17 June 2020

Eine Lehrstunde Verfassungsrecht für das deutsche Staats­angehörigkeits­recht

Man kann es kaum anders sagen: Die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit einem am 17. Juni 2020 veröffentlichten Beschluss vom 20. Mai diesen Jahres (2 BvR 2628/18) dem deutschen Staatsangehörigkeitsrecht eine regelrechte Lehrstunde in Sachen Verfassungsrecht erteilt. Und man kann für das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht nur hoffen, dass es sich diese Lehrstunde zu Herzen nimmt. Denn was  die Kammer mit diesem etwa 20-seitigen Beschluss zu einem staatsangehörigkeitsrechtlichen Wiedergutmachungsanspruch nach Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG dem deutschen Staatsangehörigkeitsrecht ins Stammbuch geschrieben hat, reicht weit über die konkret gefällte Entscheidung hinaus.

I. Der hypothetische Staatsangehörigkeitsausschluss und seine ganz realen Folgen

Der Entscheidung der Kammer lag folgender durchaus nicht untypischer Sachverhalt zu Grunde: Eine 1967 in den Vereinigten Staaten geborene Frau mit US-amerikanischer Staatsangehörigkeit beantragte im Jahre 2013 die Einbürgerung nach Art. 116 Abs. 2 GG. Der hier vornehmlich relevante Satz 1 bestimmt: „Frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist, und ihre Abkömmlinge sind auf Antrag wieder einzubürgern.“ Ihren Anspruch auf Einbürgerung stützte die US-Bürgerin darauf, dass ihrem 1921 geborener Vater von den Nazis mit Veröffentlichung im Deutschen Reichsanzeiger vom 7. Juni 1938 die deutsche Staatsangehörigkeit aufgrund des Gesetzes über den Widerruf von Einbürgerungen und Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit vom 14. Juli 1933 entzogen worden war. Der Vater, der als Jude vor den Nazis in die USA geflohen war, war mit der Mutter, einer US-Staatsangehörigen, nicht verheiratet, hatte die Tochter aber rechtlich als sein Kind anerkannt. 

Wer auf diese Fallkonstellation und Art. 116 Abs. 2 GG einen unbefangenen ersten Blick wirft, wird kaum anders können, als anzunehmen, dass dieser Grundgesetzartikel genau für Fälle wie diese bestimmt war. Anders aber das für solche Fälle zuständige Bundesverwaltungsamt als nachgeordnete Behörde des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat. Und auch das Verwaltungsgericht Köln und das Oberverwaltungsgericht Münster verneinten einen Anspruch auf Einbürgerung. Der Grund hierfür ist auch für Jurist:innen, die mit dem Staatsangehörigkeitsrecht nicht so vertraut sind, durchaus etwas überraschend. Das Staatsangehörigkeitsrecht betrachtet Erwerbs- und Verlustgründe nicht nach dem heute geltenden Recht, sondern aus der Perspektive des Rechts, das zum Zeitpunkt des relevanten Ereignisses gegolten hat. Dieser Ansatz führt allerdings mitunter zu Entscheidungen, die aus heutiger Sicht zu unerträglichen Ungerechtigkeiten führen. Dem deutschen Staatsangehörigkeitsrecht war das bislang aber relativ egal; es zog sich auf seinen Standpunkt formaler „Logik“ zurück. Das Bundesverfassungsgericht hat jetzt aber mit erfreulicher Eindringlichkeit klar gemacht, dass solche Ungerechtigkeiten dem Staatsangehörigkeitsrecht nicht egal sein dürfen und zwar aus Gründen der Verfassung. 

II. Die formale Logik des Hypothetischen verhindert Wiedergutmachung 

Wie kam es nun in dem vorliegenden Fall zum Ausschluss von der deutschen Staatsangehörigkeit? Zum Zeitpunkt der Geburt im Jahre 1967 konnte ein nichtehelicher Vater die deutsche Staatsangehörigkeit seinen Kindern nicht vermitteln. Auch dann nicht, wenn er sie als Kinder anerkannte. Das änderte sich erst 1993. Seitdem kann auch der nichteheliche Vater die deutsche Staatsangehörigkeit vermitteln, wenn er das Kind bis zu dessen 23. Geburtstag anerkennt (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Staatsangehörigkeitsgesetz, StAG). Für Kinder, die vor dem 1. Juli 1993 geboren wurden, wurde als Übergangsregelung ein besonderer Einbürgerungsanspruch geschaffen, der allerdings voraussetzte, dass eine nach deutschem Recht wirksame Anerkennung vor dem 23. Geburtstag erklärt wurde und dass die Betroffenen seit drei Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben (§ 5 StAG).

Von noch traurigerer Berühmtheit sind die Fälle von Kindern deutscher Mütter und ausländischer Väter, die vor 1974 geboren wurden. Denn deutsche Mütter konnten ihren Kindern ihre deutsche Staatsangehörigkeit erst nach einer Gesetzesänderung vermitteln – nachdem das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 37, 217) die bis damals geltende Regelung als Verstoß gegen die Gleichbehandlung von Mann und Frau (Art. 3 Abs. 2 GG) gewertet hatte. Lassen sich in „gewöhnlichen“ Staatsangehörigkeitskonstellationen schon mit wenig Phantasie leicht Fälle denken, in denen eine solche Übergangsregelung nicht greift, so potenziert sich das Problem in den staatsangehörigkeitsrechtlichen Fällen, in denen es um einen Staatsangehörigkeitserwerb aus Gründen der Wiedergutmachung geht. 

Dabei ist völlig klar, dass historische Wiedergutmachung des Nazi-Unrechts immer nur im Irrealis erfolgen kann, also in einem gedanklichen Modus des „was wäre, wenn das alles nicht passiert wäre“. Angesichts der Monstrosität der bis heute nachwirkenden Nazi-Zeit und des damit verbundenen Unrechts muss Wiedergutmachung notwendig an ihrem eigenen Anspruch scheitern (ausführlicher hier). Als verfassungspolitischer Grundsatz muss Wiedergutmachung gleichwohl danach streben, Zustände herzustellen, die sich soweit wie möglich einem Zustand annähern, als wäre das menschenverachtende Nazi-Unrecht (doch) nicht geschehen, und darf daher nicht in formalem Denken verharren. Die gängige Sicht im Staatsangehörigkeitsrecht, allen voran die des Bundesverwaltungsgerichts (z.B. BVerwG, Urteil vom 27.3.1990 – 1 C 5/87), wendet auf die Wiedergutmachungsfälle aber eine formal-hypothetische „Logik“ an. Abkömmling im Sinne des Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG könne nur sein, wer – das Nazi-Unrecht hinweggedacht – die deutsche Staatsangehörigkeit erworben hätte. Durch diesen formalistischen Rost fiel nun die Beschwerdeführerin der vorliegenden Entscheidung, denn selbst wenn ihr Vater nicht von den Nazis ausgebürgert worden wäre, hätte sie die deutsche Staatsangehörigkeit mangels Vorliegen der Voraussetzungen der Einbürgerung nach § 5 StAG nicht erwerben können.

III. Das Bundesverfassungsgericht erinnert daran, woran es bei der Wiedergutmachung im Staatsangehörigkeitsrecht eigentlich gehen muss

Diese hypothetische Logik als Ausdruck eines Bürokratismus der besonders kalten Sorte ist es, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Kammerentscheidung des dann doch nicht (mehr) mitmacht. Dogmatisch dreht sich der Fall um die Frage, ob zu den Abkömmlingen nach Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG alle Personen zählen, die von jemandem abstammen, der aufgrund des Nazi-Unrechts die deutsche Staatsangehörigkeit verloren hat, oder ob sich dies auf die Personen beschränkt, die nach der hypothetischen Logik, also dem irrealen Hinwegdenken der Nazi-Zeit und ihrer Folgen für die Lebensläufe der Überlebenden, die Staatsangehörigkeit tatsächlich erworben hätten. Die Kammer lässt keinen Zweifel daran, dass Verwaltungspraxis und Gerichte hier schon längst hätten erkennen müssen, dass sie sich mit der hypothetischen Staatsangehörigkeitslogik auf dem verfassungsrechtlichen Holzweg befunden haben. Hierbei erteilt die Kammer den Instanzgerichten, aber auch dem Bundesverwaltungsgericht, auf das sich die Instanzgerichte ausführlich berufen haben (vgl. Rn. 34 – 45), wie eingangs erwähnt, eine Lehrstunde in Sachen verfassungskonformer Auslegung. So erinnert die Kammer lehrbuchhaft daran, dass bei unterschiedlichen Auslegungsmöglichkeiten einer Norm, derjenigen der Vorzug zu geben ist, die der Wertentscheidung der Verfassung besser entspricht:

„Handelt es sich – wie hier – um eine Norm der Verfassung selbst, so gebietet der Gedanke der Einheit der Verfassung eine Auslegung, die mit deren übrigen Wertentscheidungen im Einklang steht.“ (Rn.33).

Als weitere Verfassungsnormen, die die Auslegung des Abkömmlingsbegriffs in Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG mitbestimmen, sieht die Kammer in erster Linie Art. 6 Abs. 5 GG, der per Verfassungsauftrag die Ungleichbehandlung nichtehelicher Kinder verbietet, und ebenso das Gleichbehandlungsgebot von Männern und Frauen aus Art. 3 Abs. 2 GG. Dabei lässt die Kammer bei letzterem offen, ob auch hier ein Verstoß vorliegt, da sie schon einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 5 GG angenommen hat. Mit dem gedanklichen Ausgangspunkt des besonderen Diskriminierungsverbots hebt die Kammer dann – anders als das Bundesverwaltungsgericht – hervor, dass der Wortlaut und die systematische Stellung für eine weite Auslegung des Begriffs Abkömmling sprächen. Bei Art. 116 Abs. 1 GG, als der Verfassungsnorm, die die deutsche Staatsangehörigkeit von Flüchtlingen und Vertriebenen „deutscher Volkszugehörigkeit“ betrifft, ist nämlich anerkannt, dass der Begriff des „Abkömmlings“ nicht nach dem ehemals geltenden Staatsangehörigkeitsrecht in Bezug auf den Geburtserwerb eingeschränkt wird: 

„Für die demnach gebotene gleichmäßige Begünstigung ehelicher und nichtehelicher Abkömmlinge in Bezug auf Vater wie Mutter nur in Absatz 1 GG, nicht jedoch in Absatz 2, gibt es keinen durchgreifenden sachlichen Grund.“ (Rn. 51). 

Die Kammer hält es dabei nicht mal für erforderlich, sich mit den gewundenen Versuchen des Bundesverwaltungsgerichts, zwischen unterschiedlichen Bedeutungen der Staatsangehörigkeit für „deutsche Volkszugehörige“ einerseits im Sinne einer Regelung, die „das ungewisse staatsangehörigkeitsrechtliche Schicksal der volksdeutschen Flüchtlinge und Vertriebenen einschließlich ihrer „fremdvölkischen“ Familienangehörigen auffangen“ solle, und andererseits mit dem damit vorgeblich nicht vergleichbaren Regelungszweck von Art. 116 Abs. 2 GG, weiter auseinanderzusetzen (Rn. 42). Stattdessen betont die Kammer mit allem Nachdruck, dass die Handhabung der Einbürgerungen mit Wiedergutmachungsgehalt (so der etwas sperrige staatsangehörigkeitsrechtliche Jargon) geleitet sein müsse von dem Bestreben, das Nazi-Unrecht, auch wenn es nicht wirklich wieder gut zu machen ist, doch zumindest in seinen bis heute andauernden Auswirkungen auch mit den Mitteln des Staatsangehörigkeitsrechts so weit wie irgend möglich zu begrenzen: 

„Der Gesetzeszweck der Wiedergutmachung steht einer einengenden Auslegung des Art. 116 Abs. 2 GG grundsätzlich entgegen (vgl. BVerfGE 8, 81 <86>), was ebenfalls gegen eine Eingrenzung des Abkömmlingsbegriffs und für eine Einbeziehung der nichtehelichen Kinder eines ausgebürgerten Vaters in diesen Begriff spricht. Die Staatsorgane der Bundesrepublik Deutschland können zwar die Tatsachen nicht ungeschehen machen, die durch die Unrechtsmaßnahmen der Nationalsozialisten geschaffen worden sind. Die Ausbürgerung von jüdischen Staatsbürgern im Sinne der nationalsozialistischen Gesetzgebung bleibt ein historisches Geschehen, das als solches nicht nachträglich beseitigt werden kann. Art. 116 Abs. 2 GG will aber das Unrecht, das den ausgebürgerten Verfolgten angetan worden ist, im Rahmen des Möglichen ausgleichen (vgl. BVerfGE 54, 53 <67 f.>).“ (Rn. 52)

IV. Gesetzgeber sollte den Impuls aufgreifen

Direkt gegen die Idee der formal-hypothetischen Logik formuliert die Kammer, dass es so im Grunde zur Fortsetzung von ansonsten als Unrecht erkannten Regelungen mit anderen Mitteln käme: 

„Eine großzügige Prüfung erscheint auch deshalb angezeigt, weil im Rahmen der Prüfung der Wiedereinbürgerung beziehungsweise der Behandlung als nicht ausgebürgert Regelungen des Staatsangehörigkeitsrechts perpetuiert werden können, die zwar nicht aus der Zeit des Nationalsozialismus stammen, gleichwohl aber den Wertentscheidungen des Grundgesetzes zuwiderlaufen.“ (Rn. 52)

Das Bundesverfassungsgericht stellt hiermit die Wiedergutmachung im Staatsangehörigkeitsrecht vom Kopf auf die Füße. Das Augenmerk ist nicht auf längst überkommene staatsangehörigkeitsrechtliche Regelungen zu legen, sondern auf das Unrecht, das den Opfern der Nazi-Zeit und ihren Nachfahren angetan wurde. 

Im Zuge der Diskussion um die Auswirkungen des Brexit hatte das Thema der Einbürgerungsansprüche mit Wiedergutmachungsgehalt und ihrer restriktiven Handhabung in der Praxis, die nicht nur die Fälle nichtehelicher Kinder betreffen, die Politik erreicht. Das Bundesinnenministerium reagierte mit Erlassen, die für einige Konstellationen erleichterte Einbürgerungen im Ermessenswege (§ 14 StAG) vorsehen. Von Teilen der Opposition (FDP, Linke und Grüne) im Bundestag und aus den Ländern kamen dagegen Vorstöße für eine gesetzliche Regelung von erweiterten Rechtsansprüchen. Gerade angesichts der dem Staatsangehörigkeitsrecht eigenen Beharrungskräfte (hierzu die teilweise beschämende Darstellung von Nicolas Courtman) sollte nicht darauf vertraut werden, dass die Kammerentscheidung, gerade auch in ihrem grundsätzlichen Potenzial im Hinblick auf die Wiedergutmachungslogik des Art. 116 Abs. 2 GG, von der Rechtsanwendung von alleine umgesetzt wird. Wiedergutmachung, das hat diese Entscheidung der 2. Kammer nochmal deutlich vor Augen geführt, braucht rechtssichere Zugänge zur deutschen Staatsangehörigkeit. Hier auf eine großzügige Handhabung von Ermessensnormen zu hoffen, wäre nach allen Erfahrungen wenig ratsam. Zweifel in der Rechtsanwendung sollten durch den Gesetzgeber selbst geregelt werden. Sonst ist zu befürchten, dass zu viele Zweifelsfälle auf der Strecke bleiben.