10 April 2024

Karlsruhes Vollstrecker

Rechtliche und gesellschaftliche Mittel zur Befolgung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen

Mit der Veröffentlichung der Correctiv-Recherche hat die Thematik des Schutzes der Institution Bundesverfassungsgericht den rechtswissenschaftlichen Diskursraum verlassen und beschäftigt nun auch die Bundespolitik. Binnen weniger Wochen – und nach kurzzeitigem Ausstieg der CDU/CSU-Fraktion aus der Debatte – hat das Bundesjustizministerium einen Referentenvorschlag zur Änderung des Grundgesetzes zur Verankerung zusätzlicher Schutzmechanismen im Grundgesetz vorgelegt, über den nunmehr beraten wird. Ein Blick in die Historie des Bundesverfassungsgerichts und die Erfahrungen verschiedener ausländischer Verfassungsgerichte mit der Politik offenbaren jedoch, dass es nicht erst autoritärer politischer Parteien oder Strömungen bedarf, um die verfassungsgerichtliche Kontrolle auszuhebeln. Der Blick ist daher auf die Mittel zu richten, die sicherstellen können, dass die Entscheidungen Karlsruhes von allen Staatsorganen befolgt werden.

Stadthalle Wetzlar ist kein Einzelfall

Betrachtet man die fast 75-jährige Geschichte des Bundesverfassungsgerichts, so kann man dem Gericht durchaus eine außerordentliche Erfolgsbilanz ausstellen. Seine Entscheidungen haben die Entwicklung Deutschlands vom NS-Führerstaat hin zu einem demokratischen Verfassungsstaat, der weltweite Achtung und Einfluss genießt, mitgeprägt.1) Das Bundesverfassungsgericht hat sich sowohl gegenüber den Staatsorganen als auch in der Bevölkerung Autorität und Anerkennung erarbeitet.

Gleichwohl wäre es ein Trugschluss hieraus zu schlussfolgern, dass seine Stellung keinerlei Gefährdungen unterlag beziehungsweise unterliegt. Wurde in den Anfangsjahren den Entscheidungen Karlsruhes seitens der Politik vor allem durch verbale Urteilsschelten begegnet, so kam es zu Zeiten der sozialliberalen Koalition zur ersten Androhung der Nichtbefolgung einer bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung.2) Nach Verkündung der Kruzifix-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kam es im Jahr 1995 gar zu – maßgeblich von bayerischen CSU-Politikern organisierten – öffentlichen Massenprotesten gegen das Gericht, die in einer gesetzliche Neuregelung der Kreuze in Klassenzimmern durch den bayerischen Gesetzgeber mündete und der Karlsruher Entscheidung ihre Wirkung entzog. Ein bayerischer CSU-Landtagsabgeordneter drohte in diesem Zusammenhang den Verfassungsrichtern gar körperliche Gewalt an und erklärte, man erwarte diese „mit Dreschflegeln“3).

In den vergangenen Jahren scheint sich der Widerstand gegen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts von der Politik hin zur Exekutive und Judikative verlagert zu haben. So weigerte sich die Stadt Wetzlar im Jahr 2018 einer einstweiligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts nachzukommen und ihre kommunale Stadthalle der NPD zur Verfügung zu stellen.4) Anknüpfen konnte die Stadt Wetzlar hierbei an die Nichtbefolgung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Verbot neonazistischer Demonstrationen aus den frühem 2000-er Jahren durch den Fünften Senat des OVG Münster. Dieser hatte wiederholt neonazistische Demonstrationen aufgrund der Annahme einer unmittelbaren Gefährdung der öffentlichen Ordnung untersagt, obwohl die Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts ein auf die öffentliche Ordnung gestütztes Versammlungsverbot nicht zuließen.5) Trotz dieser ständigen bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung hielt der Fünfte Senat des OVG Münster auch in späteren Verfahren an seiner Rechtsauffassung fest.6) Ein Ende fand diese Kontroverse letztlich in der Veränderung des Geschäftsverteilungsplans des OVG Münster im Jahr 2015. Seitdem ist der 15. Senat des OVG Münster für das Versammlungsrecht zuständig. Er erkannte diese Karlsruher Rechtsprechung bis zum Inkrafttreten des Landesversammlungsgesetz NRW im Jahr 2022, welches die öffentliche Ordnung als Tatbestandsmerkmal nicht kennt, unzweifelhaft an.

In jüngster Zeit machte wiederum die Pressekammer des LG Berlin von sich Reden, die trotz sich wiederholender einstweiliger Anordnungen des Bundesverfassungsgerichts die Rechtsprechung Karlsruhes zum Recht auf prozessuale Waffengleichheit nicht umsetzte. Erst nachdem das Bundesverfassungsgericht eine Entfernung von Recht und Gesetz annahm, erneut auf die Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 BVerfGG hinwies und in der Literatur die Frage der Strafbarkeit der Nichtbefolgung der Verfassungsrechtsprechung nach § 339 StGB aufgeworfen wurde, beendete das LG Berlin, soweit ersichtlich, seine Rechtsprechungspraxis.7) Einen ähnlichen Hinweis auf § 339 StGB hatte das Bundesverfassungsgericht auch im Görgülü-Verfahren erteilt, bei dem das OLG Naumburg Entscheidungen des EGMR und des Bundesverfassungsgerichts nicht umsetzte, die einem Vater das Umgangsrecht zu seinem leiblichen Sohn zusprachen.8) Die strafrechtliche Anklageerhebung gegen die OLG-Richter scheiterte zwar an hier nicht darstellbaren strafprozessualen Gesichtspunkten. Aufgrund der breiten medialen Berichterstattung wurde die Öffentlichkeit auf die Problematik aufmerksam und forderte, dass das OLG Naumburg den Entscheidungen folgt.

Was bringt eine Hochzonung des § 31 Abs. 1 BVerfGG?

Dass die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nach § 31 Abs. 1 BVerfGG und schon ohne entsprechende Hinweise des Bundesverfassungsgerichts verbindlich sind, beeindruckte die jeweiligen Akteure in den beschriebenen Fällen jedenfalls nicht. Ob eine Hochzonung des § 31 Abs. 1 BVerfGG in das Grundgesetz, wie im Referentenentwurf vorgeschlagen, hieran etwas ändern würde, darf – entgegen der Auffassung Kirchhofs – bezweifelt werden. Als letztverbindlicher Verfassungsinterpret und seiner hieraus resultierenden Eigenschaft, Rechtsstaatlichkeit und Verfassungskonformität zu garantieren, ergibt sich die Verbindlichkeit bundesverfassungsgerichtlicher Entscheidungen bereits verfassungsunmittelbar. Ein Verfassungsgericht ohne die Kompetenz, verbindliche Entscheidungen zu erlassen, wäre schließlich nicht viel Wert.

In diesem Sinne ist auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Missachtungen der Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 BVerfGG zu verstehen, nach der es einen mit der Verfassungsbeschwerde rügefähigen Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG iVm. Art. 2 Abs. 1 GG darstellt, wenn ein Bindungsadressat bundesverfassungsgerichtliche Entscheidungen nicht befolgt. Das Bundesverfassungsgericht weist § 31 Abs. 1 BVerfGG also schon jetzt eine verfassungsrechtliche Bedeutung zu. Insofern könnte sich der einfache Gesetzgeber der Bindungswirkung auch nicht dadurch entziehen, indem er § 31 Abs. 1 BVerfGG abschaffen würde.

Obwohl die Nichtbefolgung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen schon nach der geltenden Rechtslage einen Verfassungsverstoß darstellt, haben das OVG Münster und das LG Berlin zunächst vehement an ihrer Entscheidungspraxis festgehalten. Angesichts dessen erscheint es fraglich, ob Staatsorgane, welche Verfassungsgerichtsentscheidungen partout nicht befolgen wollen, diese künftig allein aufgrund der Hochzonung des § 31 Abs. 1 BVerfGG in das Grundgesetz befolgen werden.

Alternativen zur Herstellung der Folgebereitschaft

Die aktuelle Resilienzdebatte sollte daher den Fokus auf die Mittel richten, die für eine Folgebereitschaft sorgen. Neben den verfassungsgerichtlichen Hinweisen auf die Möglichkeit der Verwirklichung strafbarer Rechtsbeugung (§ 339 StGB) durch die Fachgerichtsbarkeit, gibt es auch gegenüber der Legislative und Exekutive  verschiedene Möglichkeiten, um diese zur Entscheidungsbefolgung anzuhalten. So ermöglicht § 35 BVerfGG dem Gericht, Vollstreckungsanordnungen zu erlassen und eine öffentliche Stelle mit der Umsetzung der Anordnung zu betrauen. Für den Stadthallen-Wetzlar-Fall hätte die Anwendung dieser Norm bedeuten können, dass das Gericht die örtliche Polizei anweist, die Halle (notfalls gewaltsam) zu öffnen und dem Beschwerdeführer zur Verfügung zu stellen. Nach Art. 37 GG wiederum könnte auch die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates auf ein renitentes Landesorgan reagieren und die bundesverfassungsgerichtliche Entscheidung mit den Mitteln des Bundeszwangs durchsetzen. Beide Instrumente sind in diesem zwangsrechtlichen Sinne noch nicht verwendet worden.

Dass verfassungsgerichtliche Entscheidungen zwangsweise durchgesetzt werden können, belegt ein Blick nach Österreich, dem Mutterland der spezialisierten Verfassungsgerichtsbarkeit.  Dort ist die Exekution verfassungsgerichtlicher Entscheidungen unmittelbar in der in Art. 146 Bundes-Verfassungsgesetz verankert und ermöglicht sogar den Einsatz des Bundesheeres. Im Rahmen der aktuellen Debatte sollte daher vielmehr über eine Hochzonung des § 35 BVerfGG nachgedacht werden, um ihn dem Zugriff des einfachen Gesetzgebers zu entziehen. Schließlich stehen § 31 Abs. 1 BVerfGG und § 35 BVerfGG in einem engen Wirkungszusammenhang.

Mahnende Beispiele, auch aus dem Ausland

All die beschriebenen Missachtungsfälle stellen seltene Ausnahmeerscheinungen dar. Die weit überwiegende Mehrheit der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts werden von der Legislative, Gubernative, Exekutive und Judikative befolgt. Dies darf jedoch nicht zur Annahme verleiten, dass auch künftige Entscheidungen stets befolgt werden würden. Es bräuchte hierfür auch nicht erst eine Machtübernahme autoritärer Parteien oder eines Volkskanzlers. Vielmehr könnte eine Häufung unliebsamer bundesverfassungsgerichtlicher Entscheidungen, vergleichbar den zu Zeiten der sozialliberalen Koalition, die Politik zur Nichtbefolgung einzelner Entscheidungen des Gerichts oder zu institutionellen Eingriffen ermuntern. Es wäre naiv, sich allein auf das, z.B. im Rahmen der Haushalts-Entscheidung von Bundeskanzler Olaf Scholz9) wiederholte, politische Bekenntnis der Achtung des Bundesverfassungsgerichts zu verlassen. Politische Rahmenbedingungen, die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse, aber auch die Anerkennung des Bundesverfassungsgerichts in der Öffentlichkeit können sich ändern; schneller als einem lieb sein kann.

Die Pläne des US-Präsidenten Joe Biden aus den vergangenen Jahren, die Anzahl an Richterstellen am Supreme Court zu erhöhen, um die konservative Richtermehrheit zu brechen (court-packing), sowie die Weigerung des österreichischen Finanzministers eine Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs umzusetzen, belegen, dass es nicht zwingend einer autoritären politischen Grundüberzeugung bedarf, um die Verfassungsgerichte in ihrer Hüterrolle zu beeinträchtigen. Es kann vielmehr schon ausreichen, dass das Verfassungsgericht wichtige politische Vorhaben blockiert oder zu blockieren droht.

Die Öffentlichkeit als Resilienzmechanismus

Zusätzlich zu institutionellem Schutz ist die Öffentlichkeit für die Entscheidungsbefolgung bedeutsam – das zeigen auch die genannten Fälle. In Deutschland genießt das Gericht in der Bevölkerung nach wie vor große Autorität.10) Daher war es wenig verwunderlich, dass die breite Berichterstattung im Görgülü-Fall zu öffentlicher Empörung führte, zumal auch schon die zugrundeliegende familienrechtliche Thematik gesellschaftliches Erregungspotential beinhaltete. Doch auch Fälle, die nicht unmittelbar Grundrechte von Privatpersonen adressieren, wie beispielsweise die Nichtbefolgung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Recht auf prozessuale Waffengleichheit, haben eine mediale Berichterstattung und öffentliche Verwunderung über die Missachtung Karlsruhes ausgelöst.

Die Bedeutung der Öffentlichkeit zum Schutz der Verfassungsgerichtsbarkeit verdeutlichen ferner ausländische Fälle. So gilt die breite Berichterstattung der österreichischen Medien neben der angedrohten Entscheidungsexekution durch den Bundespräsidenten van der Bellen als ein wichtiger Grund, warum der Entscheidung doch Folge geleistet wurde. Joe Biden dürfte seine court-packing-Pläne wiederum aufgrund der Erfahrungen des demokratischen US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt aufgegeben haben. Dieser hatte im Jahr 1937 einen court-packing Plan veröffentlicht, um den gerichtlichen Widerstands gegen die New-Deal-Gesetzgebung zu brechen. Er musste die Pläne aufgrund des immensen öffentlichen Drucks binnen eines halben Jahres wieder aufgeben.

Entscheidend ist neben den rechtlichen Mitteln also, dass die Nichtumsetzung bundesverfassungsgerichtlicher Entscheidungen eine breite öffentliche Debatte auslöst. Dass Verfassungsgerichte Bollwerke gegen den Abbau des demokratischen Verfassungsstaates sein können, dürfte angesichts der umfangreichen Medienberichterstattung über die vorgeschlagenen Änderungen weithin bekannt sein.  Angesichts dessen und der zu erwartenden Wahlerfolge der AfD bei den nächsten Landtagswahlen ist die Thematik zu bedeutsam, als dass sie sich für parteipolitische Spielchen zwischen Regierung und der demokratischen Opposition eignet. Parteipolitische Erwägungen, wie beispielsweise der kurzzeitige Ausstieg der CDU/CSU-Fraktion aus den Beratungen, verbieten sich.

Das Bundesverfassungsgericht hat seine Öffentlichkeitsarbeit in den letzten Jahren erheblich ausgebaut und die Bevölkerung über seine Rolle aktiv informiert. Nunmehr sind auch der Bundestag, der Bundesrat und die Bundesregierung gefordert, die Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit der Bevölkerung zu vermitteln. Das 75-jährige Jubiläum des Grundgesetzes ist hierfür ein guter Ausgangspunkt. Die Mehrheit der Bevölkerung unterstützt einer jüngsten