Ein Riss in zementierten Ansichten
Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch Unternehmen?
Am 18. Mai 2022 hat die Berufungsinstanz Cour d‘appel de Paris ein u.a. wegen Beihilfe an Verbrechen gegen die Menschlichkeit und dem Vorwurf der Terrorismusfinanzierung eingeleitetes Strafverfahren gegen das Zementunternehmen Lafarge SA bestätigt. Damit setzt sich die Perspektive von Frankreichs Oberstem Gerichtshof – der Cour de cassation – durch, welcher bereits am 7. September 2021 für die Zulassung dieser Anklage votiert hatte.
Im Fokus der strafrechtlichen Ermittlungen stehen gravierende Vorwürfe: Das syrische Tochterunternehmen Lafarge Cement Syria (LCS) soll in den Jahren 2013 bis 2014 Beträge in der Summe von 13 Millionen Euro an terroristische Gruppierungen – unter ihnen den Islamischen Staat (IS) – überwiesen oder über Mittelsmänner gezahlt haben, um den Betrieb in der Zementfabrik vor Ort trotz der gravierenden Kriegsgeschehnisse aufrechtzuerhalten. Syrische Arbeitnehmer mussten folglich trotz einer akuten Bedrohungssituation weiterarbeiten und wurden teilweise durch den IS festgenommen, gefoltert und getötet.
Elf (ehemalige) syrische Angestellte sowie das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) und die Nichtregierungsorganisation Sherpa hatten im Jahr 2016 Strafanzeige erstattet. Bereits 2017 wurden Ermittlungsverfahren gegen acht (ehemalige) Manager von Lafarge wegen Terrorismusfinanzierung und Gefährdung des Lebens anderer („mise en danger de la vie d’autrui“) eingeleitet. Die kriminalstrafrechtliche Adressierung eines multinationalen Unternehmens stieß jedoch auf Widerstand und eine andere Kammer ebendieser Pariser Berufungsinstanz hatte noch im Jahr 2019 eine entsprechende Anklage abgewiesen. Mit der jüngsten Entscheidung der Pariser Cour d‘appel scheint das – auf eine lange Tradition zurückblickende – Unbehagen gegenüber einer Unternehmensstrafbarkeit im Kontext des Völkerstrafrechts nun endgültig überwunden: Im Fall Lafarge wird neben individuellen Tätern auch das Unternehmen als kriminalstrafrechtlich relevanter Täter gravierender Verbrechen erwogen.
Von „Versäumnissen“ zu „Unternehmenskriminalität“
Der Weg zu einer kohärenten Begründung der strafrechtlich relevanten Täterschaft von Unternehmen beginnt mit Semantik. Sprachliche Verharmlosungen von Unrecht als „Unfall“ oder „business as usal“ sind in diesem Kontext nicht selten.
Vorliegend soll Lafarge Rohstoffe zur Zementherstellung vom IS gekauft oder im Gegenzug für Zement erhalten haben und in mehrerlei Hinsicht profitable Beziehungen mit dem IS unterhalten haben, um IS-Checkpoints mit Lafarge-LKWs ohne weiteres passieren zu können und weiterhin am syrischen Standort den Geschäftsbetrieb aufrechterhalten zu können. Auch aus der Perspektive derjenigen, die Unternehmenstätigkeit in Konfliktzonen normalisieren, dürfte hier eine Grenzüberschreitung von Geschäftstüchtigkeit in Kriegszeiten hin zu strafbarer Kriegsökonomie naheliegen.
Sprachliche Relativierungen sind im Kontext der Unternehmenskriminalität auch bei Formulierung der Verantwortungsanteile typisch, denn oftmals – und so auch hier – spielt sich der Sachverhalt an der Schnittstelle zwischen sog. externen Effekten eines profitorientierten Wirtschaftens, individuellen Straftaten und korporativem Unrecht ab. Es kann insofern nicht erstaunen, dass Lafarge von „Versäumnissen“ bei Überwachung der syrischen Tochterunternehmen spricht sowie davon, dass „Regelverstöße“ nicht „ausreichend (früh) identifiziert wurden“.
Gleichmaßen herausfordernd im Umgang mit Sachverhalten an dieser Schnittstelle ist aber, dass Unternehmenskriminalität ein komplexes und multidimensionales Phänomen darstellt. Das Unternehmen ist also nicht „der“ neue Kriminelle sui generis, der für das Strafrecht leicht greifbar oder einfach zu steuern wäre. Das Unternehmen wirkt manchmal „nur“ als Kontext – als social cocoon – und trägt so zur Bildung eigener, subjektiv überlegener Werteordnungen bei, z.B. durch ein Betriebsklima, das von sehr leistungsbezogenen Narzissten bestimmt wird. Es wird durch eine Fülle von Gruppendynamiken geprägt, die manchmal sogar zu einer „parallelen Werteordnung“ führen, in der eine Sicherheitslücke als „günstige Gelegenheit“ gedeutet wird. All dies sind aber zunächst einmal nur Kriterien einer Subkultur, welche bislang gerade nicht als Einheit bestraft wird. Eine kohärente Begründung der Täterschaft des Unternehmens setzt also bereits auf analytischer Ebene Differenzierungen voraus: zwischen Individualkriminalität, Leitungsversagen, Gruppenphänomenen und schließlich systemischen kriminogenen Faktoren, die eine plausible Verbindung zum Unternehmen „an sich“ aufweisen.
Der Kassationshof hat im Kontext der Erörterung des Vorwurfs der Terrorismusfinanzierung im September 2021 allerdings bereits detailliert festgestellt, dass die Zahlungen i.H.v. ca. 15 Millionen Euro durch das syrische Tochterunternehmen Lafarge Cement Syria (LCS) angewiesen wurden, welches durch die in Zypern angesiedelte Lafarge Cement Holding mit Mitteln versorgt worden war, die wiederum durch Lafarge SA kontrolliert wird. Zudem seien diese Vorgänge nicht über die üblichen Transaktionswege erfolgt, sondern manuell eingegeben und unter der Rubrik „frais de représentation“ verbucht worden. Es wird in diesem Zusammenhang auch ausgeführt, dass verschiedene Betriebsleiter von Lafarge Cement Syria (LCS) die Zustimmung und teilweise Anweisung ihrer direkten Vorgesetzten sowie weiterer, hierarchisch höher gestellter Vorgesetzten zu den Zahlungen erhielten, die das Passieren der Lafarge Mitarbeiter und Fahrzeuge auf unterschiedlichen Routen betrafen.
Es ist also a priori nicht fernliegend, dass es sich nicht mehr um punktuelle und habituelle Normabweichungen der Unternehmensmitarbeiter handelte, sondern vielmehr zahlreiche Handlungen und Unterlassungen ineinandergriffen und auf das Ziel ausgerichtet waren, die Produktionsstätte in der syrischen Bürgerkriegsregion um jeden Preis aufrechtzuerhalten. Dies entspräche auch kriminologischen Ansätzen, nach denen das Unternehmen regelmäßig dann zum Kriminellen sui generis wird, wenn es eigene Strukturen mit derart starker Priorisierung der Profitmaximierung („um jeden Preis“) herausgebildet hat, dass der Handlungskorridor der Mitglieder deutlich verengt ist und damit eine funktionsdeterminierende „Matrix“ mit kriminogener Wirkung vorliegt, die unmittelbar in Rechtsgutsverletzungen mündet. Für einen solchen systemischen kriminogenen Druck spräche nicht zuletzt, dass Lafarge bis zum Jahr 2010 ca. 680 Millionen Euro in den Aufbau der syrischen Dependance investiert hatte.
Strafrechtliche Unternehmensverantwortung für Unternehmenskriminalität?
Der gedankliche Sprung von Unternehmenskriminalität hin zum Unternehmen als „Straftäter sui generis“ ist aber auch normativ voraussetzungsreich. Die nun mit dem Fall Lafarge befasste Instanz wird das erst 2004 in Frankreich eingeführte Konzept der Unternehmensstrafbarkeit genauer ausbuchstabieren müssen. Dabei dürfte insbesondere die Abschichtung zwischen individuellen und korporativen Verantwortungsanteilen problematisch sein – unter anderem, weil es die zusätzliche Schwierigkeit einer Abgrenzung zwischen den Zuständigkeitsbereichen des syrischen Tochterunternehmens Lafarge Cement Syria (LCS) einerseits und des Pariser Managements von Lafarge andererseits geben wird. Nicht zuletzt die Argumentation im Kontext diffiziler Einzelfragen zur subjektiven Tatseite dürfte für die in Deutschland noch auf der kriminalpolitischen Tagesordnung stehende Diskussion des Unternehmensstrafrechts wichtige Orientierungspunkte bieten.
Es deutet sich allerdings sowohl in der Entscheidung der Cour d‘appel vom 18. Mai 2022 als auch bereits in derjenigen der Cour de cassation vom 21. September 2021 an, dass zur Begründung der Unternehmensverantwortung an dem weit verbreiteten „Zurechnungsmodell“ festgehalten werden wird. Dem Unternehmen wird dann das Versagen seiner Leitungsebene als eigenes zugerechnet – „la responsabilité pénale de la personne morale est une responsabilité indirecte ou par « ricochet »“.
Eine solche Konstruktion der Unternehmensstraftat über das – bislang im Zivilrecht dominante – Rechtsträgerprinzip ist problematisch, denn sie erfüllt eine Grundbedingung strafrechtlicher Sanktionierung nicht: Zurechnung und Verurteilung auf dieselbe Person zu beziehen, also die Strafe auf die persönliche Verantwortung des von ihr Betroffenen zu gründen. Das klingt nach dogmatischen Finessen, ist aber vor allem jenseits theoretischer Diskussionen von Grundsatzfragen für die Rechtspraxis relevant: Wenn Leitungsversagen als Unternehmensversagen gelten soll, kann nicht zwischen Verantwortungsanteilen des Unternehmens und solchen der Unternehmensmitarbeiter differenziert werden. Gelingt dies aber nicht, kommt es zu einer eher schwach begründeten Erfolgshaftung. Das passt aus guten Gründen ins Zivilrecht, wo es um die Ausdehnung von Haftungsmasse über die Multiplikation von Verantwortung gehen darf – es passt aber nicht ins Kriminalstrafrecht, wo es darum geht, die Ursache des sozialen Konflikts durch Vereinzelung und Verantwortlichmachen des Täters zu klären. Im Strafrecht bedarf es hinsichtlich der Zuständigkeit für den Pflichtverstoß klarer Kriterien entlang derer eine vorwerfbar pflichtwidrige Organisation des Unternehmens durch seine Repräsentanten– ein individuelles Versagen – von einer vorwerfbaren Unternehmensstraftat unterschieden werden kann.
Hier dürften sich im vorliegenden Verfahren spannende Diskussionslinien ergeben: Wie ist nämlich normativ zu bestimmen, dass es nicht nur Repräsentanten von Lafarge in Damaskus waren, die die Geldzahlungen für Passierscheine und fragile Produktionssicherheit anordneten? Und wie ist der Verantwortungsbereich der Pariser Vorgesetzten abzugrenzen, die diese Vorgehensweise autorisiert haben sollen mit dem einzigen Hinweis, dass dies „nicht zur Gewohnheit werden dürfe“? Gerade wenn es um transnationale Unternehmen mit einem weit entfernten Konzernsitz geht, wird der essentielle Nachweis einer Tatbeteiligung und -kenntnis schwer zu erbringen sein.
Wer muss was wollen können?
Die Herausforderung der kohärenten Unternehmensstraftat verschärft sich auf der subjektiven Tatseite. Das Unternehmen ist nicht durch einen nach Belieben veränderbaren „Unternehmenscharakter“ geprägt, sondern in einem hohen Maße durch seine ökonomische Umwelt determiniert. Und selbst wenn man nicht so weit gehen will wie diejenigen, die Unternehmen mit „moralischen Zombies“ vergleichen, so ist zumindest ein dem Menschen vergleichbares Reflexionsvermögen – also ein abwägendes Einschätzen einer Situation und eine darauf basierende Entscheidung „für das Unrecht“ – höchst fraglich.
Für das hier in Rede stehende Verfahren dürfte diese komplexe Problematik aber ebenfalls nicht relevant werden. Die Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit erfordert nach Auffassung des französischen Kassationshofs kein starkes voluntatives Element. Schon auf Tatbestandsebene sei allein entscheidend, dass ein Beihilfebeitrag geleistet wurde – „materiellement apporter son concours“ – in dem Wissen oder der sicheren Annahme, dass die Haupttäter Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen würden und durch die Beihilfehandlungen in ihren Zielen unterstützt werden. Die subjektive Tatseite der Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist aus Perspektive der französischen Gerichte bislang also in Richtung eines dolus generalis zu interpretieren, der weder die Mitgliedschaft in der profitierenden (terroristischen) Organisation impliziert noch ein voluntatives Vorsatzelement bezüglich der konkreten Verbrechen.
Was der deutsche Diskurs mitnehmen kann
Der Umgang der französischen Justiz mit dem „Fall Lafarge“ könnte einen Wendepunkt bei der Adressierung von Kriegsökonomie markieren. Das Unternehmen „an sich“, das durch seine Anerkennung im Recht, seine Einbindung in den Markt und seine Eingliederung in gesellschaftliche Wirkungszusammenhänge längst als „corporate citizen“ in der gesellschaftlichen Realität angekommen ist, wird hier in einem starken Sinne zur Verantwortung gezogen. Das ist ein – überfälliger – Riss in zementierten Ansichten, den man in Zukunft nicht wird übertünchen können.
Mit einer solchen Weichenstellung gehen aber auch die Risiken einer retrospektiven Bewertungsperspektive einher: sich nämlich mit dem Kriminalstrafrecht allzu sehr auf der „richtigen Seite der Geschichte“ zu wähnen und Unternehmen allzu umstandslos „die Schuld“ daran zu geben, dass sie Profitmaximierungstendenzen auch im Kriegskontext priorisieren. Der Fall Lafarge fordert insofern auch heraus, unseren (eigenen) Anteil mitzudenken und sich zu vergegenwärtigen, dass Unternehmen in einem Wirtschaftssystem operieren, das auf effiziente Gewinnmaximierung ausgerichtet ist und Raum für Waffengeschäfte und Rüstungsexporte lässt – und damit auch grundsätzlich für Profit in engem Zusammenhang mit (andauernden) Kriegszuständen. Das kann man mit guten Gründen kritisch hinterfragen – was derzeit im Kontext des Angriffskrieges auf die Ukraine auch geschieht – sollte es aber gleichzeitig als Ausdruck gesellschaftlicher Präferenzen in Rechnung stellen.
Kriminalstrafrecht darf also nicht zu einem moralisierenden Mittel gesellschaftlicher Verantwortungsverschiebung werden – es kann aber durchaus ein starkes Instrument zur Formulierung der Verantwortungsanteile des Unternehmens für gravierende Rechtsverletzungen sein. Die konkrete Argumentation und Begründungstiefe der französischen Gerichte wird erweisen, ob die Balance auf diesem schmalen Grat gelingt – und allein dies dürfte den deutschen Diskurs bereichern.