Entsicherte Verfassung?
Was eine Veränderung der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen bewirken könnte
Im Bundesland Thüringen treten die Folgen der wachsenden Polarisierung und Fragmentierung des Parteiensystems spätestens seit den Wahlen zum achten Landtag am 27. Oktober 2019 besonders plastisch zutage. Vor diesem Hintergrund verdient ein verfassungsverändernder Gesetzesvorschlag der CDU-Fraktion im Thüringer Landtag, der die Wahl des Ministerpräsidenten im dritten Wahlgang regelt (Drs. 7/1628), besondere Aufmerksamkeit. Obschon er nur kleinere Stellschrauben bewegt, könnte er schützende Elemente der parlamentarischen Demokratie entsichern.
Am 20. Februar 2020 kam es bei der Wahl zum Ministerpräsidenten zu einem Eklat. Angesichts der schwierigen Mehrheitsverhältnisse wollte sich der Spitzenkandidat der Linken, Bodo Ramelow, von seiner Partei, der SPD und den Grünen im dritten Wahlgang zum Ministerpräsidenten einer Minderheitsregierung wählen lassen.1) Durch ein wahltaktisches Manöver wurde schließlich Thomas Kemmerich (FDP), dessen Partei mit 5,0 % die schwächste parlamentarische Kraft im Landtag abgab, mit den Stimmen aus FDP, AfD und CDU ins Amt gewählt. Seine Regierungszeit währte ganze 28 Tage. Die am 4. März 2021 schließlich gebildete Minderheitsregierung von Bodo Ramelow ist seither in der Gesetzgebung auf die parlamentarische Kooperation mit der CDU angewiesen. Die Zusammenarbeit im Landtag blieb schwierig und von Konflikten gezeichnet; mehrfach kam es zur punktuellen Zusammenarbeit der Parteien in der Opposition unter Einschluss der rechtsextremen AfD. Angesichts der jüngeren Entwicklungen, die in Sonneberg am 25. Juni 2023 in der Stichwahl einen der AfD angehörigen Landrat ins Amt brachten, sowie der letzten Umfrageergebnisse vom Juli 2023, welche die AfD als die weitaus stärkste politische Kraft in Thüringen ausweisen, stellt sich die Frage umso drängender: Wie kann der Modus der Ministerpräsidentenwahl ausgestaltet werden, damit der Landtag eine handlungsfähige parlamentarische Regierung hervorbringt? Schließlich: Wie effektiv sind in dieser Hinsicht die bestehenden Sicherungen des demokratischen Verfassungsstaats?
Der Gesetzentwurf zur Neuordnung der Ministerpräsidentenwahl
Besonders aufschlussreich ist in dieser Hinsicht ein verfassungsändernder Gesetzentwurf, den die CDU-Fraktion am 23. September 2020 in den Thüringer Landtag einbrachte und der sich derzeit noch in der Beratung befindet.2) Die Initiatoren des Gesetzentwurfs (Drs. 7/1628) nahmen die Regierungskrise von 2019 zum Anlass, um Änderungen an Art. 70 Abs. 3 der Verfassung Thüringens, welcher die Wahl des Ministerpräsidenten regelt, vorzuschlagen. Der Entwurf sieht Folgendes vor: Vor dem zweiten Wahlgang solle eine „Denkpause“ von maximal vierzehn Tagen als mögliches zeitliches Fenster eingebaut werden, um die Fraktionen bei schwierigen Mehrheitsverhältnissen im Landtag zu einer eingehenden Beratung zu bewegen. Daneben präzisiert der Entwurf die Anforderungen an den dritten Wahlgang, der es ermöglicht, dass ein Ministerpräsident ohne parlamentarische Mehrheit ins Amt kommen und eine Minderheitsregierung gebildet werden kann. Bisher sieht die Verfassung vor, dass der Bewerber gewählt ist, der im dritten Wahlgang „die meisten“ Stimmen auf sich vereinigt. Art. 70 Abs. 3, Satz 6 soll dem Entwurf zufolge nun so ausgestaltet werden, dass, sofern nur ein einzelner Bewerber zur Wahl steht, er oder sie mehr Jastimmen als Neinstimmen auf sich vereinen muss.
Mit letzterem Vorschlag, der auf den ersten Blick nach einer überschaubaren Anpassung aussieht, können schwerwiegende Folgen verbunden sein. Die Parteienlandschaft in Thüringen ist „segmentiert“, was bedeutet, dass keine allgemeine Koalitions- und Bündnisfähigkeit zwischen den Parteien besteht. Die Zahl der möglichen Regierungskoalitionen ist begrenzt. Bislang schlossen alle Parteien eine Koalition mit der AfD aus. Koalitionen zwischen CDU und der Linken sind aufgrund der Unvereinbarkeitsbeschlüsse der CDU ebenfalls nicht möglich. Angesichts der Stärke der AfD gäbe es also derzeit keine realistische Option für eine Mehrheitsregierung. Gleichwohl erlaubte das verfassungsändernde Gesetz der CDU, das Zustandekommen einer Minderheitsregierung zu verhindern. Es ließe zu, dass sich eine negative (relative) Mehrheit gegen den Kandidaten einer Minderheitsregierung formiert, ohne dass diese einen eigenen Kandidaten mithilfe einer formalen Koalition zu wählen gewillt ist. Tritt ein solcher Fall ein, wäre die Regierungsbildung im dritten Wahlgang gescheitert.
Welchen Ausweg böte die Thüringer Verfassung in einem solchen Fall? Theoretisch könnten die Abgeordneten das Selbstauflösungsrecht des Landtags nach Art. 50 Abs. 2 der Verfassung bemühen, um in anschließenden Neuwahlen die Mehrheitsverhältnisse vom Wahlvolk erneut klären zu lassen. Allerdings kann man nicht unbesehen davon ausgehen, dass ein neuer Urnengang wirklich zu stabileren Verhältnissen führt. Die Wählerschaft könnte die bestehenden Verhältnisse bestätigen, oder das Votum könnte dem Land sogar noch schwierigere parlamentarisch Verhältnisse bescheren. Zudem stellt die für die Selbstauflösung erforderliche Zweidrittelmehrheit eine hohe Hürde dar. Die Abgeordneten gingen das Risiko ein, ihr Mandat zu verlieren. Sie müssten ihre eigenen Karriereinteressen dem Gut einer – auch nur vermutlich – stabileren Regierung nachordnen. Der 2021 schon einmal gescheiterte Versuch des Thüringer Landtags, eine Selbstauflösung herbeizuführen, verdeutlicht, dass man eine solche Bereitschaft nicht ohne Weiteres voraussetzen kann.
Folglich ließe die im Gesetzentwurf vorgeschlagene Regelung – in Kombination mit dem nur schwierig zu aktivierenden Selbstauflösungsrecht – eine höchst problematische Blockadesituation zu, ist doch die Dauer der Regierungsbildung in der Thüringer Landesverfassung, im Unterschied z.B. zu Sachsen (vier Monate, Art. 60 Abs. 3 Verfassung Sachsen), zeitlich nicht begrenzt. Anders als im Grundgesetz ist in den Verfassungen der Länder auch kein Staatsoberhaupt (Bundespräsident) vorgesehen, das bei unklaren Mehrheitsverhältnissen abwägen könnte, ob es nach dem dritten Wahlgang einen Minderheitskanzler ernennt oder den Bundestag auflöst (GG Art. 63 Abs. 4, Satz 1). Schließt eine langwierige Regierungsbildung an eine gescheiterte Wahl des Ministerpräsidenten an, müsste in Thüringen die in der vorangegangenen Wahlperiode gewählte geschäftsführende Regierung (Art. 75 Abs. 3, Thüringer Verfassung), die dann allerdings über keine parlamentarische Mehrheit verfügte, weiter amtieren. Im ungünstigen Fall eines sich weiter selbst blockierenden Parlaments könnte dieser Zustand theoretisch sogar bis zum Ende der (neuen) Wahlperiode andauern.
Würde ein solches Szenario Realität, wären die demokratiepolitischen Implikationen gravierend. Denn eine geschäftsführende Regierung hält sich mit Entscheidungen zurück, um die nachfolgende Regierung nicht über Gebühr zu binden. Dem „Versteinerungsprinzip“ zufolge werden ausscheidende Kabinettsmitglieder in einer geschäftsführenden Regierung nicht ersetzt, was deren Übergangscharakter verdeutlicht. Die Gestaltungs- und Leistungsfähigkeit einer geschäftsführenden Regierung bleibt beschränkt. Dem Prinzip der „Diskontinuität“ zufolge sind laufende Gesetzgebungsprozesse ab der Wahl des neuen Parlaments unterbrochen; in der vergangenen Legislaturperiode nicht beschlossene Gesetze müssten also erneut in den blockierten Landtag eingebracht werden.
Nicht weniger problematisch ist, dass der das parlamentarische Regierungssystem prägende Funktions- und Vertrauenszusammenhang zwischen Parlament und Regierung außer Kraft gesetzt würde, bliebe eine geschäftsführende Regierung über eine längere zeitliche Strecke im Amt. Diese Regierung wäre noch durch den alten, nun jedoch abgewählten Landtag legitimiert. Sie geht somit gerade nicht aus dem Wählerwillen hervor, der zu einer veränderten Zusammensetzung des neuen Landtags geführt hat. Die Wählersouveränität wäre beschädigt. Mit anderen Worten: Eine geschäftsführende Regierung ist eine Übergangslösung, aber keine echte parlamentarische Regierung. Der Ministerpräsident einer geschäftsführenden Regierung kann im Landtag keine Vertrauensfrage stellen, und das Parlament kann das scharfe Schwert des konstruktiven Misstrauensvotums nicht gegenüber der Regierung ziehen. Auch in dieser Hinsicht liegt der Schluss nahe, dass eine Auflösung des Landtags geboten wäre, sollten im dritten Wahlgang, wie im Gesetzentwurf vorgesehen, mehr Neinstimmen als Jastimmen für einen einzelnen Bewerber abgegeben werden. Dies könnte zumindest den Druck auf die Fraktionen erhöhen, eine Lösung auf der Grundlage des gegebenen Wahlergebnisses zu suchen.
Die vorgeschlagene Regelung lädt gerade in einem so stark polarisierten Parlament wie dem Thüringer Landtag zu destruktiven parlamentarischen Strategien ein. Was dies hypothetisch zur Folge haben könnte, lässt sich anhand der jüngsten Umfrageergebnisse verdeutlichen.
Was wäre, wenn?
Legt man die Umfragewerte vom Juli 2023 zugrunde, ergäbe sich für die Verteilung der Mandate im Thüringer Landtag folgendes Bild: Die AfD käme auf 33 von 88 Sitzen, auf die Linke und die CDU entfielen jeweils 20 Mandate. Die SPD erhielte 10, die Grünen 5, die FDP wäre nicht mehr im Parlament vertreten. Es könnte keine Mehrheitsregierung ohne die Linke oder die AfD gebildet werden; die CDU schließt allerdings Bündnisse mit beiden Parteien aus. Das rot-rot-grüne Bündnis, so es denn weiter amtierte, ginge geschwächt aus den Wahlen hervor und bliebe, sofern sich keine andere Regierungskonstellation abzeichnet, gleichwohl weiterhin auf die Tolerierung der CDU im Parlament angewiesen. Umgekehrt bedürfte die CDU auch in einer Minderheitskoalition mit der SPD und den Grünen der parlamentarischen Tolerierung durch die Fraktion der Linkspartei, um Gesetze verabschieden zu können. Jedwede Minderheitsregierung stünde also schwierigen parlamentarischen Verhältnissen gegenüber. Wie konflikthaft diese sind, belegen derzeit die zähen Verhandlungen zwischen Rot-Rot-Grün und CDU um den Landeshaushalt für 2024. Die AfD profitiert nicht nur von der eingeschränkten Handlungsfähigkeit der Minderheitsregierung, sondern auch von den Schwierigkeiten der CDU, deren Rolle in Landtag zwischen gestalterischer Mitverantwortung und Opposition oszilliert. Die Thüringer Verhältnisse verstärken den Vertrauensverlust in die demokratischen Institutionen und die Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien, was letztlich auf das Konto der AfD einzahlt.
Die CDU-Landtagsfraktion hat offiziell stets eine Zusammenarbeit mit der AfD ausgeschlossen. Gleichwohl kam es in der Vergangenheit im Thüringer Landtag immer wieder zu einer punktuellen Zusammenarbeit mit der AfD. Würde das in Rede stehende verfassungsändernde Gesetz Realität, könnten CDU und AfD mit ihrer rechnerischen Mehrheit im Landtag – rein theoretisch – einer rot-rot-grünen Minderheitskoalition mehr Neinstimmen als Jastimmen bescheren. Dieser Fall könnte z.B. eintreten, wenn die CDU-Fraktion nicht zu einer einheitlichen Position findet. Doch auch ein CDU-Einzelbewerber wäre im dritten Wahlgang nicht vor einer Niederlage gefeit, käme es – und sei es nur zufällig – zu einer negativen (relativen) Mehrheit anderer Parteien im Landtag. Zu bedenken ist, dass die Stimmabgabe bei der Wahl des Ministerpräsidenten geheim erfolgt (Art. 70, Abs. 3 Thüringer Landesverfassung), was das freie Mandat der Abgeordneten und ihre Unabhängigkeit gegenüber der Fraktionsführung stärkt. Umgekehrt kann gerade wegen der geheimen Stimmabgabe ein von der Fraktionslinie abweichendes Stimmverhalten nicht den einzelnen Abgeordneten zugerechnet werden, was gerade in Thüringen immer wieder zu Überraschungen bei der Wahl von Ministerpräsidenten geführt hat, die trotz parlamentarischer Mehrheit nicht im ersten Wahlgang gewählt wurden.3) Diese hypothetischen Überlegungen mögen als Unkenrufe gelten. Sie müssen auch nicht Wirklichkeit werden, sie sind jedoch auch nicht allzu weit von dieser entfernt.
Die Büchse der Pandora geschlossen halten
Demokratische Verfassungen sollten zentrale Prinzipien und Normen unabhängig von bestehenden politischen Konstellationen wirksam schützen können. Zu diesen Prinzipien zählen die Wählersouveränität und die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament. Der hier besprochene Gesetzentwurf würde diese schützenden Regeln jedoch entsichern. Er könnte die Regierbarkeit des Landes potenziell weiter verkomplizieren. Denn der Gesetzentwurf zur Ministerpräsidentenwahl schließt destruktive – und sei es auch nur zufällig zustande gekommene – Stimmgemeinschaften und längere Phasen eingeschränkter Regierungsfähigkeit nicht aus.
Für unsere Argumentation ist es letztlich unerheblich, ob die oben skizzierten Szenarien tatsächlich die wahrscheinlichste Option darstellen. Es mag auch nicht die Standardsituation sein, dass im dritten Wahlgang ein Einzelbewerber antritt. Eine Verfassung setzt aber Verhaltensanreize: Angesichts des fluiden Parteiensystems kann niemand zuverlässig vorhersagen, ob einzelne politische Kräfte diese Anreize nicht zu einem späteren Zeitpunkt zum Schaden der parlamentarischen Demokratie ausnutzen. Gerade die Ministerpräsidentenwahl von 2019 ist ein Lehrstück, dass es im Interesse politischer Akteure liegen kann, die Institutionen der parlamentarischen Demokratie in einem formal korrekten Verfahren zu beschädigen. Sicherlich: Auch gut verfasste Institutionen sind nur dann dauerhaft stabil, wenn sie von einem konstruktiven Verhalten der politischen Akteure untersetzt sind. Man muss die Büchse der Pandora jedoch nicht ohne Not öffnen.
Die Autorin wurde vom Verfassungsausschuss des Thüringer Landtages um eine gutachterliche Stellungnahme zum Gesetzentwurf gebeten, die Sie unentgeltlich gegeben hat.
References
↑1 | Art. 70, Abs. 3 Satz 3 der Thüringer Verfassung ermöglicht dies gemäß seiner geltenden Fassung („…ist gewählt, wer die meisten Stimmen erhält“). |
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↑2 | Zum Stand der Dinge siehe Thüringer Landtag – Parlamentarischer Ablauf (thueringer-landtag.de). Für eine ausführlichere Analyse des Gesetzes, die diesem Blog zugrunde liegt, vgl. Sabine Kropp, Reformen nach dem Mikado-Prinzip? Das verfassungsändernde Gesetz zur Änderung der Ministerpräsidentenwahl im Freistaat Thüringen (2020). Zeitschrift für Gesetzgebung 38 (2), 159-174. |
↑3 | Bereits 2009 fehlte Christine Lieberknecht (CDU), im ersten und zweiten Wahlgang mit 44 von 88 Stimmen jeweils eine Stimme für die absolute Mehrheit, obwohl die spätere Koalition aus CDU und SPD gemeinsam über 48 Mandate verfügte. Auch 2014 wurde Bodo Ramelow nicht im ersten, sondern erst im zweiten Wahlgang mit 46 von 91 Stimmen (als einziger zur Wahl stehender Kandidat) zum Ministerpräsidenten gewählt. |