Eine nationale Friedens- und Sicherheitsstrategie nach der “Zeitenwende”
Militärische oder menschliche Sicherheit?
Außenministerin Annalena Baerbock hat am 18. März 2022 den Prozess zur Entwicklung einer nationalen Sicherheitsstrategie eröffnet. In ihrer Rede mit dem Titel „Die Sicherheit der Freiheit unseres Lebens“ verweist sie dabei immer wieder auf Begriffe wie menschliche Sicherheit bzw. den sog. erweiterten Sicherheitsbegriff. Gleichzeitig gibt es mit der von Bundeskanzler Scholz bezeichneten „Zeitenwende” eine Tendenz hin zu einer militarisierten Sicherheitspolitik. Passen diese Entwicklungen zusammen und was sind die richtigen Antworten auf die sicherheitspolitischen Fragen dieses Jahrhunderts? Hierzu gehören neben militärischen Konflikten und Kriegen auch die Klimakrise und Pandemien. Nicht zuletzt hat die Außenministerin mehrfach betont, dass „jedes Zehntelgrad weniger an Erderwärmung ein Beitrag zur menschlichen Sicherheit [ist]“. Ein Blick auf die Entwicklungen der letzten Jahre zeigt, dass eine rein militärische Antwort ohne Gesamtkonzept jedenfalls nicht die richtige Antwort sein kann. Ich argumentiere in diesem Beitrag, dass ein militärisches Aufrüsten nicht erst seit der sogenannten „Zeitenwende“ betrieben wird und die Fehler der letzten Regierung damit kaschiert werden. Letztendlich kann eine besser ausgestattete Bundeswehr nicht allein zu einem nachhaltigen Frieden führen. Der von der Außenministerin aufgegriffene Begriff der menschlichen Sicherheit und eine nationale Sicherheitsstrategie dürfen nicht auf einem rein militarisierten Sicherheitsbegriff basieren. Die Bundesregierung sollte ihr Handeln entsprechend ausrichten.
Die Rede zur „Zeitenwende“ – Militarisierung als eurozentristische Impulsreaktion?
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat in seiner Rede vor dem Bundestag am 27. Februar 2022 davon gesprochen, dass wir eine „Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents” erleben. Erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges könnten wir uns in Europa nicht mehr auf die Einhaltung grundlegender Regeln des Völkerrechts verlassen. Als Antwort auf diese Zeitenwende – eingeläutet durch Russlands Aggression – müsse deutlich mehr in die Sicherheit unseres Landes investiert werden, um auf diese Weise unsere Freiheit, unsere Demokratie und unseren Wohlstand zu schützen. Laut Scholz müsse der Maßstab dabei sein, dass Deutschland alles in seiner Macht Stehende tun muss, was für die Sicherung Europas gebraucht wird. Dafür benötige die Bundeswehr neue, leistungsstarke Fähigkeiten.
Die erste Reaktion der Bundesregierung auf den Angriffskrieg Russlands ist außenpolitisch nachvollziehbar. Mit ihrer Aufrüstungsreaktion folgt Bundeskanzler Scholz der vermeintlich berechtigten Logik, dass militärische Abschreckung für eine verbesserte Verteidigungsfähigkeit stehe. Es fehlen derzeit noch der Wirtschaftsplan und somit die Details zum geplanten Aufrüstungsprogramm. Es ist jedoch bereits sicher, dass gemäß Gesetzentwurf ein Sondervermögen Bundeswehr von 100 Milliarden Euro geschaffen werden soll. Hiervon soll unter anderem das Tarnkappen-Kampfflugzeug F-35 des US-Herstellers Lockheed Martin gekauft werden, ein als Atomwaffenträgersystem zertifiziertes Flugzeug. Laut Gesetzentwurf sind die Mittel des Sondervermögens an den Zweck der Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit gebunden.
Der europäische „Strategische Kompass“
Parallel zur deutschen „Zeitenwende“ wurde auf europäischer Ebene Ende März der sog. „Strategische Kompass“ veröffentlicht, der die „Globale Strategie“ von 2016 ablösen soll. Obwohl das Papier das Konzept „menschliche Sicherheit” als leitendes Konzept anerkennt, ist die Ausrichtung stark militärisch konzipiert, auch im Zusammenhang mit Klimaschutz und Energiesicherheit. Dies zeigen die folgenden Beispiele:
- Der Strategische Kompass sieht vor, das 2007 geschaffene EU-Battlegroup-Konzept mit 1500 Soldat:innen zu einer EU-Einsatztruppe mit bis zu 5000 Soldat:innen aufzustocken.
- Die Europäische Friedensfazilität (EPF) soll gestärkt werden, also ein Mechanismus der Maßnahmen im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) finanziert, die aufgrund ihrer verteidigungspolitischen Bezüge nicht aus dem EU-Haushalt bezahlt werden dürfen. Die Friedensfazilität unterstützt unter anderem Operationen mit militärischen Implikationen und Armeen der EU-Partnerländer.
- Weiter spielt der Klimawandel auch in sicherheitspolitischen Diskursen eine wichtige Rolle. Im Rahmen des strategischen Kompasses fehlt es jedoch an konkreten Handlungsvorschlägen, wie Konfliktprävention in Zeiten von Klimakrisen aussehen muss. Die vorgeschlagenen Maßnahmen für Energieeinsparung und Emissionsreduzierung der eigenen Missionen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) sowie der Unterstützung bei Katastropheneinsätzen und humanitärer Hilfe nach Klimakatastrophen können die globalen Herausforderungen nicht lösen.
- Des Weiteren wurde das Pilotprojekt des Konzepts der koordinierten Maritimen Präsenz (CMP) im Golf von Guinea, das der EU-Rat im Januar 2021 ins Leben gerufen hat,1) verlängert. Es handelt sich hierbei nicht um eine strukturierte EU-Militärmission, sondern um eine Koordinierung der militärischen Einsätze der Mitgliedstaaten im Golf von Guinea – einem der gefährlichsten Gebiete der Welt für Piratenangriffe, aber auch einem „Hotspot des Klimawandels und der Unsicherheit“, wie ein neuer Bericht des Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) hervorhebt. Im Jahr 2021 erinnerte der Europäische Auswärtige Dienst daran, dass der Golf von Guinea „eine wichtige Schifffahrtszone ist, durch die Öl und Gas transportiert“ wird.
- Nicht zuletzt führt der „Strategische Kompass“ die Zusammenarbeit mit der Nato vor der Partnerschaft mit den UN oder der OSZE auf.
All dies sind vor allem verteidigungspolitische Maßnahmen und sie führen zu einer verstärkt militärischen europäischen Sicherheitspolitik.
Deutsche Wehrfähigkeit
Es gibt also eine starke Tendenz, auf nationaler und europäischer Ebene den Fokus stärker auf militärische Sicherheit und Stärke zu legen – während dies durch das Verwenden von Begrifflichkeiten wie „Friedensfazilität” verschleiert wird. Ist dies zum einen neu und zum anderen tatsächlich die angemessene Reaktion auf die von Olaf Scholz beschriebene sogenannte Zeitenwende? Das mag bezweifelt werden, denn die Fokussierung auf mehr verteidigungspolitische Initiativen auf europäischer Ebene und eine gut ausgestattete Bundeswehr wird mitnichten allein den Frieden in Europa sichern – geschweige denn unsere Demokratie und unsere Freiheit in Europa. Eine Investition allein in die „Wehrfähigkeit“ oder Bündnisfähigkeit ist weder eine angemessene Antwort auf das Verhalten der letzten Bundesregierung von CDU und SPD in außen-, sicherheits- und friedenspolitischen Fragen noch eine Antwort auf die Kritik an der fehlenden strategischen Außenpolitik der letzten Bundesregierung oder der militärischen Zurückhaltung. Es gab schlicht keine klare Grundkonzeption für die Bundeswehr. Nachdem die Bundeswehr seit den 1990er Jahren zu einer Armee für Auslandseinsätze, wie in Afghanistan oder in Mali, umgebaut worden war, soll sie seit der russischen Annexion der Krim 2014 auch wieder zur Landes- und Bündnisverteidigung herangezogen werden. Dass für Letzteres nun Material fehlt, liegt auch daran, dass die vorherigen Bundesregierungen andere Prioritäten gesetzt haben und nicht an der Tatsache, dass an der Bundeswehr gespart wurde.
Dazu kommt: Das Beschaffungswesen der Bundeswehr ist dysfunktional – in manchen Jahren wurde das Geld nicht einmal ausgegeben, das der Bundestag bewilligt hatte. Die Sicherung von Freiheit, Demokratie und Wohlstand soll nun laut Bundeskanzler Olaf Scholz durch 100 Milliarden Euro und die Anschaffung von Atomwaffenträgersystemen und von Kampfdrohnen verteidigt werden. All dies geschieht bisher jedoch, ohne zuvor die versprochene nationale Sicherheitsstrategie vorzulegen und insofern ohne eine ausreichende Analyse dessen, was wirklich benötigt wird, um den Autokraten dieses Jahrhunderts entgegen zu treten. Laut einer aktuellen Studie des Bonn International Center for Conflict Studies (BICC) gaben die europäischen Nato-Staaten (ohne die USA und Kanada 2020) beinahe fünfmal so viel für Verteidigung aus wie Russland. Die geplanten 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr wären in dem Umfang also aktuell eine Ressourcenverschwendung.
Die Bundeswehr braucht nicht noch mehr Geld
Massive Aufrüstungsanstrengungen sind nicht neu. Die Bundeswehr verfügt bereits heute, vor der „Zeitenwende“, über den siebtgrößten Militäretat weltweit. In den vergangen sieben Jahren wurde der Etat der Bundeswehr um rund 50 Prozent von 32 Milliarden Euro (2014) auf 47 Milliarden Euro (2021) erhöht. Dass Deutschland eine militärisch fokussierte Außen- und Sicherheitspolitik verfolgt hat, zeigt sich auch in der bisherigen Rüstungsexportpolitik. Die Regierungen haben durch ihre Rüstungsexportpolitik der letzten 30 Jahre dazu beigetragen, Länder zu destabilisieren. Deutschland genehmigte den Export von Kriegswaffen und Rüstungsgütern in Kriegs- und Krisenländer, in Staaten mit Menschenrechtsverletzungen und in Spannungsregionen. Es wurden Joint Ventures gegründet, um konflikt- und spannungsträchtige Länder und Regionen mit deutscher Rüstungstechnologie zu versorgen. Gerade dort tragen auch deutsche Rüstungsexporte dazu bei, die Rüstungsdynamik anzukurbeln und erhöhen so das Risiko, dass vorhandene Konflikte eskalieren und gewaltsam ausgetragen werden. Im September 2014 ging beispielsweise die Polizei in Mexiko mit G-36-Sturmgewehren aus deutschen Lieferungen gewaltsam gegen Studierendenproteste vor und erschoss dabei zahlreiche Studierende. Nach SIPRI-Angaben war Deutschland zwischen 2006 und 2019 noch vor den USA und Russland der wichtigste Lieferant von Rüstungsgütern nach Brasilien (alle Angaben nachzulesen in der Studie von Greenpeace und der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung: Deutsche Rüstungsexporte in alle Welt, 2019, siehe hier). Eine militarisierte Sicherheitspolitik und die stetige Aufrüstung wird militärische Ungleichgewichte verstärken und eine konfliktverschärfende Wirkung auf regionaler oder globaler Ebene haben (siehe ähnlich Leitlinien der Bundesregierung: Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern, 2017, S. 88; Weißbuch, 2016, S. 40).
Gibt es Grund zur Hoffnung auf eine neue Sicherheitspolitik?
Die Ampelkoalition darf die Chance nicht verpassen, die Außen- und Sicherheitspolitik neu auszurichten. Im Koalitionsvertrag gab es dafür konkrete Anhaltspunkte: Danach sollen drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung, Internationales und Entwicklungszusammenarbeit aufgewendet werden. In diesem Drei-Prozent-Block sollen auch Mittel für die „internationale Klimafinanzierung” bereitgestellt werden. Über die neue genaue Verteilung der Gelder wie auch über das Tempo der Aufstockung der Haushaltsmittel gab es wohl bislang noch keine Einigung. Doch die Regierung Scholz könnte hier ganz konkret Akzente setzen. Wenn nämlich dieser Drei-Prozent-Block zu einer Reduktion des Verteidigungshaushalts auf ein Prozent und zur Erhöhung der Ausgaben für Klima, Entwicklungszusammenarbeit und Diplomatie geführt hätte, dann hätte dies auf eine Umsetzung des Konzepts der menschlichen Sicherheit hoffen lassen – ein Konzept, das sich nicht nur in unterschiedlichen Strategiepapieren der letzten Bundesregierungen wiederfindet, sondern auch zuletzt von Außenministerin Annalena Baerbock in ihrer Auftaktrede zur nationalen Sicherheitsstrategie aufgegriffen wurde (Leitlinien der Bundesregierung: Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern, 2017, S. 83; Weißbuch 2016, S. 62). In Zeiten von Klimakrise und Pandemie muss das Konzept der menschlichen Sicherheit allen Maßnahmen der Regierung zugrunde gelegt werden.
Sicherheit von Menschen für Menschen denken und umsetzen
Dieses Konzept der menschlichen Sicherheit kann dem oben erwähnten militärischen Ungleichgewicht entgegenwirken und als Reaktion auf die vielfältigen Formen von Unsicherheit konzipiert werden (siehe UN GA Resolution 66/290). Die Idee ist, dass Bereiche wie Menschenrechte, Friedenssicherung, menschliche Entwicklung und Konfliktprävention zusammengedacht werden. Dies bedeutet, dass sich Regierungen mit den grundlegenden Ursachen von Gefährdungen beschäftigen müssen und lenkt die Aufmerksamkeit auf neu auftretende Risiken wie Klimawandel, Armut und Diskriminierung. Der Schwerpunkt liegt dabei auf präventiven Maßnahmen. Um Frieden zu sichern, müssen die Bedürfnisse der Menschen und nicht des Staates in den Vordergrund gestellt werden. Dazu gehört auch eine intakte Umwelt. Eine nachhaltige Sicherheitspolitik mit dem Fokus auf menschlicher Sicherheit muss also in erster Linie die Befähigung der Zivilbevölkerung, die Stärkung rechtsstaatlicher Strukturen, Maßnahmen gegen die Klimakrise und gegen weltweite Pandemien sowie diplomatische Kooperationen im Fokus haben.
Im Koalitionsvertrag ist nicht viel von Friedenssicherung zu lesen; die Koalition aus SPD, Grünen und FDP verspricht lediglich eine nationale Sicherheitsstrategie. Außenministerin Annalena Baerbock als Ministerin des federführenden Ressorts hat in ihrer Rede zum Auftakt des Prozesses zur Entwicklung dieser nationalen Sicherheitsstrategie viel versprochen. Die Außenministerin bekennt sich zum Sondervermögen und zur Wehrfähigkeit der Bundeswehr. Sie verabschiedet sich nicht von der nuklearen Abschreckung und unterstützt die Stärkung der europäischen Verteidigungsindustrie. Aber sie erkennt an, dass die Umsetzung dieser Entscheidungen eng mit der Frage zusammenhängt, wie wir Sicherheit für die Zukunft denken müssen. Die Sicherung der Lebensgrundlagen sei wichtig und es könne keine Sicherheit geben, wenn Folgen von Klimawandel, Armut, Hunger und fehlender Wohlstand Leid verursachten. Sie stellt damit wichtige Zusammenhänge mit dem Konzept der menschlichen Sicherheit her. Konkrete Umsetzungsvorschläge bleiben aber aus. Weiter sei die Klimakrise die sicherheitspolitische Frage unserer Zeit und eine Investition weg von fossilen Brennstoffen hin zu erneuerbaren und effizienten Energien. Es dürfe keine Abhängigkeit in Wirtschafts- und Energiebeziehungen insbesondere mit autokratischen Staaten geben.
Die Rede der Außenministerin enthält viele wichtige Anhaltspunkte und muss dennoch im Kontext der aktuellen Handlungen der Bundesregierung gesehen werden. Um wessen Sicherheit geht es hier eigentlich und wenn ein wichtiger nächster Schritt darin bestünde, klimaschädliche Geschäfte mit autokratischen Regimen zu beenden, dann stellt sich die Frage, warum Wirtschaftsminister Habeck langfristige Beziehungen mit Katar anstrebt. Dann stellt sich die Frage, warum die Bundesregierung ein Sondervermögen für die Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro beschließt, wenn es laut Außenministerin für die Sicherheit unserer aller ein breites Engagement braucht und außen- und sicherheitspolitische Instrumente im Lichte unserer Zeit angepasst werden müssen. Es gibt bisher keine genaue Analyse dessen, was benötigt wird, um die Bundeswehr handlungsfähig zu machen oder wie die Lebensgrundlagen von Menschen, die insbesondere außerhalb von Europa von der Klimakrise betroffen sind, verbessert werden können – einer Klimakrise, die auch durch Deutschland mit verursacht wurde. Hierfür muss Deutschland mit konkreten Maßnahmen Verantwortung übernehmen. Diese Maßnahmen müssen in einer nationalen Sicherheitsstrategie auch konkret benannt werden und es darf nicht bei vagen Absichtserklärungen bleiben. Eine nachhaltige nationale Sicherheitsstrategie, die die wirklichen globalen Herausforderungen mit den nationalen Belangen verknüpft, umfasst Klimaschutz- und Friedensaspekte und sollte auch als solche bezeichnet und gleichwertig finanziell ausgestattet werden.
Warum nur eine breite Einbeziehung der Zivilgesellschaft für nachhaltige Sicherheit in Europa sorgt
Wir leben in einem Jahrhundert, in dem Friedenspolitik zusammengedacht werden muss mit Klimaschutz, Ressourcenschutz, sozialer und globaler Gerechtigkeit sowie Sicherheit in- und außerhalb Europas. Wenn also Ministerin Baerbock von der Sicherheit für uns spricht, dann sollte der erste Schritt sein, die Zivilgesellschaft bei der Entwicklung und Umsetzung der nationalen Sicherheitsstrategie dauerhaft einzubinden. Wenn also Ministerin Baerbock von der Sicherheit für uns spricht, dann darf die Sicherheit außerhalb Europas nicht außer Acht gelassen werden. Es braucht Akteur:innen, die den Zusammenhang zwischen der Sicherheit der Menschen außerhalb von Europa und einer nationalen Friedens- und Sicherheitsstrategie verstehen. Und davon gibt es einige in Deutschland und Europa. Denn wo wären wir heute ohne das PeaceLab, ohne das Bündnis 1325, ohne die Plattform zivile Krisenprävention oder weitere kritische Think Tanks? Gäbe es dann die Leitlinien zivile Krisenprävention, einen Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung von UN-Resolution 1325, ein Lieferkettengesetz oder eine Verurteilung von hochrangigen syrischen Kriegsverbrechern in Deutschland? Nicht zuletzt durch den Druck der Zivilgesellschaft gibt es nun einen Prozess zu einem Rüstungsexportkontrollgesetz. Und hätte die Regierung auf Stimmen in der Zivilgesellschaft gehört, dann hätte es Nordstream 2 nach der Annexion der Krim wohl nicht gegeben; Deutschland hätte sich schon früher vom russischen Gas unabhängig gemacht.
Die Zivilgesellschaft in Deutschland hat einiges erreicht. Es liegt aber nun auch an der neuen Bundesregierung, diesen Stimmen eine Plattform zu geben und sie aktiv einzubeziehen. Zum Beispiel durch die Bildung eines Friedens- und Sicherheitsrats, der nicht nur militärische Expertise, sondern auch eine zivilgesellschaftliche Expertise einbringt. Ein solches Gremium könnte ein Rüstungsexportgesetz mit einem Verbandsklagerecht formulieren, einen schnellstmöglichen Importstopp für fossile Energien aus Konfliktregionen vorschlagen und bei der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit Aspekte sozialer Entwicklung in den Vordergrund stellen – und nicht allein auf die Förderung von Investitionen setzen. Es braucht konkrete Handlungsempfehlungen, wie deutsche Sicherheitspolitik im Sinne menschlicher Sicherheit aussehen kann. Diese müssen im Rahmen der nationalen Sicherheitsstrategie gemeinsam mit der Zivilgesellschaft entwickelt werden.
Wir werden damit den Angriffskrieg von Russland nicht mehr ungeschehen machen können. Aber wir können so die eindimensional militärisch gedachte Antwort auf die Sicherheitsfrage unter anderem durch klima-, energie- und menschenrechtspolitische Aspekte komplettieren. Damit es nicht erst zum nächsten Krieg kommt.
References
↑1 | Zweck des Mechanismus der koordinierten maritimen Präsenzen ist es, die Kapazitäten der EU als verlässlicher Partner und Bereitsteller maritimer Sicherheit zu verbessern, ein verstärktes operatives Engagement Europas zu ermöglichen, eine ständige maritime Präsenz und Reichweite in denen vom Rat festgelegten Meeresgebieten von Interesse zu gewährleisten sowie die internationale Zusammenarbeit und Partnerschaft auf See zu fördern. |
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Deutschland mag den siebthöchsten Verteidigungshaushalt haben. Es hat aber auch das vierthöchste Bruttoinlandsprodukt. Und das BMVg hatte 2021 einen Haushalt über 47,0 Mrd. Euro (das BMAS über 164,9 Mrd. Euro). Von der 47,0 Mrd. Euro entfallen 8,0 Mrd. Euro auf militärische Beschaffungen (und 6,1 Mrd. Euro auf Versorgungsausgaben: sprich Pensionszahlungen).
„Mit ihrer Aufrüstungsreaktion folgt Bundeskanzler Scholz der vermeintlich berechtigten Logik, dass militärische Abschreckung für eine verbesserte Verteidigungsfähigkeit stehe.“
Ich hatte die Logik umgekehrt verstanden: dass eine verbesserte Verteidigungsfähigkeit für militärische Abschreckung steht.
Eine verbesserte Verteidigungsfähigkeit mag keine hinreichende Voraussetzung für Frieden sein. In Zeiten von Kriegen in Europa (Ukraine, Georgien) ist sie aber eine notwendige Voraussetzung. Und wie diese notwendige Voraussetzung mit einem verringerten Verteidigungshaushalt („ zu einer Reduktion des Verteidigungshaushalts auf ein Prozent …“.) erreicht werden soll, ist mir nicht klar. Durch mehr Klimaschutz, Ressourcenschutz, soziale und globale Gerechtigkeit., aber mit weniger Waffen, Frieden schaffen zu wollen, erscheint mir in Zeiten von Putins Präsidentschaft in Russland jedenfalls nicht überzeugend.