Gerichte als Spielball von Symbolpolitik
Zur Reduktion verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen auf den Einzelfall
Seit Tagen polarisiert die Entscheidung des VG Berlin (G 6 L 191/25 u.a. – hier zum Volltext) zur Zurückweisung dreier somalischer Asylsuchender an der deutschen Grenze durch die Bundespolizei. Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) erklärte unmittelbar nach Verkündung der Entscheidung, dass dieser über den Einzelfall hinaus gerade keine rechtliche Wirkung zukäme und ihn nicht daran hindere, an der eingeführten Praxis festzuhalten. Bezüglich der drei Antragsteller werde er die Entscheidung hingegen befolgen.
Die Reduzierung der Entscheidung auf ihre Einzelfallwirkung ist ein Falltypus der Missachtung von Gerichtsentscheidungen. Sie unterscheidet sie sich von exekutivem Ungehorsam – also der bewussten Nichtumsetzung einer Gerichtsentscheidung im Einzelfall1) – dadurch, dass im konkreten Fall der gerichtlichen Anordnung gerade Folge geleistet wird. Gleichwohl sind beiden Falltypen mehrere Aspekte gemein. Sie verkennen gleichermaßen grundlegende Verfassungsgrundsätze und sind beliebte Instrumente, um eigene symbolpolitische Maßnahmen zu legitimieren und trotz entgegenstehender Rechtsprechung aufrechtzuerhalten.
Das Fußballderby Darmstadt vs. Frankfurt als Referenzfall
Dobrindt ist nicht der erste Politiker, der eine verwaltungsgerichtliche Entscheidung auf ihre Einzelfallwirkung reduziert. Zum Beispiel hatte 2016 im hessischen Darmstadt der zuständige Ordnungsdezernent der Stadt, Rafael Reißer (CDU), wenige Tage vor dem mit Spannung erwarteten Fußballderby zwischen Darmstadt 98 und Eintracht Frankfurt ein pauschales Aufenthaltsverbot für Anhänger der Frankfurter Eintracht verhängt. Eine entsprechende Allgemeinverfügung verbot Frankfurter Fans über mehrere Tage pauschal den Aufenthalt in bestimmten Bereichen des Stadtgebiets. Das angerufene VG Darmstadt stellte in einer Eilentscheidung die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs mehrerer Frankfurter Fans wieder her (3 L 642/16.DA – hier zum Volltext). Ähnlich wie bei der aktuellen Entscheidung des VG Berlin traf das VG Darmstadt über den konkreten Fall der Antragsteller hinausreichende Feststellungen, aus denen sich die Rechtswidrigkeit des Aufenthaltsverbots gegenüber allen potenziell anreisenden Frankfurter Fans ergab.
Zwar stellte die Entscheidung formal nur die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der sechs vor Gericht gezogenen Antragsteller her. Gleichwohl war aufgrund der allgemeinen Aussagen des VG Darmstadt offenkundig, dass das Aufenthaltsverbot auch gegenüber allen anderen Frankfurter Fans keinen Bestand haben würde. Dessen ungeachtet hielt die Stadt Darmstadt an dem Verbot fest. Ordnungsdezernent Reißer begründete dies damit, dass er die Entscheidung schlicht „nicht nachvollziehen“ könne, schließlich sei die Gefahr von Ausschreitungen zwischen den rivalisierenden Fangruppierungen zu besorgen – eine klare Missachtung der gerichtlichen Entscheidung. Ein Sprecher des VG erklärte daraufhin, dass das Gericht allen zulässigen Anträgen in der Sache stattgeben werde. Dies ermunterte rund 300 weitere Fans, ebenso einen Eilantrag einzureichen, damit auch ihnen gegenüber die aufschiebende Wirkung gerichtlich wiederhergestellt werde.
Erst wenige Stunden vor dem Anpfiff hob der Ordnungsdezernent das Aufenthaltsverbot dann doch noch auf. Nicht jedoch weil er die Rechtswidrigkeit des Verbots eingestand, sondern wohl vor allem aus Sorge vor den drohenden Gerichts- und Anwaltskosten. Schließlich hatten schon die rund 300 Eilanträge Kosten in Höhe von 165.000 € produziert, für die dann sogar überplanmäßige Haushaltsmittel bereitgestellt werden mussten. Im Anschluss an das Derby wurde in der Darmstädter Stadtverordnetenversammlung zwar von zwei Fraktionen die Abwahl des Ordnungsdezernenten beantragt (siehe hier und hier). Die Anträge erhielten jedoch keine Mehrheit, so dass der Vorgang keine politischen Konsequenzen hatte.
Zur inter partes-Wirkung verwaltungsgerichtlicher Eilentscheidungen
Inwieweit Gerichtsentscheidungen eine Bindungs- oder Präjudizwirkung über den Einzelfall hinaus entfalten, ist umstritten. Nach hiesiger Auffassung gebieten jedenfalls sowohl das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) als auch die Bindung aller Staatsgewalten an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) sowie darüber hinaus der verfassungsrechtliche Grundsatz der Gewaltentreue2), dass staatliche Institutionen über die inter partes-Wirkung hinaus gerichtliche Entscheidungen daraufhin überprüfen, inwieweit diesen von dem konkreten Einzelfall hinaus abstrahierbare Vorgaben für ihre Rechtspraxis zu entnehmen sind. Dies gilt auch für die beiden genannten verwaltungsgerichtlichen Eilentscheidungen, bei denen die Hauptsache ausnahmsweise vorweggenommen werden musste und in denen eine umfangreiche Würdigung der Rechtslage im Sinne einer Grundsatzentscheidung erfolgte.
Freilich kann die rechtliche Bewertung einer Maßnahme in einer späteren Hauptsacheentscheidung von derjenigen der Eilentscheidungen abweichen. Zudem können verschiedene Gerichte auch bei vergleichbaren Konstellationen zu divergierenden rechtlichen Bewertungen kommen. Dies ist letztlich Ausdruck der gerichtlichen Unabhängigkeit (Art. 97 GG). Daher erscheint es durchaus zulässig, den handelnden Behörden das Recht einzuräumen, an ihrer Praxis zunächst festzuhalten. Dabei haben sie aber die nachfolgenden Maßgaben zu beachten, die sich unter dem Stichwort Berücksichtigungs- und Argumentationspflicht zusammenfassen lassen.
Schon aus dem Rechtsstaatsprinzip lässt sich eine Pflicht ableiten, abstrahierbare Aussagen des Gerichts zu berücksichtigen, wenn man das Richterrecht vom Begriff des „Rechts“ aus Art. 20 Abs. 3 GG als erfasst ansieht.3) In Bezug auf den Darmstädter Fall erklärte beispielsweise Hecker, dass die Durchsetzung offensichtlich rechtswidriger Maßnahmen gegenüber anderen Personen, „rechtsstaatlich völlig ausgeschlossen“ sei.4)
Aber auch wenn man eine solche Interpretation des Begriffs „Recht“ ablehnt, wie auch die Rechtsprechung des BVerfG und BFH sowie die wohl herrschende Meinung5), kann die Berücksichtigungspflicht für abstrahierbare Aussagen gerichtlicher Entscheidungen aus dem Zusammenspiel von Art. 20 Abs. 3 GG iVm. Art. 1 Abs. 3 GG gewonnen werden. Denn in allen vergleichbaren Konstellationen drohen bei der Fortführung einer Praxis, die von Verwaltungsgerichten im Rahmen von Eilentscheidungen „mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit als rechtswidrig“ (VG Berlin, G 6 L 191/25, Rn. 30 – juris) bzw. als „offensichtlich rechtswidrig“ (VG Darmstadt, 3 L 642/16.DA, Rn. 6 – juris) eingestuft wurden, Grundrechtseingriffe. Sehenden Auges darf der Staat diese jedoch nicht in Kauf nehmen. Rechtswidrige staatliche Maßnahmen sind nämlich stets (zumindest) eine Verletzung der allgemeinen Handlungsfreiheit. Insofern lässt sich ein behördliches Festhalten an einer als (vorläufig) rechtswidrig eingestuften Maßnahme auch nicht mit dem Argument rechtfertigen, weitere Betroffene könnten dagegen ebenso Eilrechtsschutz ersuchen. Damit wären sie nämlich zunächst erheblichen Grundrechtseingriffen ausgesetzt, für deren Beseitigung die Grundrechtsträger selbst sorgen müssten.
Zudem können die Ausführungen Desens und Spindlers zur Vereinbarkeit der steuerrechtlichen Nichtanwendungserlasse mit dem Grundsatz der Gewaltentreue bzw. der Gewaltenteilung fruchtbar gemacht werden. Desens leitet aus der Gewaltentreue ab, dass die Finanzverwaltung die letztinstanzlichen Entscheidungen des BFH grundsätzlich zu beachten und ihrer Verwaltungspraxis zugrunde zu legen habe.6) Andernfalls drohe nämlich eine Prozessflut, die die Effektivität des Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG zu gefährden vermöge.7) Wolle die Finanzbehörde von der Rechtsprechung des BFH abweichen, so müsse sie daher darlegen, dass die gerichtliche Normauslegung „nicht den Anforderungen einer gesetzmäßigen Auslegung (Art. 20 Abs. 3 Hs. 2 GG)“8) entspreche und neue Argumente vortragen, mit denen sich der BFH noch nicht befasst habe9). In ähnlicher Weise argumentiert auch Spindler, der aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung eine grundsätzliche Beachtenspflicht bzgl. der Judikate des BFH statuiert und für ihre Nichtanwendung eine nachvollziehbare Begründung verlangt.10)
Überträgt man diese Maßstäbe unter Einbeziehung der Erwägungen zu Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 1 Abs. 3 GG auf die Fallgruppe der Reduktion verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen auf den Einzelfall, so bedarf es erstens einer hinreichenden argumentativen Auseinandersetzung mit den vom Einzelfall abstrahierbaren Aussagen des Gerichts, um an den Maßnahmen festzuhalten. Dieses Überprüfungsverfahren muss die Behörde zunächst für sich selbst durchführen, da die sie sich selbst vergegenwärtigen muss, womit sie die Aufrechterhaltung ihrer Praxis und den hieraus ggf. resultierenden Grundrechtseingriffe rechtfertigt. Erklärt sie öffentlich das Festhalten an der Praxis, so muss sie ihre rechtfertigenden Argumente auch der Öffentlichkeit gegenüber offenlegen, damit diese sich ein eigenständiges Bild von dem Sachverhalt und den widerstreitenden Argumenten machen kann. Im Falle eines erneuten Gerichtsverfahrens muss die Behörde ihre Erwägungen dann auch vor dem zuständigen Gericht vortragen. Zweitens muss sie ihre behördliche Praxis spätestens dann beenden, wenn weitere verwaltungsgerichtliche Prüfungen unter Einbeziehung der behördlichen Gegenargumente die bisherige Rechtsprechung bestätigen.11) Die Argumentationslast für die Rechtfertigung der Fortsetzung einer von mehreren Verwaltungsgerichten als rechtswidrig erachteten Praxis ist nämlich erheblich erhöht und dürfte kaum mehr zu erfüllen sein (ähnlich in Bezug auf den Fall des VG Berlin auch Holterhus).
Eine entsprechende argumentative Auseinandersetzung mit der Eilentscheidung fehlte im Darmstädter Fall offenkundig. Neue Argumente trug die Stadt in den weiteren Verfahren nicht vor. Ebenso wenig ersichtlich ist, dass Dobrindt oder sein Ministerium auf den Gerichtsbeschluss eingehen. Nicht nur das VG Berlin hat äußerst umfangreich und unter Einbeziehung der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH die generelle Unzulässigkeit der Zurückweisungen begründet. Vielmehr vertritt unter Bezugnahme auf die EuGH-Rechtsprechung auch die überwiegende Mehrheit der Rechtswissenschaftler*innen diese Auffassung (statt vieler hier und hier). Angesichts dessen reicht der bloße Hinweis Dobrindts, man werde im Hauptsacheverfahren entsprechende Argumente vorlegen und fordere darüber hinaus eine Grundsatzentscheidung des EuGH nicht aus, um sein Festhalten an der Zurückweisungspraxis zu legitimieren. Ob es zu einem Hauptsacheverfahren vor dem VG Berlin noch kommt, liegt nicht seinen Händen, sondern denen der Antragsteller. Daher müsste Dobrindt schon jetzt ausführlich öffentlich darlegen, warum er die Entscheidung des VG Berlin in der Sache für nicht tragfähig erachtet und wieso die Praxis der Zurückweisung an den deutschen Binnengrenzen im Allgemeinen rechtskonform und nur eben in diesem Einzelfall rechtswidrig sei. Hierbei müsste er auch ausführlich die Rechtsprechung des EuGH würdigen, aus der sich nach herrschender Auffassung gerade Gegenteiliges ergibt. Dass eine solche Begründung bisher nicht erfolgt ist, deutet vielmehr darauf hin, dass auch dem Minister eine rechtliche Rechtfertigung seiner Praxis schwerfällt. Dobrindts Argument der inter partes-Wirkung ist daher eine politische Nebelkerze. Dies gilt auch für seine Hoffnung, der EuGH werde die Rechtspraxis für unionsrechtskonform erklären. Dazu müsste nämlich zunächst ein mit den Zurückweisungen befasstes Verwaltungsgericht die Frage dem EuGH vorlegen (vgl. Art. 267 Abs. 2 AEUV). Ob es dazu kommen wird, ist ungewiss. Davon wird jedenfalls das VG Berlin angesichts seiner ausführlichen Begründung wohl auch in weiteren Verfahren absehen. Ohnehin fehlt es an Anhaltspunkten, dass der EuGH einer solchen Argumentation folgen würde.
Rechtsstaatliche Grundsätze versus Symbolpolitik
Zwar besteht zwischen der bloßen Reduktion gerichtlicher Entscheidungen auf ihre Einzelfallwirkung und der behördlichen Nichtbefolgung von Gerichtsentscheidungen, wie bspw. im Fall der Stadthalle Wetzlar, ein gradueller Unterschied (hierzu auch das Editorial vom 6.6.2025). Auch das Überspielen des Bundesverfassungsgerichts durch den faktischen Vollzug einer Maßnahme, gegen die bereits Eilrechtschutz vor dem Bundesverfassungsgericht angekündigt wurde, wie jüngst im Fall der Auslieferung von Maja T. nach Ungarn (ausführlich dazu Kirchner, EuGRZ 2024, 377 sowie hier), ist qualitativ etwas anderes.
Gleichwohl ist all diesen Fällen gemein, dass sie auf einer rechtsstaatsbedenklichen Haltung der handelnden Akteure beruhen, denen die kurzfristige und vor allen Dingen symbolpolitische „Verwirklichung“ ihrer Ziele wichtiger zu sein scheint als die langfristigen negativen Folgen ihres Handelns für den grundrechtsgebundenen Rechtsstaat. In gewisser Weise ist dieser Konflikt jedoch schon im Recht selbst angelegt, da die Verwaltungsspitzen (z.B. Bundesminister, Oberbürgermeister, Magistratsmitglieder) ihr Amt dem Ausgang von Wahlen zu verdanken haben. Sie sind daher grundsätzlich gewillt, ihr Amt so auszuüben, dass sie auch bei den nächsten Wahlen wiedergewählt werden.12)
Mit dem Darmstädter Fall wollte der CDU-Ordnungsdezernent zwar drohende Auseinandersetzungen zwischen gewalttätigen Fußballfans verhindern – ein legitimes Anliegen. Dass es zwischen den verfeindeten Hooligan- und Ultragruppen hierzu kommen könnte, lag auch nicht völlig fern. Gleichwohl zielte das Aufenthaltsverbot wohl auch darauf ab, pauschalisierend alle Frankfurter Fans in die Nähe von Gewalttätern zu rücken, um aus diesem Grund das völlig unverhältnismäßige Betretensverbot zu legitimieren. Im Fall der Missachtung der einstweiligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts zur Überlassung der Stadthalle Wetzlar an die NPD wollte der verantwortliche SPD-Oberbürgermeister schlicht „ein deutliches Zeichen“ gegen Rechtsextremisten setzen. Mit der bereits Wochen vor der Gerichtsentscheidung geplanten Auslieferung von Maja T. wollte das CDU-geführte sächsische Landesinnenministerium wiederum Entschlossenheit im Kampf gegen als linksextremistisch eingestufte Beschuldigte zum Ausdruck bringen. Die Reduktion der Entscheidungswirkung des Berliner VG auf den bloßen Einzelfall bezweckt wiederum die Erfüllung einer – jedenfalls vermeintlich – in der Mehrheitsgesellschaft bestehenden Erwartung, der irregulären Migration durch Geflüchtete durch eine harte Handhabung des Asylrechts zu begegnen.
Das Erfordernis symbolischer Kommunikation, sei es in Bezug auf die Migration oder den politischen Kampf gegen Extremismus und Gewalttäter, sowie die eigenen politischen Zielsetzungen der Verantwortlichen rechtfertigen jedoch nicht, rechtsstaatliche Grundsätze zu vernachlässigen oder über Bord zu werfen. Seine stabilisierende Wirkung kann der Rechtsstaat schließlich nur dann entfalten, wenn sich das Recht auch gegen (symbolpolitische) Widerstände behauptet.13) Bedenklich erscheinen schon die drohenden Gerichts- und Anwaltskosten für Folgeverfahren, die aus der Missachtung von Gerichtsentscheidungen oder ihrer Reduktion auf den Einzelfall folgen können. Steuergeldverschwendung ist schließlich eine Triebfeder für Politikverdrossenheit.
Aus rechtsstaatlicher Perspektive sind insbesondere die drohenden irreversiblen Schäden für die Verfassungsordnung von Belang. Gerade die beschriebenen Fälle, in denen sich letzten Endes Politiker der demokratischen Mitte für die Schleifung rechtsstaatlicher Prämissen verantwortlich zeichnen, bergen ein erhebliches Gefahrenpotenzial. Auch wenn es sich bei den verschiedenen Sachverhalten bisher nur um Einzelfälle handelt, die keineswegs kennzeichnend für die Rechtsstaatlichkeit in Deutschland sind (zum hohen Rechtsstaatsniveau in Deutschland auch hier), bieten die Fälle zum einen den Vertretern des autoritären Populismus umfangreiches Argumentationspotenzial, um selbst rechtsstaatliche Prinzipien zu vernachlässigen, wenn sie an die Macht kommen sollten. Ihnen gegenüber wird schließlich der Eindruck vermittelt, dass die Wirkkraft gerichtlicher Entscheidungen allein von der politischen Opportunität abhängen würde. Zum anderen können sie gerade in juristisch nicht gebildeten Bevölkerungskreisen auch die Fehlvorstellung hervorrufen, dass die Gerichtsentscheidungen bloß unverbindliche Empfehlungen seien.
Ausdruck dessen sind wohl auch die erschreckenden verbalen Angriffe, denen sich die Berliner Verwaltungsrichter seit ihrem Beschluss ausgesetzt sehen (zur strategischen Delegitimierung der Justiz hier). Selbstverständlich ist Bundesinnenminister Dobrindt nicht unmittelbar dafür verantwortlich, dass die Richter verunglimpft werden. Schließlich hat er, im Unterschied zu einem CSU-Parteifreund in Reaktion auf die Kruzifix-Entscheidung aus dem Jahr 1994 (siehe dazu hier), nicht zu Gewalt gegen die Richter aufgerufen. Spricht die Politik jedoch künftig vermehrt Gerichtsentscheidungen ihre Wirkungen über den entschiedenen Einzelfall hinaus ab oder befolgt sie auch in den konkreten Einzelfällen nicht, so kann letztlich auch die Bereitschaft der Bevölkerung sinken, Rechtsnormen zu befolgen – mit potenziell verheerenden Folgen für die gesamte Rechts- und Verfassungsordnung.
Treffend fragte der ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm einmal:14)
„Wie sollten Politiker noch glaubhaft Gehorsam für ihre Gesetze verlangen, auch von denen, die ihnen nicht zugestimmt hatten, wenn sie sich selber vom Gehorsam gegenüber Gerichtsurteilen dispensierten, die ihnen nicht gefielen?“
References
↑1 | Zum Begriff des exekutiven Ungehorsams vgl. Koepsell, Exekutiver Ungehorsam und rechtsstaatliche Resilienz, 2023, S. 17 f. |
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↑2 | Ausführlich zur Herleitung dieses Grundsatzes Koepsell (Fn. 1), S. 32 ff. Im Ergebnis ähnlich Desens, Bindung der Finanzverwaltung an die Rechtsprechung, 2011, S. 261 ff.. |
↑3 | So etwa J. Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975, S. 60 f. |
↑4 | Hecker, NVwZ 2016, 1301 (1304) in Bezug auf den Fall des Darmstädter Aufenthaltsverbots. |
↑5 | Vgl. BVerfGE 84, 212 (227); BFH, Vorlagebeschluss vom 7. Dezember 2010 – IX R 70/07, Rn. 47 ff. Aus der Literatur statt vieler Sachs/von Coelln, in: Sachs (Hrsg.), GG, 10. Aufl. 2024, Art. 20, Rn. 107. |
↑6 | Desens (Fn. 2), S. 279 ff.. |
↑7 | Desens (Fn. 2), S. 275 ff. |
↑8 | Desens (Fn. 2), S. 309. |
↑9 | Desens (Fn. 2), S. 310. |
↑10 | Spindler, DStR 2007, 1061 (1064). |
↑11 | Ähnlich im Falle des Festhaltens des BFH an seiner Rechtsprechung Desens (Fn. 2), S. 310. |
↑12 | Ausführlich zu diesem Konflikt Michl, Der Staat als Ehrenmann?, in: Holterhus/Michl (Hrsg.), Die schwache Gewalt?, 2022, S. 77 ff. |
↑13 | Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, Rn. 195. |
↑14 | Zitiert nach Grimm/Lepsius/Waldhoff/Roßbach (Hrsg.), „Ich bin ein Freund der Verfassung“ – Wissenschaftsbiographisches Interview von Oliver Lepsius, Christian Waldhoff und Matthias Roßbach mit Dieter Grimm, 2017, S. 153. |