18 November 2022

Geheimdienste im toten Winkel

Ein Urteil des EGMR zeigt Mängel im deutschen Informationszugangsrecht auf

Die Geschichte der bundesdeutschen Geheimdienste ist eine Geschichte der Skandale: Von den Nazi-Verstrickungen des Bundesnachrichtendienstes und der Bespitzelung der SPD im Auftrag Adenauers über die jahrelange rechtswidrige Überwachung von Bürgerrechtlern und Journalisten bis hin zu dem Versagen des sogenannten Verfassungsschutzes bei der Bekämpfung des Rechtsterrorismus und der globalen Massentelekommunikationsüberwachung durch den BND. In vielen Affären sind noch zahlreiche Fragen offen, was teils wilde Spekulationen und Mythen hervorruft. Umso wichtiger ist die Aufarbeitung durch Historiker*innen und Journalist*innen, die jedoch beim Zugang zu Originalakten immer wieder an die Grenzen des deutschen Informationszugangsrechts stoßen.

Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 8. November 2022 verdeutlicht den Reformbedarf. Der Gerichtshof hat zwar mit einer Mehrheit von 4 zu 3 Stimmen die Individualbeschwerde eines Journalisten abgewiesen, weil dieser sein Interesse an einer Akteneinsicht nicht hinreichend dargelegt habe. In der abweichenden Meinung von drei Richtern wird jedoch auf strukturelle Probleme des deutschen Informationszugangsrechts hingewiesen: Es ist mit den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention kaum in Einklang zu bringen.

Bild-Reporter will BND-Akten zu Barschel-Affäre

In dem zugrundeliegenden Fall geht es um Akten des Bundesnachrichtendienstes zu Uwe Barschel. Barschel (CDU) war in den 1980er Jahren Ministerpräsident Schleswig-Holsteins. Nach Vorwürfen, seinen politischen Konkurrenten Björn Engholm (SPD) ausspioniert zu haben, trat er zurück und wurde wenige Tage später in einem Genfer Hotel tot aufgefunden. Sowohl um Barschels Tod als auch um seine mögliche Zusammenarbeit mit einem osteuropäischen Geheimdienst ranken sich verschiedene Gerüchte.

Bild-Reporter Hans-Wilhelm Saure beantragte daher Akteneinsicht beim Bundesnachrichtendienst. Der Antrag wurde abgelehnt, Saure erhielt nur eine oberflächliche Auskunft über den wesentlichen Inhalt der vorhandenen Unterlagen, die laut Auslandsgeheimdienst etwa 5100 Seiten umfassen. Auch seine Klage vor dem Bundesverwaltungsgericht scheiterte.

Lücken in Informationsfreiheitsgesetz und Bundesarchivgesetz

Der Fall veranschaulicht die Lücken im deutschen Informationszugangsrecht. Nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG) hat zwar jede Person einen Anspruch auf Zugang zu amtlichen Informationen. Die Geheimdienste sind davon jedoch nach § 3 Nr. 8 IFG pauschal ausgenommen. Wohl aus diesem Grund hatte sich Saure vor dem Bundesverwaltungsgericht gar nicht auf das Informationsfreiheitsgesetz, sondern auf das Bundesarchivgesetz (BArchG) berufen. Das Urteil erging noch zum Bundesarchivgesetz in seiner bis 2016 geltenden Fassung. Das aktuelle Gesetz enthält jedoch im Kern gleichlautende Normen.

Nach § 10 Abs. 1 Satz 1 BArchG (§ 5 Abs. 1 Satz 1 BArchG a.F.) hat jede Person das Recht, Archivgut des Bundes zu nutzen. Zu diesem Archivgut zählen zwar grundsätzlich auch Unterlagen der Geheimdienste, allerdings erst, nachdem das Bundesarchiv sie dauerhaft übernommen hat (§ 1 Nr. 2 BArchG). Das Problem: Die Geheimdienste und andere Behörden weigern sich oft, die bei ihnen vorhandenen aber nicht mehr benötigten Unterlagen dem Bundesarchiv anzubieten.

Sind die Unterlagen noch bei der aktenführenden Stelle, kann diese selbst verpflichtet sein, die Nutzung zu gewähren (§ 11 Abs. 6 BArchG, § 5 Abs. 8 BArchG a.F.). Das gilt auch für die Geheimdienste. Dieser unmittelbar gegen die aktenführende Stelle gerichtete Anspruch setzt jedoch voraus, dass die Unterlagen älter als 30 Jahre sind. Wie das Bundesverwaltungsgericht (Rn. 17) unter Hinweis auf den eindeutigen Wortlaut des § 5 Abs. 8 Satz 1 BArchG a.F. herausarbeitet, besteht keine Möglichkeit, diese Frist zu verkürzen. Darin unterscheidet sich der Anspruch vom denjenigen gegenüber dem Bundesarchiv. Bei Archivgut, also vom Bundesarchiv übernommenen Unterlagen, gilt zwar nach § 11 Abs. 1 Satz 1 BArchG (§ 5 Abs. 1 Satz 1 BarchG a.F.) die allgemeine Schutzfrist von ebenfalls 30 Jahren. Diese kann jedoch nach § 12 Abs. 1 BArchG (§ 5 Abs. 5 Satz 1 BArchG a.F.) verkürzt werden, wenn keine schutzwürdigen Belange einer Veröffentlichung entgegenstehen.

Mit anderen Worten: Die Geheimdienste können den archivrechtlichen Nutzungsanspruch bis zu 30 Jahre lang vollständig leerlaufen lassen, indem sie Unterlagen dem Bundesarchiv nicht anbieten. Sie verletzen damit zwar unter Umständen ihre Anbietungspflicht nach § 5 Abs. 1 Satz 1 BArchG (§ 2 Abs. 1 Satz 1 BArchG a.F.). Konsequenzen hat dies jedoch nicht. So auch bei den Barschel-Akten: Der Bundesnachrichtendienst durfte die Unterlagen, die zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch keine 30 Jahre alt waren, geheim halten.

Auskunft statt Akteneinsicht für die Presse

Was Bild-Reporter Saure blieb, war der presserechtliche Auskunftsanspruch. Da die Pressegesetze der Länder nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts keinen Anspruch gegenüber Bundesbehörden begründen können und der Bund noch kein eigenes Presseauskunftsrecht geschaffen hat, folgt der Auskunftsanspruch gegenüber dem Bundesnachrichtendienst unmittelbar aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG. Aber auch insofern scheiterte die Klage. „Das Grundrecht der Pressefreiheit verpflichtet die Behörden zwar grundsätzlich, Pressevertretern auf deren Fragen Auskunft zu geben. Dieser Informationsanspruch führt aber grundsätzlich nicht zu einem Recht auf Nutzung von Akten; sie müssen deshalb auch nicht zur Einsicht und zur Anfertigung von Kopien vorgelegt werden“, so das Bundesverwaltungsgericht (Ls. 2).

Diesem Grundsatz ist in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine bedeutende Ausnahme hinzugefügt worden. Im Einzelfall, so das Gericht 2020, könne sich der Auskunftsanspruch zu einem Akteneinsichtsanspruch verdichten, wenn andere Formen des Informationszugangs im Hinblick auf die begehrte Information unsachgemäß wären und nur auf diese Weise vollständige und wahrheitsgemäße Sachverhaltskenntnis vermittelt werden kann.

In seiner Entscheidung zu den Barschel-Akten thematisierte das Bundesverwaltungsgericht (Rn. 24) diese Ausnahme nicht, sondern zog sich auf den Grundsatz zurück, dass nur eine Auskunft geschuldet ist. Zu einer Abwägung mit möglicherweise entgegenstehenden Geheimhaltungsinteressen kam es daher gar nicht erst.

Informationszugang als Menschenrecht

Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) kennt kein ausdrückliches Recht auf Zugang zu amtlichen Informationen. Art. 10 EMRK garantiert lediglich das Recht auf freie Meinungsäußerung, das die Freiheit einschließt, Informationen zu empfangen und weiterzugeben.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat gleichwohl in einer Reihe von Entscheidungen ein Recht auf Zugang zu Informationen unter bestimmten Voraussetzungen aus der Meinungsäußerungsfreiheit abgeleitet. In ihrer Entscheidung Magyar Helsinki Bizottság v. Hungary hat die Große Kammer diese Rechtsprechungslinie zusammengefasst und konsolidiert. Danach besteht ein Recht auf Zugang zu Informationen des Staates, wenn (1) eine Offenlegung der fraglichen Information von einem nationalen Gericht rechtskräftig angeordnet wurde, oder (2) der Zugang zur Information für die Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung, vor allem „die Freiheit auf den Erhalt und die Weitergabe von Informationen“, maßgeblich ist. Letzteres ist der Fall, wenn (a) der Informationszugangsantrag den Zweck hat, eine Meinungsäußerung vorzubereiten (b) die begehrte Information von öffentlichem Interesse ist, (c) die antragstellende Person oder Organisation die Rolle eines „public watchdog“ hat und (d) die Information „bereit und verfügbar“ ist.

Sind diese Voraussetzungen erfüllt, ist die Ablehnung des Informationszugangsantrags ein Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung, der nur gerechtfertigt ist, wenn er „gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ ist (Art. 10 Abs. 2 EMRK).

EGMR zu Barschel-Akten: Schwaches Urteil, überzeugendes Sondervotum

In dem jetzt verkündeten Urteil zu den Barschel-Akten hat der Gerichtshof offengelassen, ob Art. 10 EMRK anwendbar ist (Rn. 51), da der Eingriff jedenfalls gerechtfertigt sei. Zur Begründung beruft sich der Gerichtshof auf den Schutz der nationalen Sicherheit. Der Beschwerdeführer habe gegenüber der Behörde und dem nationalen Gericht nicht dargelegt, warum er physischen Zugang zu den begehrten Akten benötige. Daher könne dem nationalen Gericht nicht vorgeworfen werden, dass es keine Prüfung vorgenommen habe, ob die Interessen des Klägers am physischen Zugang zu bestimmten Dokumenten die Interessen der nationalen Sicherheit überwiegen (Rn. 57).

Dieser Ansatz irritiert. Denn das Bundesverwaltungsgericht hatte gar nicht mit entgegenstehenden Sicherheitsinteressen argumentiert. Vielmehr hat es einen Akteneinsichtsanspruch sowohl nach Archivrecht als auch aus der Pressefreiheit ohne Abwägung abgelehnt. Die eigentlich relevante Frage war daher, ob Art. 10 EMRK unter den genannten Voraussetzungen ein Recht auf Akteneinsicht (im Unterschied zur bloßen Auskunft) gewährleistet. Diese Frage ließ der Gerichtshof unbeantwortet.

Nach der abweichenden Meinung von Richter Pavli, der sich die Richter Ravarani und Zünd angeschlossen haben, ergibt sich die Antwort bereits aus der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs. Dort sei zumindest implizit ein Recht auf Zugang zu Originaldokumenten zuerkannt worden (Rn. 4). Dies sei auch eine Sache des „common sense”: Jeder seriöse Journalist oder Forscher würde die Originaldaten sehen wollen, nicht nur Informationen über die Informationen, die Metadaten oder eine von der Regierung erstellte Zusammenfassung (Rn. 5). Die oberflächliche Auskunft des Bundesnachrichtendienstes über den Inhalt der Barschel-Akten sei nicht das, was der Antragsteller begehrt habe. Es sei, wie wenn man ein Buch lesen wolle, aber nur das Inhaltsverzeichnis bekomme (Rn. 2).

Die abweichenden Richter kritisieren ein „strukturelles Problem“ im deutschen Informationszugangsrecht. Weil die Geheimdienste vom Informationsfreiheitsgesetz vollständig ausgenommen seien, bleibe Journalist*innen nur der presserechtliche Auskunftsanspruch, der im Grundsatz keine Akteneinsicht umfasse. Das sei kaum mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs vereinbar. Jeder Rechtsrahmen, der ganze Behörden vom Recht auf Zugang zu Regierungsinformationen ausnimmt oder Antragsteller*innen kategorisch vom Zugang zu bestimmten Primärquellen ausschließt, ohne dass eine Interessenabwägung vorgenommen wird, stoße zwangsläufig auf Probleme mit der Konvention (Rn. 7). Demokratien hätten zahlreiche Mechanismen entwickelt, um Informationszugang zu gewähren, ohne Sicherheitsbedenken zu untergraben; Schwärzungen und teilweise Offenlegung gehörten im Einklang mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu diesen Standardinstrumenten (Rn. 8).

Die Richter weisen zudem darauf hin, dass sich ausschließlich Journalist*innen auf den presserechtlichen Auskunftsanspruch nach deutschem Recht berufen können (Rn. 7). Der Begriff des „public watchdog“ ist jedoch weiter und umfasst neben der Presse insbesondere auch Nichtregierungsorganisationen. Wie der Gerichtshof in seiner Entscheidung Magyar Helsinki Bizottság v. Hungary (Rn. 168) betont, können zudem Wissenschaftler*innen und Schriftsteller*innen, möglicherweise sogar Blogger*innen und Nutzer*innen sozialer Medien einen Anspruch auf Zugang zu Informationen aus Art. 10 EMRK haben.

Reformbedarf im Informationszugangsrecht

Die abweichende Meinung kann daher als Aufforderung verstanden werden, das Informationszugangsrecht zu reformieren. Ein geeigneter Anlass ist die im Koalitionsvertrag vereinbarte Weiterentwicklung der Informationsfreiheitsgesetze zu einem Bundestransparenzgesetz. Dabei sollte auf eine Bereichsausnahme für die Geheimdienste verzichtet werden. Legitimen Geheimhaltungsinteressen kann – wie bei anderen Behörden auch – im Einzelfall durch informationsbezogene Versagungsgründe Rechnung getragen werden. Der von zivilgesellschaftlichen Organisationen jüngst vorgelegte Gesetzentwurf kann insofern ebenso als Vorbild dienen wie der Vorschlag des Landesinformationsfreiheitsbeauftragten Baden-Württembergs.

Auch das Bundesarchivgesetz bedarf der Überarbeitung, um den Zugang zu Geheimdienstunterlagen nicht unverhältnismäßig einzuschränken. Es enthält zwar keine Bereichsausnahme. Nach § 6 Abs. 1 Satz 2 BArchG sind Unterlagen der Nachrichtendienste jedoch von der Anbietungspflicht ausgenommen, wenn sie nicht deren Verfügungsberechtigung unterliegen (hier geht es vor allem um Informationen ausländischer Geheimdienste) oder zwingende Gründe des nachrichtendienstlichen Quellen- und Methodenschutzes sowie der Schutz der Identität der bei ihnen beschäftigten Personen einer Abgabe entgegenstehen. Diese Ausnahme gilt laut Bundesverwaltungsgericht auch für den nach 30 Jahren bestehenden Nutzungsanspruch gegenüber den Geheimdiensten selbst.

Die Norm geht auf die Archivrechtsreform von 2016 zurück und wurde schon damals von Archivar*innen und Journalist*innen scharf kritisiert. Sie führt dazu, dass die Nutzung von bestimmten Unterlagen komplett ausgeschlossen ist, obwohl nur einzelne Informationen daraus geheimhaltungsbedürftig sind. Zudem ist eine Abwägung mit dem Offenlegungsinteresse nicht vorgesehen.

Ähnlich verhält es sich bei der verdoppelten Schutzfrist nach § 11 Abs. 3 BArchG, die nach der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch dann gelten soll, wenn die Unterlagen als Verschlusssachen eingestuft sind. Das ist bei zahlreichen Dokumenten der Geheimdienste der Fall. Die Schutzfrist führt dazu, dass Unterlagen 60 Jahre lang komplett unter Verschluss gehalten werden, auch wenn nur einzelne Informationen die Einstufung rechtfertigen. Der NSU-Bericht des hessischen Verfassungsschutzes, der neulich vom ZDF Magazin Royale und FragDenStaat veröffentlicht worden ist, verdeutlicht die Problematik: Abgesehen von wenigen personenbezogenen Daten (die die Journalist*innen geschwärzt hatten) besteht kein (überwiegendes) Geheimhaltungsinteresse an dem Bericht. Die Koalition will sich der übermäßigen Geheimhaltung offenbar annehmen und hat vereinbart, die archivrechtlichen Schutzfristen auf maximal 30 Jahre zu verkürzen.

Schließlich hat die Ampel im Koalitionsvertrag auch versprochen, eine gesetzliche Grundlage für den Auskunftsanspruch der Presse gegenüber Bundesbehörden zu schaffen; ein längst überfälliger Schritt. Ob der Anspruch auch ein Akteneinsichtsrecht enthalten wird, wie es ein Gesetzentwurf der Grünen aus der letzten Legislatur vorsah, bleibt abzuwarten. Der Konflikt mit der Europäischen Menschenrechtskonvention würde dadurch jedenfalls teilweise entschärft.

Geheimdienste und Transparenz

Geheimdienste sind Fremdkörper in der Demokratie. Daran wird auch das Informationszugangsrecht nichts ändern. Es stößt bei den verdeckt agierenden Behörden notwendigerweise an seine Grenzen. Diese Einsicht befreit den Gesetzgeber jedoch nicht von seiner Pflicht, Sicherheitsinteressen in einen angemessenen Ausgleich mit den jeweils betroffenen Grundrechten zu bringen und die Geheimhaltung auf das unbedingt Erforderliche zu beschränken. Die Rechtslage in Deutschland wird dem nicht gerecht.

Die Individualbeschwerde von Bild-Reporter Saure war zwar erfolglos. Angesichts der überzeugenden abweichenden Meinung könnte sich jedoch noch die Große Kammer mit dem Fall befassen. Unabhängig davon gibt die Entscheidung einen Impuls für die Reform des deutschen Informationszugangsrechts.