04 March 2022

Ein plurinationales Rechtssystem für Chile

Die Verfassunggebenden Versammlung beginnt mit der Justiz und dem Staatsaufbau

Seit Mitte Februar schreiben die Mitglieder der Verfassunggebenden Versammlung in Chile an den Normen einer neuen Verfassung. In der ersten Woche stimmte das Plenum über Regeln zu Rechtssystem und Staatsaufbau ab. Die Ergebnisse der Abstimmungen haben in der Öffentlichkeit wegen mangelnder Klarheit für viele Diskussionen gesorgt. Mit diesen Normen scheint die Verfassunggebende Versammlung Ungerechtigkeiten der Vergangenheit in Bezug auf die indigene Bevölkerung beheben zu wollen. Das zeigt sich an dem Stellenwert, den der Verfassungsentwurf den Regionen und indigenen Rechtssystemen zuschreibt.

Was kann eine Verfassung?

Der chilenische Staat hat eine bisher nicht umfassend wahrgenommene Verantwortung gegenüber seiner indigenen Bevölkerung und steht bei dieser in der Schuld. Die bereits in früheren Veröffentlichungen   angesprochene Hoffnung der Bevölkerung auf Gerechtigkeit schafft in der Umsetzung durch die Verfassungsgebende Versammlung bisher aber vor allem Verwirrung. Begriffe wie „autonome Gebiete der indigenen Bevölkerung“ und „plurinationale Rechtssysteme“ sind in Chile im juristischen und politischen Diskurs noch nicht geläufig. Doch möglicherweise kann die Verfassung zur Bildung einer gerechteren Gemeinschaft beitragen, wenn ihr normativer Charakter in den nächsten Jahrzehnten mit Leben gefüllt wird. In diesem Zusammenhang könnte Chile Teil der süd-amerikanischen Bewegung des transformativen Konstitutionalismus werden, der Verfassungen gezielt als Instrument nutzt, um innerstaatliche Ungleichheiten und Machtverhältnisse zu verändern.

Dabei darf nicht übersehen werden, dass es große strukturelle Unterschiede zwischen den neun verschiedenen indigenen Völker Chiles gibt. Darüber hinaus ist die Lage zwischen dem Staat, privaten Unternehmen und indigenen Gruppen angespannt und die Haltung zum Konflikt mit den Mapuche, der schon seit Jahrhunderten andauert, gespalten. Diese Spannungen sind auch in einem aktuell erneut verlängerten Ausnahmezustand im Süden Chiles sichtbar.

Staatsaufbau

Chile ist, laut dem ersten verabschiedeteten Artikel der neuen Verfassung, ein regionaler, plurinationaler und interkultureller Staat. Gleichzeitig ist im fünften verabschiedeteten Artikel über den Staatsaufbau zu lesen, dass die Regionen, die Gemeinden und die Gebiete der indigenen Bevölkerung autonom sind, dies aber in keinem Fall den unteilbaren Charakter des Staates untergraben darf, also keine territoriale Abspaltung möglich ist. In diesen Normen ist eindeutig der Wille zu erkennen, den indigenen Völkern Chiles mehr Gestaltungsspielraum zu geben. Dies wird auch in Artikel 10 deutlich, der die Anerkennung und Förderung der indigenen Völker und deren Sprachen gewährleistet.

Die Autonomie der Regionen spiegelt sich auch in einer eigenen Haushaltskompetenz wieder, die im Artikel 35 Nummer 3 des Verfassungsentwurfs verankert wurde. Allerdings gingen für viele Mitglieder der Verfassunggebenden Versammlung die vorgeschlagenen Funktionen und Kompetenzen der regionalen Regierungen zu weit, sodass nicht alle Anträge diesbezüglich die erforderliche Mehrheit erhielten.

Es bleibt fraglich, inwiefern diese weitreichende politische, finanzielle und administrative Autonomie einzelner Regionen (Artikel 18 über den Staatsaufbau) mit dem unteilbaren Charakter und der Einheit des Staates in Einklang gebracht werden kann und welche Kontrollmechanismen gegen mögliche Korruption eingesetzt werden können.

Rechtssystem

Es scheint, dass auch das Rechtssystem der neuen Verfassung die jahrhundertelange Unterdrückung der indigenen Völker in gewisser Weise wiedergutmachen soll. Laut Artikel 15 der Verfassung über das Rechtssystem soll die richterliche Funktion in ihrer Struktur und ihren Verfahren in Einklang mit den Grundsätzen der Plurinationalität, des Rechtspluralismus und der Interkulturalität stehen. Bisher besteht seitens der Justiz durchaus die Möglichkeit, bestimmte indigene Traditionen und Rituale zu dulden. Der aktuell verabschiedete Rechtspluralismus soll jedoch weit darüber hinaus gehen. Innerhalb des Landes könnten scheinbar verschiedene Gesetze auf einen Sachverhalt angewendet werden, je nach dem, ob sich die Personen vor Gericht als Angehörige eines indigenen Volkes bezeichnen. Bisher ist noch unklar, ob diese verschiedenen Rechtssysteme in irgendeiner Weise hierarchisch strukturiert sind und ob es ein gemeinsames oberstes Gericht geben wird. Eine Norm bezüglich indigener Gerichtsbarkeiten wurde wegen Unklarheiten in der praktischen Ausgestaltung im Plenum abgelehnt.

Teilweise herrscht sogar innerhalb eines Volkes, wie beispielsweise der größten indigenen Bevökerungsgruppe der Mapuche im Süden Chiles, keine hierarchische Struktur von Rechtssystemen, sodass nicht klar ist, welches Recht in welcher indigenen Bevölkerungsgruppe letztendlich gelten soll und wie es legitimiert wird.

Gleichstellung

Ein weiterer wichtiger normativer Aspekt der verabschiedeten Normen ist die Einführung der Genderperspektive in das Rechtssystem. Darin wird der Einfluss von feministischen Bewegungen erkennbar. So wurde in Artikel 14 der Normen in Bezug auf das Rechtssystem das Prinzip der Parität verankert, das nun für die richterliche Tätigkeit gilt. Darüber hinaus gilt auch die personelle Gleichberechtigung und die Gerichte müssen unabhängig von ihrem Zuständigkeitsbereich unter Berücksichtigung von Genderaspekten entscheiden. Dieses letzte Prinzip wird teilweise schon seit 2016 von einigen Richtern und Richterinnen in der Praxis umgesetzt und bekommt nun durch die verfassungsrechtliche Verankerung einen neuen Rückhalt. Auch hier bleibt abzuwarten, inwieweit die Normen der Verfassung in konkreten Gesetzen, Rechtsverordnungen, Verfahrensnormen und politischen Programmen ausgestaltet werden.

Wie geht es nun weiter?

Die bisherigen und zukünftig diskutierten Artikel konnten von der allgemeinen Bevölkerung durch Petitionen, von einzelnen indigenen Völkern oder von Mitgliedern der Verfassunggebenden Versammlung eingebracht werden. Die im Januar neugewählten Vorsitzenden der Verfassunggebenden Versammlung schicken diesen Vorschlag in eine der sieben thematischen Kommissionen, die darüber diskutieren. In diesen Kommissionen werden die eingebrachten Artikel zunächst verabschiedet und dann Veränderungen vorgeschlagen. Über jeden dieser Veränderungsvorschläge wird in den Kommissionen abgestimmt. Nach einem positiven Abstimmungsergebnis, wird der jeweilige Artikel zur Abstimmung in das Plenum der Verfassunggebenden Versammlung mit 155 Mitgliedern geschickt. Wenn das Plenum die vorgeschlagene Norm nicht mit einer 2/3-Mehrheit verabschiedet, kommt die Norm wieder in die ursprüngliche Kommission zurück. Dort kann innerhalb einer 15-Tage-Frist ein zweiter Vorschlag verabschiedet werden. Wenn dieser zweite Vorschlag im Plenum wieder abgelehnt wird, kann diese Norm nicht mehr in die Verfassung gelangen.

Sobald die Norm mit 2/3-Mehrheit verabschiedet wurde, bringen die Vorsitzenden die Normen in eine Reihenfolge. Dann kommt dieser Text in die Kommission für die Harmonisierung. Das ist der letzte Teil des verfassunggebenden Prozesses. In dieser Kommission sitzen 40 Mitglieder. Sie untersuchen im Detail die juristische Formulierung und die Kohärenz des Textes. Auf diese Weise sollen mögliche Widersprüche zwischen den Normen aufgedeckt werden. Ihr Verfassungsentwurf wird anschließend im Plenum zur Verabschiedung geschickt. Dort kann jedes Mitglied mit der Unterstützung von 16 anderen Mitgliedern Änderungsvorschläge machen. Wenn diese Abstimmungen beendet sind, ist der neue Text der Vorschlag für eine neue Verfassung. Damit diese Verfassung „das Haus aller“ sein kann, wie es in den Diskursen bisher angekündigt und versprochen wurde, muss dieser Text dann in einer Volksabstimmung angenommen werden.

Der Verfassungsprozess ist weiterhin spannend und es bleibt abzuwarten, ob sich die neue Verfassung in den transformativen Konstitutionalismus in Lateinamerika einreiht.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


SUGGESTED CITATION  Bonnecke, Svenja: Ein plurinationales Rechtssystem für Chile: Die Verfassunggebenden Versammlung beginnt mit der Justiz und dem Staatsaufbau, VerfBlog, 2022/3/04, https://verfassungsblog.de/ein-plurinationales-rechtssystem-fur-chile/, DOI: 10.17176/20220305-001207-0.

One Comment

  1. Sibylle Wed 23 Mar 2022 at 12:02 - Reply

    Beim abschließenden Referendum wird die Verfassung der Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt? Welche Mehrheit wird benötigt um die Verfassung anzunehmen? Einfache Mehrheit oder 2/3 Mehrheit?

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