Eine Obergrenze für den Bundestag: Wie die dringend nötige Reform des deutschen Wahlrechts gelingen könnte
Wenig überraschend haben sich die im Jahr 2013 durchgeführten Änderungen des Bundestagswahlrechts als klassischer Fall einer „Einigung zu Lasten Dritter“ erwiesen. Die Änderungen waren notwendig geworden, nachdem das Bundesverfassungsgericht zunächst 2008 das bis dato geltende und dann erneut 2012 das 2011 aufgrund der ersten Gerichtsentscheidung geänderte Wahlrecht für verfassungswidrig erklärt hatte. Beide Urteile wandten sich gegen das sogenannte „negative Stimmgewicht“, das heißt im Wesentlichen den Effekt, dass zusätzliche Stimmen für eine Partei oder Listenverbindung zu einem Verlust von Mandaten führen können. Laut Bundesverfassungsgericht verstößt dies gegen die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl (Art. 38, Abs. 1 Grundgesetz). Kurz vor der Bundestagswahl 2013 hatten die Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen daher in aller Eile neuerliche Änderungen am Bundestagswahlrecht vorgenommen, die nunmehr die Möglichkeit eines negativen Stimmgewichts vollständig ausschlossen – allerdings mittels eines hoch komplexen Verrechnungsmechanismus, der bei bestimmten Wahlergebniskonstellationen auf Kosten der Größe des Bundestages geht.
Wie von vielen Politikwissenschaftlern vorhergesagt, führte dieser Versuch, die traditionelle Kombination von Direktmandat und Verhältniswahl mit Ausgleichskomponenten für Überhangmandate und die Mandatsverteilung auf die 16 Bundesländer zu verbinden, angesichts der historisch niedrigen Ergebnisse der drei größten Parteien bei der Bundestagswahl vom 24. September dieses Jahres zu einer extremen Aufblähung des Parlaments. Durch 46 Überhangmandate für CDU, CSU und SPD, die 290 der 299 Direktmandate gewannen, und die daraufhin notwendigen 65 Ausgleichsmandate vergrößerte sich der neue Bundestag von 598 auf 709 Abgeordnete. Damit ist das Parlament zur zweitgrößten nationalstaatlichen Volksvertretung der Welt nach dem Chinesischen Nationalen Volkskongress (2.987 Mitglieder) geworden, obwohl Deutschland nach seiner Einwohnerzahl nur auf Platz 16 rangiert. Dies ist nicht nur mit steigenden Kosten verbunden, sondern vor allem auch mit erhöhten Kommunikations- und Koordinationsproblemen in der parlamentarischen Arbeit.
Der 2013 gefundene Kompromiss war von der Maßgabe geprägt gewesen, die offensichtlich notwendigen Änderungen an der Grundstruktur des hergebrachten Wahlrechts keinesfalls vornehmen zu wollen. Dies zeigt, dass parlamentarische Entscheidungen über das Wahlrecht an einem „Neutralitätsdefizit“ leiden. Wahlrechtsfragen sind bekanntlich Machtfragen. Wird über sie im Parlament entschieden, so wird dies zwangsläufig von Annahmen der Parteien über zukünftige Vor- oder Nachteile beeinflusst – wer wollte es ihnen auch verdenken? Dass der neue Bundestag aus eigener Kraft einen Ausweg aus diesem Dilemma finden wird, ist daher zu bezweifeln.
Will man angesichts dieser Lage den Kopf nicht in den Sand stecken, bedarf es einer überzeugenden Verfahrensalternative. Hierfür könnte sich die Bundespolitik die kanadische Provinz British Columbia zum Vorbild nehmen – und dabei auch von den dort gemachten Fehlern lernen. Seit den 1980er Jahren wurde in British Columbia Kritik an dem bestehenden Mehrheitswahlrecht geübt und von verschiedenen Seiten der Wunsch geäußert, es durch ein Verhältniswahlrecht zu ersetzen. Die regierende Neue Demokratische Partei war gegen diese Änderung. Sie wurde jedoch 2001 von der Liberalen Partei abgelöst, die ihren Wahlkampf erfolgreich mit der Ankündigung einer Wahlrechtsreform geführt hatte. Anstatt aber einfach einen eigenen Vorschlag gegen die Demokraten durch das Parlament zu bringen, entschlossen sich die Liberalen für ein anderes Vorgehen. Sie übertrugen das Vorschlagsrecht für die Wahlrechtsneuerung einer gelosten „Bürgerversammlung“. Diese Versammlung setzte sich aus 160 Bürgerinnen und Bürgern zusammen, die aus der gesamten Provinz ausgelost worden waren. Die Bürgerversammlung traf sich an mehreren Wochenenden, lud Experten zur Beratung ein, führte öffentliche Anhörungen durch und diskutierte zahlreiche nach einem öffentlichen Aufruf eingegangene Einzelvorschläge. Nach einem knappen Jahr schlug sie schließlich mit großer Mehrheit ein „System der übertragbaren Einzelstimmgebung“ vor, bei dem die Wähler die Kandidaten in eine eigene Präferenzreihenfolge bringen können.
Diesen Vorschlag unterbreitete die Regierung dann einer Volksabstimmung. Hierfür hatte sie eigens die zu überwindenden Hürden erhöht. Mit dem Argument, dass ein neues Wahlrecht von einer zahlenmäßig und regional breiten Mehrheit getragen werden müsse, wurde für eine Annahme eine doppelte Dreifünftelmehrheit erforderlich gemacht: Mindestens 60 Prozent aller Abstimmenden sowie absolute Mehrheiten in mindestens 60 Prozent aller Distrikte mussten dem Vorschlag zustimmen. An der ersten Hürde scheiterte jedoch das Referendum im Mai 2005 mit 57,7 Prozent der Stimmen. Ein zweiter Versuch vier Jahre später wurde mit nur 39,1 Prozent Zustimmung dann sogar deutlich zurückgewiesen. Für die Befürworter des neuen Wahlsystems kam dieses Scheitern jedoch wenig überraschend, hatten bei beiden Referenden durchgeführte Umfragen doch eine hohe Zahl unentschlossener bzw. sich schlecht informiert fühlende Bürger gezeigt.
Für die dringend notwendige Reform des Bundestagswahlrechts lassen sich daraus zwei konstruktive Lehren ziehen. Erstens ist es angesichts seiner politischen Umstrittenheit lohnenswert, das Wahlrecht dem Parteienstreit zu entziehen und in eine ausgeloste Bürgerversammlung auszulagern. Durch ein solch unabhängiges, parteipolitisch neutrales, von „normalen“ Bürgern getragenes und von Fachleuten beratenes Gremium kann sichergestellt werden, dass Erwägungen über eigene (Wieder-)Wahlchancen keine Rolle spielen. Zweitens ist auch für Deutschland bekannt, dass sich „Otto Normalbürger“ in ihrem Alltag kaum mit Wahlrechtsfragen beschäftigen. Eine Volksabstimmung, die auf Bundesebene verfassungsrechtlich derzeit ohnehin nicht möglich wäre, wäre für Entscheidungen dieser Art daher denkbar ungeeignet.
Mit diesen Erkenntnissen könnte der neue deutsche Bundestag die Wahlrechtskrise lösen. Ohne sich über inhaltliche Fragen streiten zu müssen, sollten sich die Bundestagsfraktionen darauf einigen, eine ausgeloste Bürgerversammlung mit der Überarbeitung des Bundestagswahlrechts zu betrauen und sich dazu verpflichten, deren Beschlussempfehlung anschließend ohne Änderungen zu übernehmen. Aus verfassungsrechtlichen Gründen hätte eine solche Selbstverpflichtung zwar keine formale Bindungswirkung, aber der öffentliche Druck sollte genügen, um eine breite Mehrheit im Parlament zu sichern. Ein solcher Weg entspräche zudem einer kreativen Deutung von Art. 20 Abs. 2 des Grundgesetzes, wonach das Volk die Staatsgewalt nicht nur „in Wahlen und Abstimmungen“, sondern auch „durch besondere Organe“ ausüben kann. Nicht zuletzt könnte die geloste Bürgerkammer dazu beitragen, Vertrauen in die parlamentarische Demokratie zurückzugewinnen.
Aber wenn sich die Parteien (1.) schon auf ein neues Wahlrecht geeinigt haben und (2.) keine Fraktion im Bundestag ein Interesse an weniger Mandaten hat und Sie (3.) sowieso nichts von Politikern erwarten, als selbstinteressierten Machterhalt: Warum sollte der Bundestag ein solches Verfahren anstoßen?
Wenn Ihr Pessimismus bei der Diagnose richtig ist, woher kommt der Optimismus bei der Lösung? Wenn politischer (oder verfassungsgerichtlicher) Handlungsdruck auf zerstrittenen politischen Lagern läge, wäre als Kompromiss die Delegation an ein ergebnisoffenes (!) Verfahren möglicherweise ein Ausweg. Aber hier fehlen der Druck und der Streit. Und wenn sich ersterer aus der vermeintlichen “Aufblähung” des Parlaments politisch entwickeln sollte, fehlte stattdessen die Ergebnisoffenheit Ihres Verfahrensvorschlags, stünde doch fest, dass das Ergebnis einer etwaigen Reform weniger Sitze wären. Dass sich der Bundestag aber gerade darauf nicht einigen können wird, war ja Ihr Ausgangspunkt.
Vielen Dank für Ihren Kommentar. Die Skepsis in unserer Diagnose bezieht sich jedoch nicht darauf, dass die Parteien sich einer wirkungsvollen Begrenzung auf die eigentlich vorgesehenen 598 Mandate widersetzten, sondern dass sie sich gegen jegliche Änderungen des Wahlsystems wehren. Das Dilemma besteht darin, dass mit dem aktuellen “System der personalisierten Verhältniswahl” das negative Stimmgewicht durch eine (wahlergebnissabhängige) Aufblähung des Bundestages erkauft wird, während eine effektive Begrenzung auf 598 Mandate nur durch eine Änderung des Wahlsystems erreichbar wäre. Hiergegen sträuben sich die Parteien, da bei jeder Änderung Prognosen über allfällige Vor- und Nachteile auf das eigene Ergebnis angestellt werden; und da bei allen Varianten irgendwer benachteiligt wird (oder benachteiligt zu werden glaubt), bleibt es am Ende beim Status Quo.
Unsere Hoffnung ist, dass nun zum einen der öffentliche Druck und zum anderen die spürbaren Nachteile des übergroßen Parlamentsbetriebs eine ausreichende Motivation zu einer Reform darstellen. Unser Vorschlag einer gelosten Bürgerversammlung könnte dabei die Parteien von ihrem Streit um Vor- und Nachteile entlasten.
Ich verstehe. Vielen Dank für Ihre Antwort. Dann wäre also nicht das Eigeninteresse der 709 einzelnen Abgeordneten am Erhalt ihres Mandats (das könnte es aber auch geben, oder?), sondern das Interesse der politischen Parteien an einem möglichst großen Anteil der Mandate das Problem. Aber haben da nicht auch die gelosten Bürger jeweils Interessen? Ich würde jedenfalls gerne eines der politischen Lager in der Mehrheit sehen, ohne Berufspolitiker zu sein. Und sind nicht umgekehrt die Bürger, die kein solches Interesse haben, alle unpolitisch oder gar politikverdrossen und bringen daher andere, durchaus auch problematische biases mit?
Aus der Forschung über Bürgerversammlungen und ähnliche geloste Gremien weiß man, dass diese rasch eine sachorientierte Eigendynamik entwickeln, in der eigene Interessen keine große Rolle mehr spielen, sondern vielmehr in den Mittelpunkt rückt, welche Interessen legitimerweise zu vertreten sind und welche nicht. Mit Blick auf eine Wahlrechtsreform in Deutschland wären dies also bspw.:
(1) Haben die kleineren Parteien ein legitimes Interesse der Vertretung im Parlament? Die Antwort wäre m.E