Flächendeckende Gewaltschutzeinrichtungen: So nah und doch so fern
Ein Blick auf den Gesetzesentwurf für ein deutsches Gewalthilfegesetz
Es kommt Bewegung in Sachen Gewaltschutz, sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene. Nach dem Beitritt der Europäischen Union zur Istanbul-Konvention 2023, trat im Mai 2024 die EU-Gewaltschutzrichtlinie in Kraft. Beide Rechtsakte sind Meilensteine in der Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt. Auch wenn die Richtlinie – nicht zuletzt aufgrund der deutschen Blockadehaltung – eine massive Leerstelle aufweist, indem sie die Regelung zur Strafbarkeit der Vergewaltigung im Gesetzgebungsverfahren aus dem Gesetzesentwurf gestrichen hat, ist sie dennoch zu begrüßen. Eine besondere Stärke sind die umfassenden Regelungen zur digitalen Gewalt. So sieht die Richtlinie etwa die Strafbarkeit von Cyberstalking und Cyber Harassment vor, die auch im deutschen Recht noch nicht vollumfassend geregelt ist. Hier ist nun der deutsche Gesetzgeber am Zug, die Vorgaben zügig umzusetzen.
Die Bedeutung der Richtlinie zeigt sich aber gerade nicht nur im repressiven Bereich, sondern darin, dass sie einheitliche europaweite Schutzstandards vorschreibt. So sieht sie etwa vor, dass Schutzunterkünfte „in ausreichender Zahl bereitgestellt und […] leicht zugänglich“ sein müssen. Diese Unterkünfte sollen den besonderen Bedürfnissen der Frauen und ihrer Kinder Rechnung tragen, vgl. Art. 30 Abs. 2 Gewaltschutzrichtlinie.
Mit dem jetzt öffentlich gewordenen Entwurf eines Gewalthilfegesetzes könnte Deutschland bereits kurz nach Inkrafttreten der Richtlinie einen entscheidenden Schritt zur Umsetzung tätigen und zugleich eine jahrelange Forderung der Frauenhausverbände durchsetzen: Der Entwurf sieht einen einzelfallunabhängigen Rechtsanspruch auf einen Platz in einer Schutzunterkunft vor und stellt damit die Ausbau- und die Finanzierungsfrage von Frauenhäusern in den Mittelpunkt des Gewalthilfegesetzes – ohne diese jedoch bisher final zu beantworten. So ist das Gewalthilfegesetz ein unerlässlicher Schritt für eine verbesserte Versorgungslage in Deutschland, weist aber bezüglich der großzügigen Fristenregelungen und der unklaren Finanzierungslage noch Defizite auf.
Bedarfsgerechte Schutzangebote
Der vorgelegte Entwurf orientiert sich an den Säulen, die bereits die Istanbul-Konvention etabliert hat: Intervention, Folgen mildern, Prävention, vgl. § 1 Abs. 1 GewHG-E. Lediglich den repressiven Bereich lässt der Entwurf außer Acht. Wesentlicher Regelungsgehalt ist, neben der Täterarbeit und Vernetzung von Beratungsstrukturen, die Bereitstellung ausreichender und bedarfsgerechter Schutzangebote. Dies soll insbesondere durch die erstmalige Aufnahme eines Rechtsanspruchs auf einen Platz in einer Schutzunterkunft sichergestellt werden, § 3 Abs. 1 GewHG-E. Das Gewalthilfegesetz könnte damit die Vorgaben der Istanbul-Konvention und der Gewaltschutzrichtlinie umsetzen. Das ist – zumindest bezüglich des Istanbul-Konvention – auch längst überfällig.
Auch wenn die neue EU-Richtlinie keinen Rechtsanspruch vorsieht, so schreibt sie dennoch die ausreichende Bereitstellung von Schutzunterkünften vor, Art. 30 Abs. 2 Gewaltschutzrichtlinie. Bei der Frage, was unter ausreichend zu verstehen ist, bezieht sich Erwägungsgrund 67 der Richtlinie auf den Tätigkeitsbericht der Task Force des Europarates zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Diese sieht einen Familienplatz je 10.000 Einwohner vor. Danach bräuchte es in Deutschland 21.000 Plätze. Allerdings weicht die Richtlinie diese Vorgaben, auf die sich auch die Istanbul-Konvention bezieht (Rn. 135), wieder auf, indem sie sich darauf beruft, dass die Anzahl der Plätze in Schutzunterkünften „von einer realistischen Schätzung des tatsächlichen Bedarfs abhängen“ sollten.
Von einer Quote von 21.000 Plätzen ist Deutschland weit entfernt: Derzeit stehen bundesweit nur circa 7.000 Plätze zur Verfügung. Unabhängig davon, ob also der „tatsächliche Bedarf“, an dem sich sowohl die Richtlinie als auch § 5 GewHG-E orientieren, geringer ist, als die Vorgabe der Istanbul- Konvention, bedarf es einer massiven Ausbauinitiative, um den vorgesehenen Rechtsanspruch erfüllen zu können. Ein solcher rechtlicher Anspruch, wie ihn der deutsche Gesetzesentwurf vorsieht, kann Bewegung in den Ausbau bringen. Dies ist aber keinesfalls ein Automatismus, wie der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz zeigt. Anders als in Fällen fehlender Kita-Plätze, dürfte bei fehlenden Plätzen in Schutzunterkünften der Rechtsweg in akuten Notsituationen kein aussichtsreicher Ausweg sein.
Eine Frage des Geldes
Die Effektivität des Rechtanspruchs dürfte erheblich mit der Finanzierungsfrage zusammenhängen. Offen bleibt im Entwurf noch, inwieweit sich der Bund dauerhaft an der Finanzierung von Schutzunterkünften beteiligen wird. Derzeit werden Schutzunterkünfte mehrheitlich von Ländern und Kommunen finanziert. Das GewHG könnte nun die lang ersehnte Kehrtwende in der Finanzierung von Schutzunterkünften bedeuten.
Der Gesetzesentwurf weist in der Gesetzesbegründung darauf hin, dass mit einem Rechtsanspruch auch die Verpflichtung einhergeht, „eine entsprechende Infrastruktur zu organisieren und verlässlich zu finanzieren.“ Es wird deutlich, dass nun zumindest seitens der Länder mehr Geld in das Versorgungssystem fließen muss.
Die Beteiligung des Bundes an den Kosten ist wohl zu erwarten: Eine solche wurde bereits im Dezember 2023 angekündigt und dürfte für eine Zustimmung im Bundesrat (vgl. Art. 104a Abs. 4 GG) auch unerlässlich sein. Um den Rechtanspruch tatsächlich erfüllen zu können, ist zudem eine verlässliche und dauerhafte Beteiligung des Bundes an der Finanzierung, die nicht nur projektbezogen erfolgt, unbedingt erforderlich.Eine Mischfinanzierung zwischen Bund und Ländern wäre auch zu begrüßen, damit die Länder sich in Zukunft nicht vollständig oder größtenteils aus der Finanzierung zurückziehen können und damit die Schutzsysteme vor Ort zum Einbruch bringen.
Ausbau erst in weiter Zukunft?
Wie viel Geld für den bedarfsgerechten Ausbau erforderlich ist, dürfte wiederum vom gemeldeten Bedarf durch die Länder abhängen, vgl. § 8 GewHG-E. Hier liegt der wesentliche Schwachpunkt des Entwurfs. Die Fristenregelungen für die Vorlage der Bedarfsanalyse und auch für das Inkrafttreten des Rechtsanspruchs sind mehr als großzügig und lassen befürchten, dass der Ausbau von Schutzunterkünften erst einmal stagnieren wird.
Einen ersten Bericht müssen die Länder nach dem vorliegenden Entwurf zudem erst zum 30.06.2029 vorlegen, der Rechtsanspruch tritt dann aber bereits ab dem 1.1.2030 in Kraft. Es ist fraglich, ob dieser Anspruch dann auch nur ansatzweise erfüllt werden kann. Eine denkbare Lösung wäre, die Frist zur Vorlage des Berichtes zu verkürzen und zugleich das Inkrafttreten des Rechtsanspruchs erheblich vorzuziehen. Zuletzt hat eine correctiv-Recherche aufgezeigt, wie hoch die Auslastung der bestehenden Schutzunterkünfte tatsächlich ist. Die Recherche stützt sich dabei auf die Zahlen des Auslastungs-Monitors der Seite https://www.frauenhaus-suche.de. Diese Daten könnten zumindest einen Anhaltspunkt für den tatsächlichen Bedarf geben.
Selbst wenn man an der vorgesehenen Fristenregelung festhält, sollte bis zur Vorlage der Bedarfsanalyse die Bedarfsplanung der Istanbul-Konvention zugrunde gelegt werden, um einen Ausbaustopp bis zur ersten Berichtsvorlage zu verhindern. Offen lässt der Entwurf außerdem, wie damit umgegangen wird, wenn die Länder keine Bedarfsanalyse vorlegen.
Auch besteht zumindest Unsicherheit darüber, wann die Mittel des Bundes zur Erfüllung des Rechtsanspruchs zur Verfügung gestellt werden. Bereits jetzt steht fest, dass die Länder unterversorgt sind und ein Ausbau unumgänglich ist.
Finanzierung endlich einzelfallunabhängig
Zu begrüßen ist wiederum die im Gesetzentwurf vorgesehene einzelfallunabhängige Finanzierung, die ebenfalls über die Vorgaben der Richtlinie hinausgeht. Zurzeit erfolgt die Finanzierung des Aufenthaltes in der Schutzunterkunft noch einzelfallabhängig, d.h. dass einige Betroffene selbst für die Kosten ihres Aufenthaltes aufkommen müssen. Nur für den Fall, dass Betroffenen Sozialleistungen beziehen, werden die Kosten übernommen, vgl. u.a. § 36a SGB II. Gerade Studierende oder auch Rentner:innen fallen dabei durch das Raster. Das führt dazu, dass jede vierte Frau ihren Aufenthalt in der Schutzunterkunft voll oder teilweise selbst finanzieren muss. Die Kostentragungspflicht kann sie davon abhalten, sich entsprechende Hilfe zu suchen. Hier schafft die einzelfallunabhängige Finanzierung Abhilfe, indem nicht mehr namentlich abgerechnet werden muss. Das ermöglicht darüber hinaus auch eine anonyme Beratung. Eine solche Regelung wird auch den Vorgaben der Gewaltschutzrichtlinie gerecht, die fordert, dass der Zugang zu Schutzunterkünften nicht behindert werden soll (Erwägungsgrund 67).
Ein Thema ist noch nicht vom Tisch
Doch bei allem Elan bei der Umsetzung der Gewaltschutzrichtlinie, darf nicht aus dem Blick geraten, dass derzeit die Istanbul-Konvention in Deutschland immer noch nicht vollumfänglich umgesetzt ist. Das Gewalthilfegesetz bietet sich an, diesen Missstand zu beseitigen. Nachdem die Istanbul-Konvention nun vollständig ratifiziert ist, muss sie vollständig umgesetzt werden. Das bedeutet, dass § 31 Abs. 2 AufenthG reformiert werden muss, um den Anforderungen des Art. 59 Abs. 2 und 3 Istanbul-Konvention gerecht zu werden. Diese sehen vor, dass Ausweisungsverfahren ausgesetzt werden müssen, um Frauen, die von Gewalt oder häuslicher Gewalt betroffen sind, mit abgeleitetem Aufenthaltsrecht die Möglichkeit zu geben, einen eigenständigen Aufenthaltstitel zu beantragen.
Aufgrund der in § 31 Abs. 2 AufenthG vorgesehenen Regelbestandszeit der Ehe von drei Jahren im Bundesgebiet sind Frauen häufig in gewaltbelasteten Beziehungen gefangen, da sie durch die Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft, etwa durch den Umzug in ein Frauenhaus, ihr Aufenthaltsrecht in Deutschland gefährden. Auch die in der Norm bereits bestehende Härtefallklausel weist zu viele Schutzlücken auf.
Vorschläge für alternative Regelungssysteme liegen auf dem Tisch. Der Entwurf zum Gewalthilfegesetz stellt gerade den intersektionalen Ansatz in den Mittelpunkt (vgl. Begründung zu § 1 GewHG). Diesem kann er aber nur gerecht werden, wenn zugleich die Situation für gewaltbetroffene Frauen ohne eigenen Aufenthaltstitel gestärkt wird und diese Zugang zu Schutz und Beratung erhalten, ohne eine Abschiebung befürchten zu müssen.