„Es wird keinen großen Wurf und keinen großen Knall geben“
Das ganze Jahr 2012 haben wir viele große Visionen über die Zukunft Europas präsentiert bekommen. Die Notwendigkeit, die EU auf einen stabiles neues Fundament zu stellen, schien unausweichlich. Trägt diese Dynamik, und wenn ja, wohin trägt sie uns?
Es gibt ja immer Konjunkturen der Aufmerksamkeit. Nach dem Vertrag von Lissabon gab es ein allseitiges Ermatten, keiner hatte mehr Lust über Europa zu reden ab Dezember 2009. Man hatte das Gefühl, jetzt ist ein 15 Jahre währender Prozess zu Ende gegangen. Während der eineinhalb Jahrzehnte davor ging es darum, das veränderte Europa nach 1989 auf eine neue Grundlage zu stellen, und dann hatte man es endlich geschafft, und dann war man eben erschöpft. Plötzlich merkte man aber so etwa im Spätsommer 2011, dass alle sagen: lasst uns wieder über die europäische Zukunft reden! Das ist eigentlich kontraintuitiv, weil man in der Eurokrise doch genug mit der Gegenwart zu tun hatte. Dieses Momentum aus 2011 hat sich 2012 fortgesetzt. Aktuell sieht es aber wieder so aus, als sei es mit dem Gipfel kurz vor dem Jahreswechsel und der deutschen Vollbremsung damit erst einmal vorbei. Die Kanzlerin hat offenbar keine Lust, am ganz großen Rad zu drehen.
Fallen wir wieder in die Post-Lissabon-Depression zurück?
Das wäre erstaunlich, denn dazu hat sich zu viel aufgebaut. Aber ich will es nicht ausschließen. War das nur ein Strohfeuer? Oder womöglich sowieso nur eine Nebelkerze, um von konkreten Ereignissen und Problemen in der konkreten politischen Integration abzulenken, nach dem Motto: solange man sich große Gedanken über einen möglichen Reformkonvent macht, denkt man nicht allzu genau über die EZB und ihr Tun und Unterlassen hier und heute nach? Ich weiß es nicht.
Wenn wir von hier aus zehn Jahre in die Zukunft schauen: Was sehen Sie da? Was wird sich verändert haben in der EU im Jahre 2023?
Es wird keinen großen Wurf und keinen großen Knall gegeben haben, sondern kleinschrittige Entwicklungen, Prozesse – entweder in die Richtung von mehr oder von weniger Integration.
Also eine Art Aufwärts- bzw. Abwärtsspirale?
So war das auch in den letzten Jahren. Durchaus mit Abwärtstendenz: Man hört von kontinuierlich schlechteren Entscheidungsbedingungen insbesondere im Rat, weil dort immer mehr Mitgliedsstaaten sind. Es wird immer schwieriger sich zu einigen, und die Dinge entwickeln sich langsam.
Bleiben wir mal bei der Abwärtsspirale. In den Mitgliedsstaaten wächst der Euroskeptizismus, die Integration wird immer unpopulärer, das verschlechtert wiederum die Funktionsbedingungen der EU immer weiter, sie funktioniert immer schlechter und generiert immer weniger Erfolge, das nährt den Euroskeptizismus und das Ganze geht von vorn los. So etwas in der Art?
Genau. Die Abwärtsspirale bedeutet, dass man nichts großartig Neues zustande bekommt. Das kann man am Europarecht ganz konkret machen. Es ist ja heute schon so, dass man bestimmte Rechtsbestände, z.B. zur Arbeitnehmerentsendung, jetzt politisch gar nicht mehr durchkriegen würde. Das bedeutet, dass mangels Mehrheiten zur Änderung des Rechts das bestehende Recht versteinert. Es wird nicht mehr angepasst, nicht mehr modernisiert, und dann wird es irgendwann irrelevant oder von anderen Akteuren weiterentwickelt. Da kommt der EuGH ins Spiel. Der kann offenbar durch Richterrecht Defizite in der Entscheidungsfindungsmaschinerie bis zu einem gewissen Grad ausgleichen. Aber wenn das Problem die steigende Zahl und Heterogenität der Mitgliedsstaaten ist, dann hat der EuGH dieses Problem genauso, auch dort gibt es immer mehr Akteure und auseinandergehende Meinungen. Das Ergebnis wäre, dass das Europarecht einfach immer schlechter wird.
Aber das Problem sind doch gar nicht unbedingt die neuen Mitgliedsstaaten, sondern zum Teil auch die alten.
Das stimmt. Die Briten sind seit ihrem Beitritt 1973 in der europäischen Integration nie richtig angekommen. Das stößt jetzt wohl doch so langsam an Grenzen. Man kann der eigenen Bevölkerung offenbar doch nicht endlos lange vorgaukeln, es gehe nur um Binnenmarkt zum Eigenvorteil und Optimierung britischer Interessen, ohne dass da ein Preis damit verbunden wäre. Wenn man zu Hause nicht hinreichend kommuniziert, dass es um mehr geht als eine Freihandelszone mit einer eigenen Flagge dann kommt man womöglich tatsächlich in eine Argumentationsfalle und muss entweder – wie sich jetzt ja abzeichnet – auf Dauerblockade schalten oder gar ausscheiden .
Die Debatte, ob und in welchen Fällen einzelne Länder mit ihrem Veto alle anderen blockieren können sollen, haben wir ja schon lange.
Die Einstimmigkeit ist ein Problem, das wussten wir in der Tat auch schon vor zehn Jahren. Wobei man sehen muss: Wir in Deutschland würden uns beispielsweise in Sachen Vorratsdatenspeicherung auch nur ungern überstimmen lassen (was jetzt allerdings passieren kann, weil das Thema gerade zur Umgehung der Einstimmigkeitserfordernisse unter Telekommunikationsbinnenmarkt läuft, nicht unter Antiterror). Aber jeder hat da seine eigenen Sensibilitäten. Steuern? Kommt ein Veto aus Luxemburg. Asyl? Kommt ein Veto aus Deutschland. Andererseits sagen die Praktiker dass man das auch nicht überbewerten soll. Kampfabstimmungen im Mehrheitsmodus sind in der Praxis sehr, sehr selten. Man bemüht sich wohl doch möglichst immer alle an Bord zu kriegen. Aber es ist schon etwas an dem Wort von J.H.H. Weiler dran, dass es einen Unterschied macht, ob man unter dem „shadow of the veto“ verhandelt oder unter dem „shadow of the vote“. Die Überwindung der Einstimmigkeit, hin zu noch mehr Mehrheitsentscheidungen im Rat bleibt wohl doch ein wichtiges Ziel.
Aber weniger Einstimmigkeit setzt Einstimmigkeit voraus. Das geht nur da, wo niemand ein Problem hat. An den wirklich umstrittenen Punkten kommt man da nicht weiter.
Deshalb kommt man ja zu Vorschlägen wie dem von Jean-Claude Piris, der die ganze Veranstaltung zu groß findet und eine Avantgarde von Mitgliedstaaten vorangehen lassen will. Wer Probleme mit der Mehrheitsentscheidung und mit mehr Europa hat, soll wenigstens die anderen nicht aufhalten können. Heute müssen alle einverstanden sein, wenn einige vorangehen wollen in Form einer verstärkten Zusammenarbeit. Bei Vertragsänderungen brauchen wir ja sogar so etwas wie eine doppelte Einstimmigkeit, erst bei der Einigung über die Änderung, dann auch bei der Ratifikation. Bei den großen internationalen Verträgen haben wir das ganz häufig nicht dass Änderungen von allen getragen werden müssen. Selbst die UN-Charta kann mit qualifizierter Mehrheit geändert werden, und wer da nicht mitmachen will, muss halt austreten. Für die EU ist doch deutlich zu beobachten: Je größer die Zahl der Mitgliedsstaaten, desto unwahrscheinlicher ist es, dass diese doppelte Einstimmigkeit zustandekommt, und desto höher ist das Erpressungspotenzial.
Würde das Bundesverfassungsgericht das zulassen, dass die Mitgliedsstaaten ihre „Herrschaft über die Verträge“ aus der Hand geben?
Das Bundesverfassungsgericht kriegt da allergische Reaktionen, das ist klar. Da würde man nicht an die UN-Charta denken, sondern gleich den Übergang in einen europäischen Bundesstaat befürchten.
Und um an der doppelten Einstimmigkeit etwas zu ändern, müsste man die Verträge ändern – und zwar doppelt einstimmig.
Ja. Aber es gibt in dem Kontext zwei interessante Ausnahmeentwicklungen in jüngerer Zeit, den Fiskalvertrag und den ESM-Vertrag. Die sind beide außerhalb des herkömmlichen Vertragswerks geschlossen werden und bedurften beide nicht der Zustimmung aller 27 Mitgliedstaaten, der Fiskalvertrag ja ausdrücklich, weil ein Mitgliedsstaat nicht bereit war, das im bestehenden Vertragswerk einzurichten. Interessant ist, dass der Wille, sich davon nicht aufhalten zu lassen, letztlich doch dazu geführt hat, dass fast alle an Bord waren, bis auf die Tschechen und die Briten.
Das heißt, es wird eine immer größere Vielfalt von nebeneinander existierenden Vertragswerken geben. Europa ist schon jetzt wahnsinnig komplex – aber dann blickt doch endgültig niemand mehr durch, oder?
Die Kritik ist doch ganz alt. Wenn wir uns mal erinnern, wie das beim Vertrag von Maastricht war, mit dem Nebeneinander von Europäischer Union und Gemeinschaft, mit dieser Säulenkonstruktion: das konnte man doch auch niemandem mehr erklären. Da gab es auch die Kritik, dass Europa gar keine Kontur mehr hat, sondern nur noch eine Ansammlung von Verfassungstrümmern ist, bits and pieces hat das Deirdre Curtin damals genannt, deren Arrangement ganz unklar ist. Die Gefahr der Überkomplexität besteht natürlich, aber die Welt ist nunmal komplex, die Interessenlage in Europa ist komplex, und wenn das Recht dies abbilden will, muss es eben auch komplex sein.
Aber was nicht verstanden wird, wird auch nicht als legitim empfunden.
Das stimmt. Subjektiv nehmen die Bürger das Demokratiedefizit auf europäischer Ebene viel stärker wahr als auf nationaler Ebene, Stichwort Dunkelkammer Vermittlungsausschuss. Das gleiche gilt für das Thema Transparenzdefizit, dabei kann man im Internet die europäische Gesetzgebung viel besser verfolgen kann als die Bundesgesetzgebung. Dieses gefühlte Defizit hat natürlich mit dem Informationsstand zu tun und der Frage, was verstehe ich noch. Aber das Problem scheint mir noch nicht unlösbar. Wir haben noch viel Spielraum nach oben, was die Vermittlung von Information über Europa angeht. Das ist letztlich eine Frage der politischen Bildung. Wenn Sie dazu nach der Zukunftsaufgabe fragen, dann gibt es auf zwei Feldern für die Europaallgemeinbildung einiges zu tun: Schule und Medien.
Wirklich? Kriegt man das Legitimationsproblem mit mehr politischer Bildung aus der Welt? Hat das nicht auch mit dem Fehlen von Politik in Europa zu tun? Mit dem Fehlen von Entscheidungsverfahren, die auf Meinungskampf und Diskussion beruhen, die Handlungsalternativen ausbilden und das Meinungsfeld polarisieren? Damit, dass die Leute sich mit ihren Präferenzen in den Brüsseler Prozeduren nicht wiederfinden, wenn sie nicht zufällig damit übereinstimmen, was eh geschieht?
Klar. Aber um sich eine Meinung bilden zu können, muss man erst einmal verstehen, was da überhaupt passiert. Deshalb: mehr EU-Sachverstand in den Medien und mehr EU-Kunde in den Schulen.
Kommen wir noch mal auf 2023 zurück. Wir hatten über die Abwärtsspirale geredet – wie könnte denn eine positive Entwicklung, eine Aufwärtsspirale aussehen?
Da wären zunächst einige Entwicklungshemmer abzubauen. Ich denke als Verfassungsrechtler da zuerst an das Bundesverfassungsgericht. Ich hoffe dort auf eine konstruktive Grundhaltung, die sich mehr an pragmatischen Fragen orientiert und nicht so sehr am Grundsätzlichen festhält und auch im 21. Jahrhundert auf ein Souveränitätsverständnis aus dem 19. Jahrhundert besteht. Also dass man sich von dogmatischen Sichtverengungen verabschiedet und erkennt, dass man es mit menschengemachten Prozessen zu tun hat.
Also sich von den großen Konzepten verabschieden. Das würde dann auch für Begriffe wie europäischer Bundesstaat oder Vereinigte Staaten von Europa gelten, oder?
Richtig. Eine terminologische Abrüstung wäre auf allen Seiten hilfreich. Und, auch hier, mehr Sachkunde und mehr Verständnis für das, was in Europa passiert, schaffen.
Noch einmal: Gehört nicht auch eine stärkere Politisierung der Prozesse in Europa dazu?
Ja und nein. Zum einen tut sich da ja einiges. Die europäischen Parteifamilien organisieren sich zunehmend. Die Parteiführertreffen insbesondere vor den Europäischen Räten werden von Teilen des politischen Spektrums sehr geschickt genutzt, vor allem von den Konservativen. Andererseits hat die Eurokrise auch gezeigt, dass das Zuspitzen politischer Gegensätze sehr schnell problematisch werden kann, wenn die politische Zuspitzung entlang der Nationalgrenzen erfolgt und sich mit dem Aufbrechen alter Feindbilder verbindet. Wenn die Griechen plötzlich sagen, die Deutschen sind böse und waren es doch schon immer, wenn also genau das wieder aufbricht, was die europäische Integration eigentlich verhindern will, das Fortbestehen und Aufeinanderprallen übersteigerter nationaler Befindlichkeiten und Egoismen dann funktioniert das ganze europäische Projekt nicht mehr.
Werden wir bis 2023 erleben, dass ein europäisches Wahlvolk durch seine Stimmabgabe politische Richtungsentscheidungen fällt?
Bis zu einem gewissen Grad haben wir das doch jetzt schon. Im Europäischen Rat gibt es doch eine bestimmte Mehrheit, im Augenblick ist sie konservativ, was sich dann auch auf die Auswahl des Kommissionspräsidenten auswirkt. Ich glaube aber, dass das mit der Politisierung in Europa ein bisschen komplizierter stattfinden sollte. Für mich wäre eine ideale politische Aufladung des europäischen Prozesses nicht so sehr die Frage, ob wir bei der Europawahl die Wahl zwischen A und B haben, sondern dass wir auf der nationalen Ebene die europäische Tragweite dessen, was wir national entscheiden, besser verstehen. Also mit anderen Worten, dass Europapolitik nicht immer nur als vorletztes Kapitel im Wahl- oder Parteiprogramm kurz vor der Außenpolitik kommt. Dass klar wird, dass der Bundestag auch eine Art europäisches Parlament längst ist. Dass man weiß, wenn ich diesen oder jenen Kandidaten unterstütze, ist das auch der, der im Europäischen Rat für Deutschland am Tisch sitzt und dass man deswegen wissen will, was der oder die für europapolitische Konzepte hat. Also, dass Europapolitik zum selbstverständlichen Teil der Innenpolitik wird. Das wäre das eigentliche Ziel bei der Politisierung Europas.
Also bleibt es dabei: Politik ist nur etwas für die nationale Ebene?
Die Ebenen sind doch für eine solche Trennbetrachtung längst viel zu eng miteinander verflochten. Zum Beispiel Finanztransaktionssteuer: Darüber kann man doch auf nationaler Ebene überhaupt nur sinnvoll nachdenken, weil man die europäische Handlungsebene hat. Natürlich kann man auch in Deutschland eine solche Steuer isoliert einführen. Und dann? Passiert gar nichts. Es bedarf einer kritischen Masse von anderen Staaten, die hier mittun. Das zeigt: Durch Europa gewinnt man in der Politik auch ein Stück Gestaltungsmöglichkeit zurück. Und das kann man auch dem Wähler im Nationalen erklären und sagen: Wenn ihr mich wählt, sorge ich in Europa dafür, dass wir eine Finanztransaktionssteuer kriegen.
Also, um das Gespräch abzurunden: Institutionell und prozedural wird sich bis 2023 gar nicht so furchtbar viel ändern.
Ich will nicht ausschließen, dass sich möglicherweise sehr viel geändert haben wird. Aber es wird nicht den einen dramatischen Moment geben, an dem das Ganze ins Negative oder Positive kippt. Und es ist, wie gesagt, völlig offen, ob wir es mit einer Abwärts- oder einer Aufwärtsspirale zu tun bekommen.
Die Fragen stellte Maximilian Steinbeis. Nächste Folge: Mattias Kumm zu den Aussichten für eine parlamentarisch verantwortliche Regierung in Europa.
“…dabei kann man im Internet die europäische Gesetzgebung viel besser verfolgen kann als die Bundesgesetzgebung” – ein “kann” bitte streichen
done. Danke für den Hinweis
@HerrJoe Aber wenn Herr C. Meyer das doch so gesagt hat??
“Aber um sich eine Meinung bilden zu können, muss man erst einmal verstehen, was da überhaupt passiert. Deshalb: mehr EU-Sachverstand in den Medien und mehr EU-Kunde in den Schulen.”
“Ich glaube aber, dass das mit der Politisierung in Europa ein bisschen komplizierter stattfinden sollte. Für mich wäre eine ideale politische Aufladung des europäischen Prozesses nicht so sehr die Frage, ob wir bei der Europawahl die Wahl zwischen A und B haben, sondern dass wir auf der nationalen Ebene die europäische Tragweite dessen, was wir national entscheiden, besser verstehen.”
Die europäische Harmonisierung wird im Detail als lässtig, als diktiert empfunden. Daran kann sich nur was ändern, wenn man besser versteht wie die Zusammenhänge und Wechselwirkungen sind und was es bedeutet selbständig zu bleiben im Geflecht anderer selbständiger Staaten. In der nationalen Entscheidung ist möglicherweise begründet, welche Qualität die nationale Selbständigkeit hat im komplexen Europa.