Eine Obergrenze für den Bundestag: Wie die dringend nötige Reform des deutschen Wahlrechts gelingen könnte
Wenig überraschend haben sich die im Jahr 2013 durchgeführten Änderungen des Bundestagswahlrechts als klassischer Fall einer „Einigung zu Lasten Dritter“ erwiesen. Die Änderungen waren notwendig geworden, nachdem das Bundesverfassungsgericht zunächst 2008 das bis dato geltende und dann erneut 2012 das 2011 aufgrund der ersten Gerichtsentscheidung geänderte Wahlrecht für verfassungswidrig erklärt hatte. Beide Urteile wandten sich gegen das sogenannte „negative Stimmgewicht“, das heißt im Wesentlichen den Effekt, dass zusätzliche Stimmen für eine Partei oder Listenverbindung zu einem Verlust von Mandaten führen können. Laut Bundesverfassungsgericht verstößt dies gegen die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl (Art. 38, Abs. 1 Grundgesetz). Kurz vor der Bundestagswahl 2013 hatten die Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen daher in aller Eile neuerliche Änderungen am Bundestagswahlrecht vorgenommen, die nunmehr die Möglichkeit eines negativen Stimmgewichts vollständig ausschlossen – allerdings mittels eines hoch komplexen Verrechnungsmechanismus, der bei bestimmten Wahlergebniskonstellationen auf Kosten der Größe des Bundestages geht.
Wie von vielen Politikwissenschaftlern vorhergesagt, führte dieser Versuch, die traditionelle Kombination von Direktmandat und Verhältniswahl mit Ausgleichskomponenten für Überhangmandate und die Mandatsverteilung auf die 16 Bundesländer zu verbinden, angesichts der historisch niedrigen Ergebnisse der drei größten Parteien bei der Bundestagswahl vom 24. September dieses Jahres zu einer extremen Aufblähung des Parlaments. Durch 46 Überhangmandate für CDU, CSU und SPD, die 290 der 299 Direktmandate gewannen, und die daraufhin notwendigen 65 Ausgleichsmandate vergrößerte sich der neue Bundestag von 598 auf 709 Abgeordnete. Damit ist das Parlament zur zweitgrößten nationalstaatlichen Volksvertretung der Welt nach dem Chinesischen Nationalen Volkskongress (2.987 Mitglieder) geworden, obwohl Deutschland nach seiner Einwohnerzahl nur auf Platz 16 rangiert. Dies ist nicht nur mit steigenden Kosten verbunden, sondern vor allem auch mit erhöhten Kommunikations- und Koordinationsproblemen in der parlamentarischen Arbeit.
Der 2013 gefundene Kompromiss war von der Maßgabe geprägt gewesen, die offensichtlich notwendigen Änderungen an der Grundstruktur des hergebrachten Wahlrechts keinesfalls vornehmen zu wollen. Dies zeigt, dass parlamentarische Entscheidungen über das Wahlrecht an einem „Neutralitätsdefizit“ leiden. Wahlrechtsfragen sind bekanntlich Machtfragen. Wird über sie im Parlament entschieden, so wird dies zwangsläufig von Annahmen der Parteien über zukünftige Vor- oder Nachteile beeinflusst – wer wollte es ihnen auch verdenken? Dass der neue Bundestag aus eigener Kraft einen Ausweg aus diesem Dilemma finden wird, ist daher zu bezweifeln.
Will man angesichts dieser Lage den Kopf nicht in den Sand stecken, bedarf es einer überzeugenden Verfahrensalternative. Hierfür könnte sich die Bundespolitik die kanadische Provinz British Columbia zum Vorbild nehmen – und dabei auch von den dort gemachten Fehlern lernen. Seit den 1980er Jahren wurde in British Columbia Kritik an dem bestehenden Mehrheitswahlrecht geübt und von verschiedenen Seiten der Wunsch geäußert, es durch ein Verhältniswahlrecht zu ersetzen. Die regierende Neue Demokratische Partei war gegen diese Änderung. Sie wurde jedoch 2001 von der Liberalen Partei abgelöst, die ihren Wahlkampf erfolgreich mit der Ankündigung einer Wahlrechtsreform geführt hatte. Anstatt aber einfach einen eigenen Vorschlag gegen die Demokraten durch das Parlament zu bringen, entschlossen sich die Liberalen für ein anderes Vorgehen. Sie übertrugen das Vorschlagsrecht für die Wahlrechtsneuerung einer gelosten „Bürgerversammlung“. Diese Versammlung setzte sich aus 160 Bürgerinnen und Bürgern zusammen, die aus der gesamten Provinz ausgelost worden waren. Die Bürgerversammlung traf sich an mehreren Wochenenden, lud Experten zur Beratung ein, führte öffentliche Anhörungen durch und diskutierte zahlreiche nach einem öffentlichen Aufruf eingegangene Einzelvorschläge. Nach einem knappen Jahr schlug sie schließlich mit großer Mehrheit ein „System der übertragbaren Einzelstimmgebung“ vor, bei dem die Wähler die Kandidaten in eine eigene Präferenzreihenfolge bringen können.
Diesen Vorschlag unterbreitete die Regierung dann einer Volksabstimmung. Hierfür hatte sie eigens die zu überwindenden Hürden erhöht. Mit dem Argument, dass ein neues Wahlrecht von einer zahlenmäßig und regional breiten Mehrheit getragen werden müsse, wurde für eine Annahme eine doppelte Dreifünftelmehrheit erforderlich gemacht: Mindestens 60 Prozent aller Abstimmenden sowie absolute Mehrheiten in mindestens 60 Prozent aller Distrikte mussten dem Vorschlag zustimmen. An der ersten Hürde scheiterte jedoch das Referendum im Mai 2005 mit 57,7 Prozent der Stimmen. Ein zweiter Versuch vier Jahre später wurde mit nur 39,1 Prozent Zustimmung dann sogar deutlich zurückgewiesen. Für die Befürworter des neuen Wahlsystems kam dieses Scheitern jedoch wenig überraschend, hatten bei beiden Referenden durchgeführte Umfragen doch eine hohe Zahl unentschlossener bzw. sich schlecht informiert fühlende Bürger gezeigt.
Für die dringend notwendige Reform des Bundestagswahlrechts lassen sich daraus zwei konstruktive Lehren ziehen. Erstens ist es angesichts seiner politischen Umstrittenheit lohnenswert, das Wahlrecht dem Parteienstreit zu entziehen und in eine ausgeloste Bürgerversammlung auszulagern. Durch ein solch unabhängiges, parteipolitisch neutrales, von „normalen“ Bürgern getragenes und von Fachleuten beratenes Gremium kann sichergestellt werden, dass Erwägungen über eigene (Wieder-)Wahlchancen keine Rolle spielen. Zweitens ist auch für Deutschland bekannt, dass sich „Otto Normalbürger“ in ihrem Alltag kaum mit Wahlrechtsfragen beschäftigen. Eine Volksabstimmung, die auf Bundesebene verfassungsrechtlich derzeit ohnehin nicht möglich wäre, wäre für Entscheidungen dieser Art daher denkbar ungeeignet.
Mit diesen Erkenntnissen könnte der neue deutsche Bundestag die Wahlrechtskrise lösen. Ohne sich über inhaltliche Fragen streiten zu müssen, sollten sich die Bundestagsfraktionen darauf einigen, eine ausgeloste Bürgerversammlung mit der Überarbeitung des Bundestagswahlrechts zu betrauen und sich dazu verpflichten, deren Beschlussempfehlung anschließend ohne Änderungen zu übernehmen. Aus verfassungsrechtlichen Gründen hätte eine solche Selbstverpflichtung zwar keine formale Bindungswirkung, aber der öffentliche Druck sollte genügen, um eine breite Mehrheit im Parlament zu sichern. Ein solcher Weg entspräche zudem einer kreativen Deutung von Art. 20 Abs. 2 des Grundgesetzes, wonach das Volk die Staatsgewalt nicht nur „in Wahlen und Abstimmungen“, sondern auch „durch besondere Organe“ ausüben kann. Nicht zuletzt könnte die geloste Bürgerkammer dazu beitragen, Vertrauen in die parlamentarische Demokratie zurückzugewinnen.
Aber wenn sich die Parteien (1.) schon auf ein neues Wahlrecht geeinigt haben und (2.) keine Fraktion im Bundestag ein Interesse an weniger Mandaten hat und Sie (3.) sowieso nichts von Politikern erwarten, als selbstinteressierten Machterhalt: Warum sollte der Bundestag ein solches Verfahren anstoßen?
Wenn Ihr Pessimismus bei der Diagnose richtig ist, woher kommt der Optimismus bei der Lösung? Wenn politischer (oder verfassungsgerichtlicher) Handlungsdruck auf zerstrittenen politischen Lagern läge, wäre als Kompromiss die Delegation an ein ergebnisoffenes (!) Verfahren möglicherweise ein Ausweg. Aber hier fehlen der Druck und der Streit. Und wenn sich ersterer aus der vermeintlichen “Aufblähung” des Parlaments politisch entwickeln sollte, fehlte stattdessen die Ergebnisoffenheit Ihres Verfahrensvorschlags, stünde doch fest, dass das Ergebnis einer etwaigen Reform weniger Sitze wären. Dass sich der Bundestag aber gerade darauf nicht einigen können wird, war ja Ihr Ausgangspunkt.
Vielen Dank für Ihren Kommentar. Die Skepsis in unserer Diagnose bezieht sich jedoch nicht darauf, dass die Parteien sich einer wirkungsvollen Begrenzung auf die eigentlich vorgesehenen 598 Mandate widersetzten, sondern dass sie sich gegen jegliche Änderungen des Wahlsystems wehren. Das Dilemma besteht darin, dass mit dem aktuellen “System der personalisierten Verhältniswahl” das negative Stimmgewicht durch eine (wahlergebnissabhängige) Aufblähung des Bundestages erkauft wird, während eine effektive Begrenzung auf 598 Mandate nur durch eine Änderung des Wahlsystems erreichbar wäre. Hiergegen sträuben sich die Parteien, da bei jeder Änderung Prognosen über allfällige Vor- und Nachteile auf das eigene Ergebnis angestellt werden; und da bei allen Varianten irgendwer benachteiligt wird (oder benachteiligt zu werden glaubt), bleibt es am Ende beim Status Quo.
Unsere Hoffnung ist, dass nun zum einen der öffentliche Druck und zum anderen die spürbaren Nachteile des übergroßen Parlamentsbetriebs eine ausreichende Motivation zu einer Reform darstellen. Unser Vorschlag einer gelosten Bürgerversammlung könnte dabei die Parteien von ihrem Streit um Vor- und Nachteile entlasten.
Ich verstehe. Vielen Dank für Ihre Antwort. Dann wäre also nicht das Eigeninteresse der 709 einzelnen Abgeordneten am Erhalt ihres Mandats (das könnte es aber auch geben, oder?), sondern das Interesse der politischen Parteien an einem möglichst großen Anteil der Mandate das Problem. Aber haben da nicht auch die gelosten Bürger jeweils Interessen? Ich würde jedenfalls gerne eines der politischen Lager in der Mehrheit sehen, ohne Berufspolitiker zu sein. Und sind nicht umgekehrt die Bürger, die kein solches Interesse haben, alle unpolitisch oder gar politikverdrossen und bringen daher andere, durchaus auch problematische biases mit?
Aus der Forschung über Bürgerversammlungen und ähnliche geloste Gremien weiß man, dass diese rasch eine sachorientierte Eigendynamik entwickeln, in der eigene Interessen keine große Rolle mehr spielen, sondern vielmehr in den Mittelpunkt rückt, welche Interessen legitimerweise zu vertreten sind und welche nicht. Mit Blick auf eine Wahlrechtsreform in Deutschland wären dies also bspw.:
(1) Haben die kleineren Parteien ein legitimes Interesse der Vertretung im Parlament? Die Antwort wäre m.E. mit hoher Sicherheit ein “Ja”, so dass eine Bürgerversammlung wohl kaum ein reines Mehrheitswahlrecht empfehlen würde.
(2) Haben nur regional starke Parteien ein legitimes Interesse der Vertretung im Parlament? Vor dem Hintergrund des traditionellen deutschen Föderalismus wäre wohl auch hier die Antwort ein “Ja”, mit der Folge, dass man etwa bei Einführung eines reinen Verhältniswahlrechts mit 5%-Klausel entsprechende Regelungen finden müsste, die die bisher geltende Grundmandatsklausel ersetzen (wonach auch Parteien unter bundesweit 5% in den Bundestag einziehen, die mindestens drei Direktmandate errungen haben). Denkbar wäre hier bspw. eine doppelte Sperrklausel: 5% bundesweit oder wenigstens 10%/15%/20% in einem Bundesland.
“Ohne sich über inhaltliche Fragen streiten zu müssen, sollten sich die Bundestagsfraktionen darauf einigen, eine ausgeloste Bürgerversammlung mit der Überarbeitung des Bundestagswahlrechts zu betrauen und sich dazu verpflichten, deren Beschlussempfehlung anschließend ohne Änderungen zu übernehmen.”
Mir ist nicht ganz klar, woher die demokratische Legitimität der gelosten Bürgerversammlung kommen soll – zumindest kann man lange über eine solche streiten, finde ich. Als Bürger hätte ich zumindest große Probleme damit, wenn eine solche nicht gewählte Versammlung eine Kernfrage der Demokratie (faktisch) entscheiden soll…
Vielen Dank für Ihren Kommentar. Die demokratische Legitimität der gelosten Bürgerversammlung würde sich aus zwei Quellen speisen:
(1) Eine geloste Bürgerversammlung, deren Auslosung nach bestimmten Quoten erfolgen würde (etwa: aus jedem Bundesland entsprechend der Bevölkerungszahl eine gleiche Anzahl von Frauen und Männern; auch Altersquoten u.ä. wären denkbar) würde ein sehr hohes Maß an Repräsentation der Bürgerinnen und Bürger sicherstellen. Dieses Maß wäre sogar deutlich höher als bei gewählten Parlamenten (wo etwa das Geschlecht “Mann” und der Beruf “Jurist” stark überrepräsentiert sind). Die Versammlung würde dann gleichsam wie ein “Mini-Volk” eine Volksabstimmung durchführen – jedoch mit dem entscheidenden Vorteil, dass ihre Mitglieder nicht einfach mit “Ja” oder “Nein” über einen Antrag entscheiden, den viele von ihnen kaum kennen, sondern dass sie diesen Antrag (das neue Wahlrecht) zuvor in einem intensiven, durch Experten informierten und begleiteten Beratungsprozess selbst erarbeitet haben.
(2) Der Bundestag würde durch Mehrheitsbeschluss (im Idealfall mit breiter Mehrheit oder gar einstimmig) die Bürgerversammlung beauftragen, so dass diese eine ebenso große demokratische Legitimation hätte wie bspw. parlamentarische Enquete-Kommissionen.
Zur Frage der demokratischen Legitimation von Losverfahren sei zudem als Lektüre empfohlen:
Hubertus Buchstein: Demokratie und Lotterie. Das Los als politisches Entscheidungsinstrument von der Antike bis zur EU. Frankfurt/Main, New York 2009. Details siehe: https://goo.gl/mu9ja1.
Wegen des Losverfahrens: Ich befürchte (eigentlich hoffe ich, um ehrlich zu sein), Sie werden keinen Juristen davon überzeugen können, dass es Demokratie ohne allgemeine Beteiligung gibt. Zufällige Beteiligung einiger ist keine allgemeine Beteiligung. Und auch Repräsentativität ist etwas anderes als demokratische Repräsentation. Dafür würde den Juristen vielleicht die spätere Annahme des Vorschlages durch den Bundestag reichen.
Zunächst einmal: zufällige Beteiligung auf Basis einer Auslosung aus allen wahlberechtigten Bürgern IST allgemeine Beteiligung. Ideengeschichtlich haben Losverfahren (etwa in der Antike) sogar eine große Rolle als demokratische Auswahlverfahren gespielt.
Davon abgesehen haben Sie natürlich recht, dass bei einer großflächigeren Einführung von Losverfahren in das politische System der BRD die Rechtswissenschaft und Rechtsprechung hierzu erst einmal eine Dogmatik entwickeln müsste. Im Falle der von uns vorgeschlagenen Bürgerversammlung wäre dies angesichts 1. des Auftrages durch den Bundestag und 2. des abschließenden Beschlusses durch den Bundestag unproblematisch; darüber hinausgehende Gremien benötigten sicherlich eine Verfassungsänderung.
Bis auf den ersten Satz würde ich dem nicht widersprechen. Und auch den müssen wir hier nicht ausfechten. Mir ging es vor allem um die gegenüber Politikwissenschaftlern allgemein engere Perspektive der Juristen und das Demokratieverständnis des GG im Besonderen (“in Wahlen und Abstimmungen”). Vielen Dank für Ihre Diskussionsfreude. Ich hab viel gelernt.
Wenn ich da noch mal nachfragen darf: “Zufällige Beteiligung IST allgemeine Beteiligung”?! Das leuchtet mir weder sprachlich noch logisch ein. Allgemeine Beteiligung meint ja, dass prinzipiell JEDER sich beteiligen kann; das ist beim Los ja gerade nicht der Fall. BTW: Das historische Argument finde ich auch nicht sonderlich überzeugend – nach heutigen Maßstäben war die attische “Demokratie” in vielerlei Hinsicht alles andere als demokratisch; Dass es damals schon Losverfahren gab, stimmt ja – hat m.E. für uns heute aber keine Relevanz. Da braucht es schon systematische Gründe, keine historischen.
Danke für die Antwort, aber: Deskriptive (statistische) Repräsentation könnte für mich gerade keine legitime (allgemeine, gleiche, freie und faire) Wahl ersetzen, die idealerweise eher substantielle Repräsentation (nach Interessen, Präferenzen, etc.) ermöglicht. Nun verstehe ich ja, dass Interessen und Präferenzen der Parteien gerade außen vor gelassen werden sollen – das soll aber auch für die Interessen und Präferenzen der Bevölkerung gelten (die durch deskriptive Repräsentation gerade nicht abgebildet werden)? Das wäre doch ein etwas seltsames Demokratieverständnis… Ad 2) Der Unterschied zur Enquette-Kommission ist ja gerade: Die entscheidet am Ende nicht, sondern der Bundestag tut es – mitunter eben auch gegen die Kommission oder unter Abänderung ihrer Vorschläge. Ceterum Censeo: Das Los als Entscheidungsinstrument überzeugt mich noch nicht…
Vielen Dank für Ihre beiden Nachfragen bzw. Kommentare. Zufällige Beteiligung ist insofern allgemeine Beteiligung, als tatsächlich JEDE(R) das “große Los” ziehen kann (im Unterschied zu gewählten Parlamenten, wo das zwar theoretisch auch so ist, man sich praktisch aber mittel- bis langfristig in den bestehenden Strukturen des Parteiensystems erfolgreich engagieren muss – mit entsprechendem zeitlichen und u.U. auch finanziellen Aufwand – um irgendwann eine realistische Chance erhalten zu können, eines Tages tatsächlich gewählt zu werden). Im Unterschied zu Wahlen beteiligen sich die allermeisten Bürgerinnen und Bürger zwar nicht aktiv; aber vor dem Hintergrund, dass es bei Bundestagswahlen nahezu ausgeschlossen ist, dass die Stimme eines Einzelnen tatsächlich einen entscheidenden Einfluss auf das Wahlergebnis ausübt, ist dieser Unterschied praktisch gar nicht so groß.
Hinzu kommt, und damit komme ich auch zu der Frage der Interessen: Es geht hier ja nicht um ein gelostes Parlament, sondern um ein spezielles Gremium, dass eine zentrale Grundfrage des politischen Institutionenaufbaus klären soll. D.h., Interessenvertretung soll ERMÖGLICHT werden (durch ein möglichst faires Wahlrecht), nicht jedoch im Prozess der Wahlrechtsentwicklung selbst stattfinden. Hierfür hätte die geloste Bürgerversammlung eben den großen (und wie wir finden: entscheidenden) Vorteil, dass hier nicht Akteure im eigenen Interesse handeln würden.
Kurze Ergänzung: statistisch wäre zu erwarten, dass nur etwa 1-2% der gelosten Bürger Parteimitglieder wären (entsprechend ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung).
Meine Stimme mag “praktisch” keinen Unterschied machen, mein aktives Wahlrecht macht den aber sehr wohl. Es macht mich zum Subjekt des Staatsgewalt.
Was ist der nächste Schritt? Michael Hein und schorsch werden ausgeschlossen und können nicht in die Versammlung gelost werden? “Praktisch” wäre der Unterschied gar nicht so groß, die Chance darauf, gelost zu werden, ist nämlich ohnehin gering.
Ab wieviel Mandaten waere das ganze nicht mehr zumutbar? Mann stelle sich vor die AFD haette in Sachsen nicht drei Direktmandate erhalten. Dann waeren es so 725 Mandate. Oder die CSU haette nur 35% statt 38% gewonnen und trotzdem alle Direktmandate. Dann waeren wir bei knapp 800…
Vielen Dank für Ihre Frage. Da gibt es sicherlich keine rechtliche Grenze. Die Frage ist vielmehr politisch (welche maximale Parlamentsgröße ist noch legitim?) und praktisch (ab welcher Abgeordnetenzahl ist der Bundestag nicht mehr arbeitsfähig?) zu beantworten.
Lieber Herr Zicht, vielen Dank für Ihren Kommentar und Ihre Zustimmung zu unserem Vorschlag!
Als ein Beschwerdeführer in den beiden BVerfG-Verfahren von 2008 und 2012, der die Phantasie des Bundestags unterschätzt hatte, sich absurdeste Regelungen zur Status-Quo-Sicherung jedes einzelnen Landesverbands der Parteien auszudenken, und dem nun beim Blick in § 6 BWahlG die Schamesröte ob seiner Beteiligung daran ins Gesicht steigen lässt, kann ich den Vorschlag, eine Wahlrechtsreform durch eine geloste Bürgerversammlung erarbeiten zu lassen, nur unterstützen.
Wenn man eine derartige Aufblähung des Bundestags künftig verhindern will, führt jedenfalls kein Weg an einer Reduzierung der Zahl der Wahlkreise vorbei. Ich sehe nicht, dass eine CDU/CSU-Fraktion, die zu 94 % aus Wahlkreisabgeordneten besteht, dazu die Kraft aufbringen könnte.
Abgesehen davon müssen weitergehende Reformen natürlich zumindest ernsthaft diskutiert werden. Die Vorstellung, den Bundestag durch gewisse Sachzwänge dazu bringen zu können, habe ich nach den Erfahrungen der letzten zehn Jahre leider aufgeben müssen.
Lieber Herr Zicht, vielen Dank für Ihren Kommentar und Ihre Zustimmung zu unserem Vorschlag!
Wie wäre es denn, wenn man rein nach Prozenten geht? Also das bestehende Verfahren nach Berechnung aller Überhang- und Ausgleichsmandate einfach auf die max. Anzahl von 598 herunterrechnet. Mit Nachkommastellen sollte man doch auf ein Ergebnis kommen, das dann maximal bei ca. 600 Abgeordneten liegt.
Lieber Herr Bachem,
Ihr Vorschlag ist leider nicht praktikabel, da diese “Herunterrechnung” nur ginge, wenn Bundesländer ohne Überhangmandate einige ihrer Mandate an Länder mit Überhangmandaten “abgeben” würden. Wenn also bspw. die SPD in Hamburg ein Überhangmandat gewinnt, müsste ein SPD-Listenmandat aus einem anderen Bundesland abgegeben werden. Das hätte nicht nur eine Ungleichgewichtung der Repräsentation der Bundesländer im Bundestag zur Folge, sondern würde bei Parteien, die nur regional antreten (derzeit also v.a. bei der CSU) gar nicht funktionieren.
Lieber Herr Bachem,
das wäre ein gewisser Systemwechse, für den es gute Gründe geben mag. Aber auch für die Entscheidung in eine solche Richtung bedürfte es eines Gremiums, das Ihren Vorschlag zuvor völlig unbefangen prüfen und diskutieren könnte.
Wunderbare, theoretische Ansätze. Es ist aber leider auch in dem neuen Bundestag keine Partei in Sicht, die das Thema ernsthaft und konstruktiv angeht.
Damit könnten Sie leider recht haben. Die erste Wortmeldung zum Thema machte ja Alterspräsident Hermann Otto Solms in seiner Eröffnungsrede des Bundestages. Er forderte zwar eine Wahlrechtsreform, nur um dann jedoch auszuführen:
“Meiner Meinung nach war das alte Wahlrecht im Wesentlichen von allen politischen Kräften akzeptiert. Wenn es keine schnelle Einigung gibt, sollte der Bundestag dieses wieder in Kraft setzen, notfalls mit verfassungsändernder Mehrheit.”
Das ist nicht nur eine unkreative Reformverweigerung, sondern wäre auch verfassungsrechtlich hochgradig problematisch.