25 July 2018

Freiheitsentziehung in der Freiheitsentziehung? Die BVerfGE-Entscheidung zur Fixierung in der öffentlich-rechtlichen Unterbringung

Kann es eine Freiheitsentziehung in der Freiheitsentziehung geben? Das Kernproblem, das der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Fixierung von Patienten in der öffentlich-rechtlichen Unterbringung vom 24. Juli 2018 zugrunde lag, klingt nach einem Leckerbissen für Rechtsdogmatiker. Für die Betroffenen dürfte es sich allerdings eher nach einem Albtraum anhören.

In den zu entscheidenden Fällen ging um psychische kranke Personen, die bereits öffentlich-rechtlich untergebracht waren, denen also ohnehin schon die Freiheit entzogen wurde. Zusätzlich wurden diese Betroffenen mittels 5-Punkt- oder 7-Punkt-Fixierung über gut 8 Stunden an ihr Bett gefesselt. Die Fälle spielten in Baden-Württemberg und Bayern. In Baden-Württemberg hielten die Fachgerichte die Fixierung für rechtmäßig, gestützt auf § 25 des dortigen Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetzes, der die Fixierung als „besondere Sicherungsmaßnahme“ immerhin ausdrücklich regelt und die ärztliche Anordnung vorsieht. In Bayern gilt derzeit ein noch deutlich rustikaleres Unterbringungsgesetz (die Reform zu einem Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz befindet sich gerade im Gesetzgebungsverfahren; sie wird schon seit langem diskutiert und hat erst unlängst politische Wellen geschlagen). Es enthält überhaupt keine explizite Rechtsgrundlage für Fixierungen. Derartige Maßnahmen werden schlicht auf die allgemeine Befugnis zur Anwendung unmittelbaren Zwangs aus Art. 19 des Unterbringungsgesetzes gestützt.

Gibt es Freiheitsentziehung in der Freiheitsentziehung?

Das Bundesverfassungsgericht hält sich mit dieser Frage gar nicht lange auf. Die Freiheitsbeschränkung ist unstreitig, das Recht auf körperliche Bewegungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG kann nicht von der Einsichtsfähigkeit der Betroffenen abhängen. Für die Einstufung der Fixierungen als Freiheitsentziehung braucht das Bundesverfassungsgericht nur fünf (knappe) Randnummern (67-71). Den Maßstab für die Abgrenzung von (bloßer) Freiheitsbeschränkung und Freiheitsentziehung legt es recht apodiktisch fest: Entscheidend sei die Intensität einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme, die im Übrigen nicht nur von kurzer Dauer sein dürfe. Nachdem das Gericht etwas hemdsärmelig – und ohne weitere Begründung – bestimmt, dass „die Dauer von ungefähr einer halben Stunde“ die zeitliche Schwelle für eine Freiheitsentziehung ist, fällt die Subsumtion leicht: Es ist kaum eine intensivere Form von Zwangsanwendung denkbar als die vorliegenden Arten der Fesselung, die praktisch zur vollständigen Bewegungsunfähigkeit der Betroffenen führen. Aufgrund ihrer Intensität seien jedenfalls 5-Punkt- und 7-Punkt-Fixierung eigenständige zusätzliche Freiheitsentziehungen. Sie könnten deshalb nicht mit bloßen Modalitäten der Freiheitsentziehung, wie etwa einem Arrest während der Strafhaft, gleichgesetzt werden, die in der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gerade nicht als (weitere) Freiheitsentziehung eingestuft worden waren.

Landesrechtliche Grundlagen verfassungsrechtlich mangelhaft

Damit ist die entscheidende Weiche für das Urteil gestellt und das Ergebnis klar: Die den Fällen zugrunde liegenden Normen des baden-württembergischen und bayerischen Landesrechts sind verfassungsrechtlich nicht haltbar.

Materiell-rechtlich sind 5-Punkt- und 7-Punkt-Fixierungen als Eingriff in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG zu qualifizieren. Die Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sind angesichts der Schwere des Eingriffs hoch, dennoch sind Konstellationen denkbar, in denen die Fesselung des Betroffenen zum Fremd- oder Eigenschutz zwingend notwendig ist. Auch die völkerrechtlichen Vorgaben (EMRK, UN-Behindertenrechtskonvention) stehen dieser Einschätzung nicht entgegen.

In formeller Hinsicht müssen die Rechtsgrundlagen den besonderen Bestimmtheitsgrundsatz aus Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG erfüllen, denn jede Freiheitsentziehung ist zugleich eine Freiheitsbeschränkung. Die Maßnahme aus Bayern scheitert schon an dieser Hürde, weil die allgemeine Zwangsbefugnis aus Art. 19 des Unterbringungsgesetzes gar keine Regelung über Fixierungen enthält.

Offensichtlich ist, dass beide Rechtsgrundlagen nicht die Vorgabe des Richtervorbehalt aus Art. 104 Abs. 2 GG erfüllen. Das Bundesverfassungsgericht betont, dass sich die Gesetzgeber nicht auf den Standpunkt zurückziehen können, der Richtervorbehalt des Grundgesetzes sei unmittelbar anwendbar. Art. 104 Abs. 2 GG verpflichtet vielmehr zur einfachgesetzlichen Ausgestaltung, die hier fehlt. Zwar wird im Fall der Fixierung in der Psychiatrie das verfassungsrechtliche Regelverfahren der vorherigen richterlichen Entscheidung kaum einzuhalten sein, weil praktisch immer Gefahr im Verzug ist. Jedenfalls aber die unverzügliche nachträgliche richterliche Entscheidung, solange die Fixierung noch nicht beendet ist, muss sichergestellt sein. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Einholung einer richterlichen Entscheidung nur dann nicht erforderlich, wenn schon abzusehen ist, dass das gerichtliche Verfahren bis zur Erledigung der Freiheitsentziehung nicht durchgeführt werden kann. Um zu verhindern, dass der Richtervorbehalt deshalb in Situationen wie der Fixierung, die schon aus Gründen der Verhältnismäßigkeit von kurzer Dauer sein müssen, ins Leere läuft, ist eine weitere Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts essentiell: Das Gericht bekräftigt seine Rechtsprechung zur staatlichen Pflicht, einen Bereitschaftsdienst zur Tageszeit einzurichten. Um in dieser Hinsicht keine Fragen mehr offen zu lassen, nimmt es dieses Diktum in die Leitsätze auf, einschließlich des genauen Zeitraums für den Bereitschaftsdienst („von 6:00 Uhr bis 21:00 Uhr“).

Die sich aus dem Wortlaut des Grundgesetzes ergebenden Verfahrensanforderungen genügen dem Bundesverfassungsgericht aber nicht. Es überträgt die in seiner Rechtsprechung zur medizinischen Zwangsbehandlung detailgenau ausgearbeiteten Verfahrensvorgaben auf die Fixierungsfälle. Auch hier befänden sich die Betroffenen in einer „Situation außerordentlicher Abhängigkeit“. Aus dem Freiheitsgrundrecht in Verbindung mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entwickelt es deshalb ganz konkrete Standards für das Verfahren: Die Anordnung muss durch einen Arzt erfolgen, während der Fixierung muss eine Eins-zu-eins-Betreuung gewährleistet sein und es bestehen umfangreiche Dokumentationspflichten. Zudem – und nur daran scheitert § 25 des Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetzes abgesehen vom fehlenden Richtervorbehalt – muss das Gesetz festlegen, dass der Betroffene nach Abschluss der Maßnahme auf die Möglichkeit nachträglichen Rechtsschutzes hingewiesen wird. Bei diesen engmaschigen Vorgaben, die alle frei aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hergeleitet werden, aber praktisch unumstößlich mit Verfassungsrang ausgestattet werden, fragt man sich schon, ob das Bundesverfassungsgericht nicht den Bogen überspannt.

Urteil überzeugt im Ergebnis

Das ändert aber nichts daran, dass die Entscheidung jedenfalls im Hinblick auf die Anforderungen an die Bestimmtheit der Rechtsgrundlage und den Richtervorbehalt im Ergebnis überzeugt: Die dem Urteil zugrunde liegenden Sachverhalte machen beklommen, die dort geschilderten Formen der Totalfixierung sind drastisch. Es scheint deshalb angemessen, durch den Richtervorbehalt eine neutrale Instanz einzubinden, da sich die Maßnahme ansonsten nur klinikintern abspielt. Es überrascht deshalb auch nicht, dass die Mehrheit der in der mündlichen Verhandlung angehörten Psychiater eine richterliche Mitwirkung an der Fixierungsanordnung positiv bewertet haben – um die Verantwortung für derart schwerwiegende Eingriffe nicht alleine tragen zu müssen. Für wie problematisch das Bundesverfassungsgericht die bisherige Situation ansieht, unterstreicht die relativ scharfe Frist von weniger als einem Jahr (30. Juni 2019), die es den betroffenen Gesetzgebern zur Umsetzung der Vorgaben einräumt. Selbstverständlich besteht darüber hinaus Handlungsbedarf auch für die Länder, in denen ähnliche Regelungen über die Fixierung ohne Richtervorbehalt gelten.

Aber: Es gibt keine Freiheitsentziehung in der Freiheitsentziehung

Man könnte es also dabei belassen, denn im Ergebnis ist an dem Urteil (fast) nichts auszusetzen. Trotzdem lohnt es sich, den Knackpunkt der Entscheidung noch einmal aufzugreifen: Gibt es eine Freiheitsentziehung in der Freiheitsentziehung? Der Schlüssel für die Beantwortung dieser Frage liegt im Verständnis von Freiheitsentziehung. Und anders als man bei unbefangener Lektüre der Entscheidung meinen möchte, ist der Begriff der Freiheitsentziehung deutlich umstrittener und ungeklärter, als es das Bundesverfassungsgericht suggeriert. Ein lediglich versteckter Hinweis darauf findet sich im einleitenden Satz der Randnummer 67 des Urteils: „Der Schutzbereich von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG umfasst sowohl freiheitsbeschränkende (Art. 104 Abs. 1 GG) als auch freiheitsentziehende Maßnahmen (Art. 104 Abs. 2 GG), die das Bundesverfassungsgericht nach der Intensität des Eingriffs voneinander abgrenzt.“

Einigkeit über den Begriff der Freiheitsentziehung besteht jedoch nur in dem Ausgangspunkt, dass es sich dabei um eine irgendwie gesteigerte Form der Freiheitsbeschränkung handelt. Eine Freiheitsbeschränkung setzt voraus, dass die körperliche Bewegungsfreiheit des Betroffenen in alle Richtungen aufgehoben wird. Was ist aber das zusätzliche Element, das die Freiheitsbeschränkung zur Freiheitsentziehung macht?

Zum Teil wird auf den Zweck der Freiheitsbeschränkung abgestellt. Freiheitsentziehung setzt demnach voraus, dass das Festhalten in erster Linie dem Zweck dient, die Freiheit zu beschränken und nicht dazu, eine andere Pflicht durchzusetzen. Misst man die Fälle der Fixierung an diesem Maßstab, dann stellen sie wohl keine Freiheitsentziehung dar. Denn das Festhalten steht hier nicht im Vordergrund, sondern die Verhinderung der Fremd- oder Eigenschädigung. Das Problem dieser Ansicht ist allerdings, dass bei konsequenter Anwendung praktisch kaum noch Fälle der Freiheitsentziehung übrig blieben, denn jede Freiheitsbeschränkung verfolgt weitere Zwecke. Das gilt selbst für die Freiheitsstrafe, die auch aus Gründen der Spezial- und Generalprävention verhängt wird.

Andere betrachten die zeitliche Dauer als ausschlaggebend: Überschreite das Festhalten eine gewisse zeitliche Schwelle, so handle es sich stets um eine Freiheitsentziehung. Dieses Kriterium ist aber zu starr und deshalb ungeeignet. Nach dieser Maßgabe müssten auch längerdauernde Zwangsmaßnahmen wie die Schulpflicht als Freiheitsentziehung qualifiziert werden.

Eine weitere Strömung spiegelt sich schließlich in der Sichtweise des Bundesverfassungsgerichts: Neben einer Mindestdauer muss die Freiheitsbeschränkung eine bestimmte Intensität erreichen, um in die Freiheitsentziehung „umzuschlagen“. Auf den ersten Blick scheint diese Abgrenzung zu überzeugen, nicht zuletzt bestätigt durch die Sachverhalte der 5-Punkt- und 7-Punkt-Fixierung. Allerdings handelt es sich dabei um Extremfälle, die nicht geeignet sind, die Validität der Definition nachzuweisen. Das eigentliche Problem ist: Intensität ist ein maßstabloses Kriterium, das nicht zur Lösung von Grenzfällen geeignet ist. Das Bundesverfassungsgericht spricht das in seinem Urteil selbst an, wenn es die Fixierung von den Fällen des Arrests als Disziplinarmaßnahme im Rahmen der Strafhaft abgrenzt. Warum aber soll dieser Arrest keine Freiheitsentziehung sein? Ab welchem Grad an Intensität schlägt Freiheitsbeschränkung in Freiheitsentziehung um? Noch schwieriger handhabbar wird das Kriterium der Intensität, wenn man – wie das Bundesverfassungsgericht (Rn. 71) – diese aus der Perspektive der Betroffenen beurteilt. Der Arrest im Strafvollzug kann nach § 103 Abs. 1 Nr. 9 StVollzG bis zu vier Wochen angeordnet werden und wird nach § 104 Abs. 5 Satz 1 StVollzG in Einzelhaft vollzogen. Das wird sicherlich von einigen Strafgefangen als starke psychische Belastung empfunden. Wenn man ehrlich ist, dann deckt sich das Kriterium der Intensität mit der Sichtweise des EGMR zur Abgrenzung von Freiheitsentziehung und Freiheitsbeschränkung im Hinblick auf die EMRK: „some borderline cases are a matter of pure opinion“.

Mir scheint es hingegen überzeugend, die Definition der Freiheitsentziehung aus funktionaler Perspektive vorzunehmen: Die Einschaltung des Richters, die Folge der Klassifizierung einer Maßnahme als Freiheitsentziehung ist, bezweckt, willkürliches „Verschwindenlassen“ und „Wegsperren“ von Menschen durch die Behörden zu verhindern. Freiheitsentziehung ist demnach eine Freiheitsbeschränkung, durch die der Betroffene außerhalb der öffentlichen Sphäre festgehalten wird. Legt man diese Sichtweise zugrunde, dann kann es in der Freiheitsentziehung keine weitere Freiheitsentziehung geben. Der Schutzzweck des Richtervorbehalt aus Art. 104 Abs. 2 GG ist mit der Grundentscheidung über die Freiheitsentziehung bereits erfüllt.

Das heißt aber nicht, dass die Betroffenen so drastischer Maßnahmen wie der 5-Punkt- oder 7-Punkt-Fixierung verfahrensrechtlich schutzlos gestellt wären. Die Ablehnung der Einstufung als Freiheitsentziehung hindert nur, den Richtervorbehalt unmittelbar aus Art. 104 Abs. 2 GG zu entnehmen. Selbstverständlich verbliebe es bei der Freiheitsbeschränkung, für die der verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gilt. In Anknüpfung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur medizinischen Zwangsbehandlung ließe sich der Richtervorbehalt – oder zumindest das Einschalten einer neutralen, klinikexternen Stelle – auch daraus herleiten. Stuft man die Fixierung nicht als Freiheitsentziehung in der Freiheitsentziehung ein, so würde sich die Frage der „Intensität“ des Eingriffs also nicht völlig vermeiden lassen. Sie würde sich aber auf die Ebene der Verhältnismäßigkeitsprüfung verschieben, wo sie besser hinpasst.

Fazit

Damit zeigt sich: Am – begrüßenswerten – Ergebnis des Urteils des Bundesverfassungsgerichts würde diese alternative Vorgehensweise nicht viel ändern. Sie würde jedoch etwas mehr rechtsdogmatische Klarheit für den Begriff der Freiheitsentziehung schaffen und dem Gesetzgeber vielleicht einen größeren Spielraum bei der verfahrensrechtlichen Handhabung der Fälle der (vermeintlichen) „Freiheitsentziehung in der Freiheitsentziehung“ verschaffen.


SUGGESTED CITATION  Heidebach, Martin: Freiheitsentziehung in der Freiheitsentziehung? Die BVerfGE-Entscheidung zur Fixierung in der öffentlich-rechtlichen Unterbringung, VerfBlog, 2018/7/25, https://verfassungsblog.de/freiheitsentziehung-in-der-freiheitsentziehung-die-bverfge-entscheidung-zur-fixierung-in-der-oeffentlich-rechtlichen-unterbringung/, DOI: 10.17176/20180725-150517-0.

8 Comments

  1. Peter Camenzind Wed 25 Jul 2018 at 19:42 - Reply

    Wenn Hilfspersonen teils “notbetäuben/ notsedieren” o.ä, brauchen sie dafür jetzt nach der Rspr. des BVerfG stets allein legitimierende Eilrichterentscheidungen? Oder wo liegen zwingend entscheidende Unterschiede? Einsichtsfähigkeit soll ja nun nicht maßgeblich sein etc.

  2. Josef Franz Lindner Wed 25 Jul 2018 at 21:00