitert gelten.