Frontex vor dem EuGH
Zur Revision in WS. u.a. v. Frontex und der Frage der haftungsrechtlichen Verantwortung im Zuge von operativen Rückführungsmaßnahmen
Der EuGH hatte in seinem viel kritisierten Urteil vom 6. September 2023 (T-600/21, WS u.a. v. Frontex) im Fall der rechtswidrigen Rückführung einer sechsköpfigen Familie den Zurechnungszusammenhang und damit die deliktische Haftung der EU-Agentur verneint. Dabei ging es nicht um die Rechtmäßigkeit der Rückführung als solche, sondern um die unterlassene oder jedenfalls mangelhafte Überprüfung seitens Frontex dahingehend, ob für die Familie überhaupt eine Rückkehrentscheidung vorlag. Aktuell sind EuGH und EGMR erneut mit einer Vielzahl an Fällen befasst, die operative Rückführungsmaßnahmen betreffen – auf diesem Blog etwa hier, hier und hier diskutiert.
Die nunmehr in der Revision in der Rechtssache WS u.a. v. Frontex ergangenen Schlussanträge der Generalanwältin Ćapeta machen deutlich, dass der EuGH wesentlichen Fragen in Bezug auf die Verantwortlichkeit von Frontex ausgewichen ist. Stattdessen stützt sich das Gericht darauf, dass zwischen der mangelhaften Überprüfung durch Frontex und dem von der Familie erlittenen Schaden kein ausreichender Zurechnungszusammenhang bestehe. Die berechtigte Kritik an dem Urteil betrifft auch die Annahme, dass ein rechtswidriges Verhalten, das dem Vollzugsstaat einer Rückführungsmaßnahme zugerechnet wird, nicht gleichzeitig auch Frontex zugerechnet werden könne. Dagegen spricht vor allem, dass andernfalls systematische Rechtsschutzlücken verbleiben, die im Widerspruch zu Art. 47 GRC stünden.
Die Rechtssache WS u.a. v. Frontex
Die Ausgangslage des Falls ist dabei weitgehend unstreitig. Die Beschwerdeführer – eine sechsköpfige syrisch-kurdische Familie – wurden im Oktober 2016 auf griechischem Territorium aufgegriffen. Sie wurden interniert, nach bekundeter Asylabsicht aber dennoch gemeinsam mit anderen Personen im Rahmen einer durch Frontex koordinierten Rückführungsoperation in die Türkei verbracht. Frontex argumentiert, sie habe ihre Prüfungspflicht erfüllt, da sie von den griechischen Behörden eine Namensliste erhielt, deren Ordnungsmäßigkeit sie mangels konkreter Hinweise auf Fehler nicht anzweifeln musste. Die Familie widerspricht dem und gibt an, die Liste sei fehlerhaft gewesen, da sie lediglich Personen ohne Asylantrag aufgelistet habe, jedoch nichts über eine endgültige Rückführungsentscheidung ausgesagt habe. Die Vorgänge wurden zunächst Gegenstand eines internen Beschwerdeverfahrens bei Frontex und führten sodann zu einer Klage nach Art. 268 i.V.m. Art. 340 Abs. 2 AEUV. Die Antragsteller machten unter anderem geltend, dass Frontex pflichtwidrig unterlassen habe, zu prüfen, ob eine die Familie betreffende Rückkehrentscheidung existiere, und so seine aus der Frontex-Verordnung (nunmehr VO (EU) 2019/1896) folgenden Grundrechtswahrungspflichten verletzt habe – insbesondere aus (nunmehr) Art. 80 Abs. 1 und den Standard Operating Procedures für Rückführungen. Auch eine Verletzung der Art. 1, 4, 18, 19, 24, 41 und 47 GRC, flankiert durch Art. 3 EMRK (non-refoulement), sei Frontex zurechenbar gewesen.
Der EuGH wies die Klage mit mindestens bemerkenswerter Vorschnelligkeit auf der Grundlage ab, dass zwischen dem Verhalten Frontex’ und dem geltend gemachten Schaden bereits kein hinreichender Zurechnungszusammenhang bestehe (Rn. 56–71). Die Frage, ob Frontex ihrer Überprüfungspflicht nachgekommen ist, ließ das Gericht offen. Auch andere wesentliche Punkte blieben unbeantwortet: Wie genau sind die positiven Verpflichtungen der Agentur bei der Koordinierung gemeinsamer Rückführungsaktionen in der Praxis umzusetzen? Stellt die Unterlassung oder mangelhafte Ausführung von Überprüfungspflichten eine rechtswidrige Handlung dar – und haftet Frontex dafür?
Zur Begründung verwies das Gericht lediglich darauf, dass weder die Entscheidung über die Rückführung als solche noch die Prüfung eines etwaigen Schutzstatus in der Kompetenz von Frontex, sondern bei den Asylbehörden Griechenlands gelegen habe. Frontex habe den Vollzug lediglich operativ unterstützt. Das Gericht suggerierte so, dass eine gesamtschuldnerische Haftung von EU und Vollzugsstaat nicht möglich sei. Auch das Verhalten der Kläger – insbesondere ihre Weigerung, den türkischen Aufenthaltsauflagen zu folgen – habe den Kausalverlauf unterbrochen.
Die Schlussanträge kritisieren zu Recht sowohl die offengelassenen Fragen als auch die dogmatische Verkürzung des Zurechnungsmaßstabs als zentrale Rechtsfehler des ergangenen Urteils. Frontex’ Pflicht, die Achtung der Grundrechte bei Rückführungsoperationen sicherzustellen, beinhalte eine eigenständige Verantwortung, die nicht durch die formale Kompetenzverteilung zwischen Agentur und Mitgliedstaat relativiert werden dürfe. Die Frontex-Verordnung selbst sieht in Art. 80 Abs. 1 vor, dass Frontex die Einhaltung der Grundrechte unter Einhaltung der einschlägigen Rechtsvorschriften der Union in der Durchführung ihrer Aufgaben gewährleistet – dazu gehöre auch die Prüfung, ob eine Rückkehrentscheidung im Einzelfall vorliegt. Generalanwältin Ćapeta betont daher, dass Frontex eine operative Mitverantwortung trage und somit zurechenbares Verhalten setze (Rn. 87–91).
Unionsrechtliche Zurechnungslehre auf dem Prüfstand
Die unionsrechtliche Haftung aus Art. 340 Abs. 2 AEUV setzt nach ständiger Rechtsprechung drei kumulative Voraussetzungen voraus (vgl. etwa EuGH, Urt. v. 12.5.2016, T-468/14 – Holistic Innovation Institute/Kommission, Rn. 41, 45, sowie EuGH, Urt. v. 17.2.2017, T-726/14 – Novar/EUIPO, Rn. 25–26). Erstens einen rechtswidrigen Akt oder ein pflichtwidriges Unterlassen, zweitens den Eintritt eines tatsächlichen Schadens sowie drittens einen hinreichend direkten Kausalzusammenhang zwischen Handlung bzw. Unterlassung und Schaden. Während die ersten beiden Elemente im vorliegenden Verfahren weder vom EuGH abschließend geprüft noch in der Revision wesentlich bestritten werden, stützt sich der EuGH einzig auf die Zurechnung. Nur Verhalten, das einen direkten Zurechnungszusammenhang herstellt, könne haftungsbegründend sein – und damit nicht das Verhalten von Frontex, da es nicht originär über das Asylgesuch entscheide. Wie die Generalanwältin betont, läuft diese Interpretation aber auf eine Leerstelle des Rechtsschutzes hinaus. Die EU könne sich nach dieser Zurechnungslogik regelmäßig auf die formale Nichtzuständigkeit seitens Frontex zurückziehen, obwohl seine operative Mitwirkung essenzieller Bestandteil des faktischen Rückführungsgeschehens ist. Sollte auch der Vollzugsstaat nicht haftbar gemacht werden können, gefährde dies insgesamt den Schutz der Grundrechte.
Der vom EuGH angedeutete Ansatz könnte damit gegen Art. 4 und 47 GRC verstoßen. Denn Art. 47 verlangt nach der Rechtsprechung des EGMR – etwa in M.S.S. v. Belgium and Greece oder Tarakhel v. Switzerland – von jeder mitwirkenden Instanz eine eigenständige Kontrolle der Rückführungsfolgen. Diese Pflicht entfällt nicht deshalb, weil Frontex lediglich operativ unterstützend tätig ist und nicht die Entscheidung über die Rückführung als solche trifft. Als Maßstab sollte vielmehr entscheidend sein, ob das pflichtwidrige Verhalten eine reale Möglichkeit der Verhinderung des Grundrechtsverstoßes geboten hätte. Hätte Frontex die ihr vorgelegte Liste hier eingehender überprüft, wäre die Familie nicht rücküberstellt worden. Dass Frontex damit maßgebliche operative Mitverantwortung trägt, wird auch anhand Art. 46 Abs. 4 VO (EU) 2019/1896 deutlich, der Frontex bei strukturellen Grundrechtsverstößen zur Aussetzung oder Beendigung von Operationen verpflichtet. Nach Art. 80 Abs. 1 VO (EU) 2019/1896 obliegt es ferner Frontex, „den Schutz der Grundrechte unter Einhaltung der einschlägigen Rechtsvorschriften der Union, insbesondere der Charta, und der einschlägigen Bestimmungen des Völkerrechts […]“ zu gewährleisten. Um das sicherzustellen, setzt die Vorschrift immanent die Prüfung des Bestehens einer Rückführungsentscheidung voraus.
Diese Pflichten werden durch das Zusammenspiel mit Art. 4 und Art. 47 GRC sowie Art. 3 EMRK weiter ausgefüllt. Sowohl nach Art. 4 der Charta (EuGH, N.S., C-411/10, Rn. 94) als auch nach der Rechtsprechung des EGMR (Hirsi Jamaa, Nr. 27765/09; Tarakhel, Nr. 29217/12) ist jede Beteiligung staatlicher oder unionsrechtlicher Akteure an Rückführungsmaßnahmen in Zielstaaten, in denen systemische Mängel des Asylverfahrens oder menschenrechtswidrige Haftbedingungen bestehen, mit einer eigenständigen Prüfungspflicht verbunden. Diese Prüfungspflicht besteht auch dann, wenn an Abläufen lediglich mitgewirkt wird, die Menschenrechtsverletzungen ermöglichen oder verschärfen, und entfällt nicht allein dadurch, dass der Vollzugsstaat formal über die Begründetheit der Rückführung entscheidet. Viel spricht daher dafür, Art. 46 Abs. 4 sowie Art. 80 Abs. 1 VO (EU) 2019/1896 nicht als bloße Organisationspflichten, sondern als individuelle Schutzpflichten gegenüber den Betroffenen zu verstehen, deren Missachtung auch haftungsrechtlich zurechenbares Verhalten setzt.
Lücken bei formalem Haftungsmaßstab
Das Ausgangsurteil des EuGH legt einen formalen Zurechnungsmaßstab an, der sich ausschließlich an Zuständigkeitsgrenzen zwischen Mitgliedstaaten und Agenturen orientiert. Diese Betrachtungsweise blendet jedoch aus, dass Frontex Rückführungen aktiv koordiniert und ausführt. Die Agentur organisiert Flüge, weist Personal zu, entwickelt operative Pläne, stellt Uniformierung und Protokolle bereit und ist in der Lage, Informationen über systemische Mängel zu erfassen und weiterzugeben. Diese Funktionen zeigen, dass Frontex nicht lediglich administrativ handelt, sondern eigenständigen Einfluss auf die Durchführung der Maßnahmen besitzt und damit der EU zurechenbares Verhalten setzt.
Die Schlussanträge greifen diese Argumentation auf, indem sie das Unterlassen Frontex’ nicht als rechtlich irrelevante Passivität, sondern als aktives Unrecht im Wege pflichtwidriger Untätigkeit qualifizieren. Dabei machen sie deutlich, dass der haftungsrechtliche Kausalitätsmaßstab nicht bei conditio sine qua non stehenbleiben dürfe. Entscheidend sei, ob die Agentur eine rechtlich gebotene Handlung unterlassen hat, die objektiv geeignet gewesen wäre, den Schaden zu verhindern (Rn. 102f.).
Dass sich die Betroffenen – infolge fehlender Schutzperspektive in der Türkei – zur Weiterflucht nach Irak entschieden, unterbricht den Zurechnungszusammenhang entgegen dem EuGH nicht. Die Weiterflucht ist eine aus ihrer Perspektive naheliegende Reaktion auf eine unionsrechtlich defizitäre Maßnahme. Die Zurechnung entfällt unionsrechtlich nicht schon dann, wenn der Betroffene sich im Anschluss in einer neuen Lage befindet, sondern nur dann, wenn der Schaden ausschließlich auf eigenes schuldhaftes Verhalten zurückzuführen ist.
Insgesamt sollte eine funktionale Kontrolle der Mitverantwortung erfolgen, die auch gesamtschuldnerische deliktische Haftung ermöglicht. Dies entspricht – statt einer bloß formalistischen Betrachtung der Kompetenzen – auch dem Grundverständnis effektiven Rechtsschutzes. Die Anforderungen an die Darlegung des Kausalzusammenhangs dürfen nicht derart überspannt werden, dass der unionsrechtliche Schutz regelmäßig ins Leere läuft. Eine solche Konstruktion würde im Ergebnis damit Art. 47 GRC und Art. 13 EMRK unterminieren.
Fragmentierte Verantwortung statt effektiver Rechtsschutz
Der Fall verdeutlicht exemplarisch die strukturellen Defizite innerhalb des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzsystems an den Außengrenzen. Eine von Frontex koordinierte und von einem Mitgliedstaat durchgeführte Rückführung wird arbeitsteilig so vollzogen, dass Rechtsverantwortung diffus verteilt ist. Die Kombination aus supranationalem Mandat und nationaler Durchführung führt dazu, dass sowohl Frontex als auch der Mitgliedstaat auf je unterschiedliche Weise am Eingriffsgeschehen beteiligt sind. Es entstehen systemische Schutzlücken, wenn auch der Vollzugsstaat nicht haftet, sei es aus faktischen oder staatshaftungsrechtlichen Gründen.
Diese Lücke hat der EuGH im Ausgangsurteil durch eine zu strikte Zurechnungsdogmatik verfestigt. Effektiver Grundrechtsschutz darf nicht an der institutionellen Fragmentierung scheitern. Die Grundrechtecharta differenziert nicht nach primärer oder sekundärer Verantwortlichkeit, sondern erstreckt sich auf sämtliche Akteure, die funktional zur Durchführung unionsrechtlicher Aufgaben beitragen.
Insbesondere muss die Garantie eines wirksamen Rechtsbehelfs gegenüber allen hoheitlichen Eingriffen in unionsrechtlich geschützte Rechtspositionen gelten. Diese umfasst auch Konstellationen mittelbarer oder arbeitsteiliger Verantwortung. Der EuGH hat in seiner bisherigen Rechtsprechung – etwa in den Verfahren N.S. und M.E. (C-411/10 und C-493/10) – selbst betont, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens unter Mitgliedstaaten nicht zu einer pauschalen Verantwortungsverschiebung führen dürfe.
Die zentrale Frage, welchen Pflichten Frontex im Zuge von gemeinsamen Rückführungsaktionen unterliegt, hat sich der EuGH bisher durch eine vorangeschaltete Zurechnungsdogmatik bedauernswerterweise entzogen. Dabei würde eine klarstellende Korrektur im Zuge der Revision nicht nur die Funktionalität des effektiven Grundrechtsschutzes sichern, sondern auch die Glaubwürdigkeit des Unionsrechts stärken. Das Rechtsschutzsystem nach Art. 340 Abs. 2 AEUV sollte nicht zu einem System organisierter Verantwortungslosigkeit werden, sondern die institutionelle Aufgabenverteilung einpreisen. Eine Korrektur von WS u.a. v. Frontex ist deshalb unionsverfassungsrechtlich dringend geboten. Andernfalls wird das Vertrauen in den institutionellen Grundrechtsschutz der Union untergraben – und damit ein zentrales Versprechen der europäischen Rechtsgemeinschaft in Frage gestellt.