02 July 2019

Ende einer Irrfahrt

Warum sich Carola Rackete nach italienischem Recht nicht strafbar gemacht hat

Die deutsche Kapitänin des Rettungsschiffes „SeaWatch 3“, Carola Rackete,  wird von der Staatsanwaltschaft in Agrigento (Sizilien) beschuldigt, sich durch die unerlaubte Einfahrt in italienische Küstengewässer, durch die Nichtbeachtung des Anlegeverbots im Hafen von Lampedusa und durch das Rammen eines „Kriegsschiffs“ bei der Einfahrt in den Hafen strafbar gemacht zu haben. Ihr drohen Freiheitsstrafen bis zu zehn Jahren. Außerdem könnte die Organisation “SeaWatch“ zu einem Bußgeld bis zu 50.000 Euro verurteilt und das Schiff, bereits jetzt vorübergehend beschlagnahmt, dauerhaft dem Schiffseigner entzogen werden. Nach italienischem Straf- und Verfassungsrecht sind die Vorwürfe gegen die Kapitänin der „SeaWatch 3“ indessen haltlos.

Die strafrechtliche Verfolgung von Carola Rackete ist der vorläufig letzte Akt einer seit über 2 Jahren zu beobachtenden Eskalation von Maßnahmen Italiens gegen die Seenotrettung im zentralen Mittelmeerbereich im Allgemeinen und gegen nichtstaatliche Hilfseinrichtungen im Besonderen. Die Anschuldigung, diese Organisationen würden mit der Seenotrettung einen „Taxidienst“ für illegale Einwanderer, in versteckter Zusammenarbeit mit Schleppernetzwerden, einrichten wollen, wurde bereits unter der vorherigen Mitte-Links-Regierung im ersten Halbjahr 2017 erhoben. Der damalige Innenminister Minniti hatte einen Verhaltenskodex für die NGOs ausgearbeitet und Druck ausgeübt, diese Maßregeln zu unterschreiben. 

Aber erst seit der Amtsaufnahme der neuen, von der „Lega“ und der „Fünf-Sterne-Bewegung“ im Juni 2018 gebildeten Regierung und der gegenüber zivilgesellschaftlichen Organisationen offen feindseligen Politik des Innenministers und stellvertretenden Ministerpräsidenten Matteo Salvini, Generalsekretär der „Lega“, hat Italien konsequent die Seenotrettung behindert und die Ausschiffung von Schiffbrüchigen in italienischen Häfen untersagt. 

Die Zahl der Ertrunkenen und im Meer Verschollenen ist im ersten Halbjahr 2019 auf über 10 Prozent der aus Libyen und Tunesien abgefahrenen Flüchtlingen und Migranten angestiegen, prozentual fünfmal mehr als im selben Zeitraum 2018. Das hat benennbare Gründe:  die aktive Zusammenarbeit Italiens und der EU mit der libyschen Küstenwacht; die Anerkennung einer –fiktiven – libyschen search-and-rescue-Zone von 100 Seemeilen vor der nordafrikanischen Küste, in der im Prinzip nur libysche Schiffe in Zusammenhang mit Seenotrettung operieren können; die Verfolgung  von privaten Rettungsorganisationen und die Beschlagnahme ihrer Schiffe; die Unterbrechung der von der EU koordinierten Operation „European Navy Force Mediterranean“ (Operation Sophia) und die gezielten Abschreckungsmaßnahmen, auch gegenüber Handels- und Fischereischiffen, die sich mit Schiffbrüchigen konfrontiert sehen. 

Was ist vor diesem Hintergrund von Anschuldigungen gegen die Kapitänin der SeaWatch 3 zu halten? Dasselbe Gericht in Agrigento, das jetzt verantwortlich für das Strafverfahren ist, hatte bereits in einem sehr ähnlich gelegen Fall in einem Urteil vom 7. Oktober 2010 die der Beihilfe zu illegaler Einreise Angeklagten in vollem Umfang freigesprochen. Es ging um das deutsche Rettungsschiff „Cap Anamur“, das ebenfalls, im Jahr 2004, unerlaubt in das italienische Küstengewässer eingelaufen und die geretteten Flüchtlinge im Hafen von Porto Empedocle bei Agrigento ausgeschifft hatte. 

Das Gericht hat sich dabei im Wesentlichen auf § 51 des Strafgesetzbuchs gestützt, laut dem ein Vergehen dann nicht strafbar ist, wenn es in Ausübung einer rechtlichen, im Gesetz verankerten Verpflichtung begangen wird. Im Fall der Cap Anamur, resultierte diese Verpflichtung aus den SAR und SOLAS Konventionen des internationalen Seerechts, die vorsehen, dass eine Seenotsrettungsaktion erst dann beendet ist, wenn die Schiffbrüchigen in einem sicheren Hafen („port of safety“) ausgeschifft werden. Bis zur Ausschiffung besteht die Pflicht des Schiffskapitäns, die Menschen ohne Gefahr für Leib und Leben in Sicherheit zu bringen. 

Nach der italienischen Verfassung ist Völkerrecht höherrangig gegenüber nationalem Recht. Nach Ansicht der Richter aus Agrigento durfte, ja musste sogar das Verbot der Einfahrt der Cap Anamur in die Küstengewässer missachtet werden, um höheres Rechtsgut zu schützen. Auch damals waren zunächst der Verantwortliche der Organisation, der Kapitän und der Erste Offizier im Hafen verhaftet und das Schiff beschlagnahmt worden. Bis zum Freispruch und der Rückübergabe des Schiffes waren mehr als fünf Jahre vergangen…

Im Kern ist die rechtliche Lage in Bezug auf die SeaWatch heute dieselbe, auch wenn sich das politische Umfeld radikal verändert hat. Allerdings hat die italienische Regierung kürzlich zwei Gesetzesdekrete verabschiedet, in denen eine Verschärfung der Bestimmungen zur Einwanderung, zum Asylrecht und zur Einfahrt in die Küstengewässer geregelt wird. 

Im ersten „Sicherheitsdekret“ vom 4. Oktober 2018, im Dezember vom Parlament mit Abänderungen in ein Gesetz umgewandelt, wird u.a. der Rechtsschutz aus humanitären Gründen abgeschafft, das Konzept der sicheren Herkunftsländer und das Verfahren an den Grenzen in das Asylverfahren eingeführt und die Aufnahme von Asylbewerbern  in der Weise neu geregelt, dass keine Integrationsmaßnahmen mehr durchgeführt werden können. 

Einschlägiger für unseren Fall ist das Zweite Sicherheitsdekret vom 14. Juni 2019, das noch binnen 60 Tagen nach Inkrafttreten in Gesetz umgewandelt werden muss, gleichwohl aber schon rechtswirksam ist. Das Dekret ermächtigt den Innenminister, einem Schiff die Einfahrt in die Küstengewässer zu verbieten, wenn sich an Bord „illegale Einwanderer“ befinden. Bei Zuwiderhandeln kann eine Geldbuße zwischen10.000 und 50.000 Euro verhängt und im Wiederholungsfall das Schiff beschlagnahmt werden. 

Das Dekret nimmt Bezug auf Artikel  der Internationalen Seerechtskonvention von Montego Bay, in dem eine Ausnahme vom Prinzip der „friedlichen Durchfahrt“ von Küstengewässern vorgesehen ist, u.a. auf Grund von möglicher Verletzung nationaler Einwanderungsbestimmungen. In der Tat hat der Innenminister auf Grund dieser Norm der SeaWatch 3, nach erfolgter Rettungsaktion von 52 Menschen in internationalen Gewässern, die Einfahrt in italienische Küstengewässer formell untersagt und damit erst den „casus belli“ geschaffen. 

Aber auch die Nichtbeachtung dieses Verbots sowie die Verweigerung, einem Anhalte-und Umkehrbefehl der Finanzpolizei nachzukommen, ist von der vorrangigen Verpflichtung, die Schiffbrüchigen in Sicherheit zu bringen, im Sinne des § 51 Strafgesetzbuch gedeckt. Die Beschuldigung gegen die Kapitänin beruft sich allerdings auch auf § 1099 des Navigationskodex, nach dem die Nichtbefolgung der Anordnung eines „Kriegsschiffs“ mit bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft werden kann. Es handelt sich aber auch hier um nationales Gesetz, das gegenüber der Pflicht der Kapitänin, die Menschen nach Tagen auf hoher See in einen sicheren Hafen zu bringen, zurückstehen muss. 

Schwieriger stellt sich die Lage gegenüber dem Vorwurf, beim nächtlichen Einlaufen in den Hafen von Lampedusa vorsätzlich ein Boot der Finanzpolizei gerammt und damit das Leben der Polizisten in Gefahr gebracht zu haben. Über den genauen Ablauf dieses Vorfalls bestehen verschiedene Versionen, u.a. auch die Vermutung, das Boot der Finanzpolizei habe absichtlich die Einfahrt in den Hafen physisch verhindern und damit die Risikolage schaffen wollen. In diesem Fall wird die Beschuldigung auf § 1100 des Navigationskodex gestützt, der 2 bis 10 Jahren Freiheitsstrafe wegen Widerstand gegen ein Kriegsschiff androht. 

Der Begriff „Kriegsschiff“ wird im Kodex nicht definiert. Es erscheint sehr zweifelhaft, ob ein Polizeiboot die Voraussetzungen für die Klassifizierung als „Kriegsschiff“ erfüllt. Sehr zweifelhaft ist ebenfalls, ob die Kapitänin vorsätzlich gehandelt hat. 

In jedem Fall müsste § 54 des Strafgesetzbuchs Anwendung finden, der, ähnlich wie im deutschen Strafrecht, den rechtfertigenden Notstand und damit Straffreiheit dann vorsieht, wenn das Vergehen aus der Notwendigkeit begangen wird, einen schweren Schaden für den Beschuldigten oder Drittpersonen abzuwenden, unter Einhaltung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit.

Der leitende Staatsanwalt von Agrigento hat in einer Anhörung vor dem italienischen Senat am 2. Juli 2019 erklärt, es gäbe keinerlei Hinweise auf eine Verbindung der NGO Schiffe zu den Schmugglernetzwerken. 

Die Debatte um die SeaWatch 3 zeigt erneut die tiefe Spaltung in der gegenwärtigen italienischen Gesellschaft. Auf der einen Seite rassistische und sexistische Hasstiraden auf die deutsche Kapitänin, die über die social networks externalisierten niedrigsten Instinkte von Menschen, die überzeugt sind, auf der politisch korrekten Welle zu schwimmen, weil es der Innenminister ihnen vormacht. Auf der anderen Seite eine anwachsende breite Solidaritätsbewegung, viele tausend Menschen, die in wenigen Tagen über eine halbe Million Euro für die Seawatch und die Seenotrettung gespendet haben. Musiker, Schauspieler, populäre Sängerinnen, Bürgermeister, Abgeordnete, Bürgerinitiativen, Freundeskreise, die ihre Empörung über den kulturellen Niedergang öffentlich Ausdruck geben und die das Andere Italien repräsentieren  – und dafür erneut mit Beschimpfungen beworfen werden. 

Die Aufblasung der Seawatch 3 Affäre soll von den wirklichen Problemen des Landes ablenken, zu denen die Tatsache gehört, dass Italien seit zwei  Jahren nicht mehr ein Einwanderungs- und Asylland ist, sondern, erneut, ein Auswandererland. In den letzten 4 Jahren sind mehr als eine halbe Million Italiener, überwiegend jung und mit Hochschulabschluss, abgewandert, in andere EU Länder sowie nach Süd-und Nordamerika. Davon ist in der öffentlichen Debatte aber keine Rede. 


SUGGESTED CITATION  Hein, Christopher: Ende einer Irrfahrt: Warum sich Carola Rackete nach italienischem Recht nicht strafbar gemacht hat, VerfBlog, 2019/7/02, https://verfassungsblog.de/ende-einer-irrfahrt/, DOI: 10.17176/20190702-232617-0.

62 Comments

  1. Weichtier Tue 2 Jul 2019 at 21:22 - Reply

    Endlich mal ein klares Bekenntnis zu einer manichäischen Sicht auf die italienische Gesellschaft:
    „Die Debatte um die SeaWatch 3 zeigt erneut die tiefe Spaltung in der gegenwärtigen italienischen Gesellschaft.
    – Auf der einen Seite rassistische und sexistische Hasstiraden auf die deutsche Kapitänin, die über die social networks externalisierten niedrigsten Instinkte von Menschen, die überzeugt sind, auf der politisch korrekten Welle zu schwimmen, weil es der Innenminister ihnen vormacht.
    – Auf der anderen Seite eine anwachsende breite Solidaritätsbewegung, viele tausend Menschen, die in wenigen Tagen über eine halbe Million Euro für die Seawatch und die Seenotrettung gespendet haben. Musiker, Schauspieler, populäre Sängerinnen, Bürgermeister, Abgeordnete, Bürgerinitiativen, Freundeskreise, die ihre Empörung über den kulturellen Niedergang öffentlich Ausdruck geben und die das Andere Italien repräsentieren – und dafür erneut mit Beschimpfungen beworfen werden.“

    Im Vergleich dazu handelt es sich bei den Jedi und Sith in Star Wars um in zahlreiche Grautönen ausdifferenzierte Antagonisten.

  2. Ulrich Reinhardt Wed 3 Jul 2019 at 11:30 - Reply

    1 Lampedusa ist nicht der nächste sichere Hafen gewesen (die Sea Watch war viel näher an der Küste Afrikas als an Lampedusa). Und damit meine ich nicht als Alternative einen Hafen in Libyen, die Sea Watch hätte stattdessen auch Tunesien ansteuern können.

    2 Die Kapitänin hat damit die in Seenot geratenen über eine unnötig lange Strecke transportiert (mehr als 200 Seemeilen) obwohl in viel kürzerer Distanz eine sichere Küste gewesen wäre.

    3 Dann hat sie die in Seenot geratenen Menschen weitere 2 Wochen de facto an Bord ihres Schiffes gefangen gehalten, statt in dieser Zeit einen anderen Hafen anzusteuern (und erneut spreche ich hier nicht von Libyen). In den mehr als zwei Wochen hätte sie von Ägypten bis nach Spanien und sogar darüber hinaus jedes andere Land anfahren können.

    Stattdessen bestand sie darauf ausschließlich Lampedusa anzufahren und gefährdete damit das Leben und die Gesundheit der in Seenot geratenen an Bord ihres Schiffes. Folgerichtig erkrankten auch viele unnötig.

    4 Damit hat diese Kapitänin nicht nur eklatant gegen jedes Recht verstoßen, sie hat ihre politische Agenda über die Gesundheit und das Leben der Flüchtlinge gestellt!

    Die Einfahrt in den Hafen von Lampedusa aus politischen Gründen war ihr wichtiger als Leib und Leben und die Gesundheit der Flüchtlinge.

    Das ist die wahre Perversion hier, die Heuchelei sondergleichen. Dass hier Menschen welche in Seenot gerieten für die politischen Ziele von Linken instrumentalisiert werden und dies so weitgehend, dass ihr Leben damit gefährdet wird.

    5 Das Verhalten dieser gewissenlosen und das Leben von Flüchtlingen gefährdenden Frau ist also nicht nur strafbar, es ist vor allem auch moralisch falsch.

    Beispielsweise wurden die Flüchtlinge deshalb krank, weil die Kapitänin die Einfahrt in Lampedusa erzwingen wollte. Dies allein ist bereits strafrechtlich relevant.

    Die Kapitänin rettete also keine Menschenleben, sie gefährdete sie. Allein dies muss rechtlich geahndet und hart bestraft werden. Ansonsten steht zu befürchten, dass noch mehr Flüchtlinge durch gewissenlose Linke Agiteure gefährdet werden. Gerade wer für Flüchtlinge ist, sollte daher alles daran setzen, diesen Umtrieben ein Ende zu bereiten.

    • Rydberg Wed 3 Jul 2019 at 14:06 - Reply

      1 Tunesien als sicheren Hafen zu sehen ist auch nach den Angaben des Auswärtigen Amtes nicht so klar, wie sie es hier behaupten. Auch die Foltervorwürfe von Amnesty International müssen z. B. ernstgenommmen werden

      2 Die Strecke ist nur dann “unnötig lang” wenn Tunesien 1. Überhaupt sicher genannt werden kann und 2. Die Migranten auch aufgenommen hätte.

      3. Ihre Behauptung, sie hätte beliebige andere Häfen ansteuern können ist nur teilweise zutreffend. Die Zeit dazu hätte zwar gereicht, aber 1. Hat die Rettungsleitstelle in Rom Libyen für zuständig erklärt, was jedoch wie sie auch sagen keine Alternative ist. 2. Hätte die gleiche Tortur, die sie jetzt mitmachen mussten auch vor jedem beliebigen anderen Land stattfinden können, wenn dieses sich ebenfalls weigert, einen sicheren Hafen zu öffnen. 3. Hat die Kapitänin nach eigenen Angaben auch in Frankreich und Malta angefragt. Malta hat davon sofort abgelehnt, Frankreich gar nicht geantwortet. So viele Möglichkeiten außer auf Gut Glück loszuschippern hatte sie also nicht.

      4. Und 5. Sind mit 1-3 auch erledigt. Der wahre Logikfehler ist hier auch das sie den “Linken” unterstellen mit der Seenotrettung eine politische Agenda zu betreiben und das alle Seenotretter auch notwendig links sind. Mich würde da interessieren, welches politische Ziel damit erreicht wird. Außerdem Menschen, die andere aus Seenot retten zu unterstellen, eben diese zu gefährden und damit zu implizieren, ohne sie ginge es den Flüchtlingen besser ist wohl leider fern ab von jeder Realität. Natürlich gäbe es bessere Möglichkeiten als die private Seenotrettung. Z. B. Die “Operation Sophia” oder “Mare nostrum”. Das ist aber politisch nicht gewollt. Und trotz aller politischer Gestaltungsfreiheit darf von dem Grundsatz “Jeder verdient es gerettet zu werden” nicht abgewichen werden.

    • jansalterego Wed 3 Jul 2019 at 14:23