Gesätes Misstrauen
Legitimitätssteigerung durch institutionelle Reform des Wahlprüfungsverfahrens?
Lässt sich die politische Legitimität von Wahlen durch institutionelle Reformen der Wahlprüfung steigern? Das derzeitige System der Wahlprüfung nach Art. 41 GG und dem Wahlprüfungsgesetz ist eine Kombination aus dem überkommenen parlamentarischen Selbstprüfungsrecht des Konstitutionalismus (Abs. 1) und dem Beschwerdemodell (Abs. 2), das eine verfassungsgerichtliche Überprüfung der parlamentarischen Entscheidung ermöglicht. Dieses zweistufige Mischsystem wird immer wieder in Frage gestellt. Der Beitrag konzentriert sich auf zwei zentrale Probleme der aktuellen Struktur (I.), stellt (internationale) Alternativen vor (II.), diskutiert Regelungsvorschläge für die Bundesebene (III.) und schließt mit einer kurzen Stellungnahme (IV.).
I. Probleme der Wahlprüfung unter dem Grundgesetz
Die von Sophie Schönberger beschriebene Strategie der Delegitimierung der Parlamentswahlen trifft in der Wahlprüfung auf zwei Schwachpunkte, die besonders anfällig für solche Anwürfe sind.
1. Es ist ein regelmäßiges Lamento von mit dem Wahlrecht befassten Rechtswissenschaftler*innen, dass die Wahlprüfung des Grundgesetzes wegen der Einbindung zweier Verfassungsorgane ein zu langes und komplexes Verfahren darstellt. Die zeitintensiven Prüfungen könnten zur Frustration von Wähler*innen führen und Transparenz und Legitimität der Wahlprüfung untergraben. Bereits die Organisation der Prüfung im Bundestag ist so organisiert, dass eine Wahlprüfung in substantiierten Fällen mindestens ein Jahr dauern muss: Der Beschluss des Bundestages über einen Einspruch wird vom Wahlprüfungsausschuss vorbereitet, der vom Bundestag für die Dauer einer Wahlperiode gewählt wird. Der Ausschuss wird daher regelmäßig erst nach der Regierungsbildung eingesetzt. Erst dann kann die Wahlprüfung beginnen. Nach Herbstwahlen findet die mündliche Verhandlung vor dem Ausschuss daher frühestens im Frühjahr statt und eine Entscheidung über den im Bundestag zu beschließenden Ausschussantrag wird meist erst nach der parlamentarischen Sommerpause gefällt. Auch das sich anschließende Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht ist kein Schnellläufer. Die Beschwerden werden durch den Zweiten Senat im Senatsverfahren entschieden. Selbst bei einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 48 Abs. 2 BVerfGG) ist das gerichtsinterne Verfahren aufwendig. Die Entscheidung wird durch den Berichterstatter vorbereitet und in der Entscheidungsberatung durch den Senat finalisiert. So kann auch eine A-limine-Verwerfung mehrere Jahre in Anspruch nehmen.
2. Als zentrales Wahlprüfungsorgan macht sich der Bundestag zudem zum Prüfer in eigener Sache. Das damit verknüpfte Problem ist nicht so sehr rechtsstaatlicher als vielmehr funktioneller Natur. Das Parlament ist kein Gericht und agiert auch im Fall der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Wahl nicht als solches. Mit dem funktionellen korrespondiert ein weiteres Problem: Eine Wahlprüfung muss von vermeintlich übervorteilten Wählergruppen als unvoreingenommen wahrgenommen werden, um Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer Wahl zu beseitigen. Auch die gerichtsähnliche, auf die Rechtskontrolle zugeschnittene Vorbereitung der Wahlprüfung durch den Bundestag im Wahlprüfungsausschuss genügt wohl nicht, um im derzeitigen politischen Klima Bedenken gegenüber der Neutralität parlamentarischer Prüfung zu zerstreuen. Entscheidend dürfte vielmehr das Vertrauen der Wähler*innen in die jeweilige Institution und das mitwirkende Personal sein. Bisher hat insbesondere die AfD unbegründete Zweifel etwa bezüglich der Manipulationsanfälligkeit der Briefwahl gesät (dazu hier). Dass die Mitwirkung von AfD-Mandatsträgern bei der Wahlprüfung dazu beiträgt, das Vertrauen in die Wahl und ihre Überprüfung zu stärken, ist angesichts des destruktiven Vorgehens der AfD in der Parlamentsarbeit (dazu hier und hier) unwahrscheinlich. Hinzu tritt das geringe Grundvertrauen gegenüber Politik und Bundestag in der Bevölkerung (zwischen 32% und 49%), das die Wahrnehmung des Bundestages als einer neutralen Instanz bei der Beurteilung des eigenen Zustandekommens nicht befördern dürfte. Nicht zuletzt die derzeitige Wahlprüfung des Bundestages zeigt, dass eine Befriedung des Streits über die Rechtmäßigkeit einer Wahl im Bundestag nicht zu erwarten ist. Bereits vor Abschluss des Ausschussverfahrens streiten Regierungs- und Oppositionsparteien öffentlich über den Antrag des Ausschusses (dazu hier) und rechnen mit dem unumgänglichen Beschwerdeverfahren zum Bundesverfassungsgericht (dazu hier).
II. (Internationale) Alternativkonzeptionen
Das deutsche System der zweistufigen Wahlprüfung stellt zwar keinen internationalen Sonderweg dar; auch Liechtenstein besitzt eine zweistufige Wahlprüfung. International vorherrschend ist jedoch ein einstufiges System. Ein kurzer Blick in die Rechtsvergleichung zeigt zudem, dass die Wahlprüfung nicht notwendig auch dem Parlament zugeschlagen werden muss. Die Tendenz in den althergebrachten parlamentarischen Systemen scheint sogar gegenläufig zu sein: In England, dem Geburtsort des parlamentarischen Wahlprüfungsrechts, ist die Wahlprüfung wegen grassierender Wahlkorruption bereits 1868 speziellen Wahlgerichten übertragen worden, die jeweils einen Einspruch entscheiden und mit Berufsrichtern besetzt sind (sog. election court). Frankreich, das seit dem Zusammentreten der Generalstände 1789 ein parlamentarisches Wahlprüfungsrecht kennt, hat die Wahlprüfung 1958 dem Conseil constitutionnel übertragen. Selbst der Kongress der USA, der in Art. 1 sec. 5 cl. 1 der US-Verfassung als Richter über seine Wahlen eingesetzt wird, hat informell als Wahlprüfer „abgedankt“ und überlässt die Wahlprüfung der jeweiligen Gerichtsbarkeit der Bundesstaaten. Weniger eindeutig ist die Verfassungsrechtslage in den (weiteren) europäischen Staaten: Hier ist die Wahlprüfung entweder allein dem Parlament, selbstständigen, teils mit Parlamentariern besetzten Komitees, speziellen ad-hoc-Gerichten oder den Höchstgerichten übertragen. Fast immer jedoch ist die Prüfung einstufig angelegt.
Die Wahlprüfung in den deutschen Bundesländern entspricht größtenteils der Wahlprüfung auf Bundesebene. In Hessen und Bremen wird abweichend von diesem Modell die Eingangsprüfung nicht durch das Parlament, sondern durch ein sog. Wahlprüfungsgericht vorgenommen (Art. 78 HV, § 37 BremWahlG). Dieses setzt sich in Hessen aus den „zwei höchsten Richtern des Landes“ (die Präsidenten des Verwaltungsgerichtshofs und des Oberlandesgerichts) sowie drei gewählten Mitgliedern des Landtags und in Bremen aus dem Präsidenten und Vizepräsidenten des Verwaltungsgerichts sowie fünf Mitgliedern der Bürgerschaft zusammen. Die Entscheidungen dieser Wahlprüfungsgerichte können durch Beschwerde vor dem Staatsgerichtshof des jeweiligen Landes angegriffen werden. Ein einstufiges Modell existiert nur in Berlin. Dort werden Einsprüche gegen die Gültigkeit einer Wahl vom Verfassungsgerichtshof entschieden.
III. Reformvorschläge
Vor dem Hintergrund der Alternativkonzeptionen bewegen sich auch die Vorschläge zur Reform des deutschen Wahlprüfungsrechts. Allen ist gemeinsam, dass sie den Bundestag als zentrales Wahlprüfungsorgan ablösen wollen. Meist wird damit beabsichtigt, das Verfahren zu verkürzen und seine Legitimation zu stärken.
1. Wahlprüfung durch den Bundespräsidenten
Nach einem Vorschlag von Hans-Detlef Horn sollte die derzeitige parlamentarische Wahlprüfung auf der ersten Stufe dem Staatsoberhaupt übertragen werden. Für diesen Vorschlag wird angeführt, dass dem Bundespräsidenten auch unter dem Grundgesetz in parlamentarischen Krisensituationen eine wichtige Rolle zukommt (vgl. Art. 63 Abs. 4, Art. 68 Abs. 1 GG). Die Wahlprüfung sei mit diesen Befugnissen prinzipiell vergleichbar. Auch müsste bei der Ausübung der Rechte eine Rechtskontrolle erfolgen, so dass die Wahlprüfung sich stimmig in die Kompetenzen des Bundespräsidenten einfüge. Tatsächlich würde eine solche (Verfassungs-)Reform die diskutierten Probleme jedenfalls abschwächen: Die Wahlprüfung wäre einem Organ übertragen, das aus dem Wahlausgang keine unmittelbaren Vorteile ziehen kann. Gleichzeitig leidet eine Prüfung durch den Bundespräsidenten nicht unter Verzögerungen, die aus der Regierungsbildung oder den Abstimmungsprozessen innerhalb eines Kollegialorgans stammen.
Dennoch würde die Wahlprüfung durch den Bundespräsidenten wohl nur die funktionellen Probleme restrukturieren. Die aufwendige Prüfung hunderter Beschwerden und ihrer Substantiiertheit ist nicht zu vergleichen mit der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen oder gar der hochpolitischen Entscheidung über die Auflösung des Bundestages. Die Vielzahl der Verfahren mit unterschiedlichsten tatsächlichen und rechtlichen Fragestellungen dürfte den Amtsträger auch bei einer Aufstockung der Mitarbeiterzahl des Bundespräsidialamtes überbeanspruchen. Wird die Beschwerdemöglichkeit beibehalten, könnte schließlich auch kein fühlbarer Effekt bei der Verfahrenslänge erzielt werden.
2. Wahlprüfung durch das Bundesverfassungsgericht
Von der Literatur wird daher meist gefordert, dem Bundesverfassungsgericht die alleinige Zuständigkeit für die Wahlprüfung zu übertragen. Die erste Stufe der Prüfung durch den Bundestag würde so eliminiert. Zentrale Schwachstellen des derzeitigen Systems wären jedenfalls teilweise behoben, auch wenn die verfassungsgerichtliche Prüfung der Einsprüche sich auch in erster Instanz langwierig gestalten wird. Als parteipolitisch neutrale Instanz könnte das Bundesverfassungsgericht allfälligen Streit über die Rechtmäßigkeit einer Bundestagswahl besser befrieden als der Bundestag. Die zusätzliche Zuständigkeit bedeutete wohl auch nicht zwangsläufig die in der Literatur häufig diskutierte Arbeitsüberlastung des Gerichts. Bisher entscheidet das Bundesverfassungsgericht in einem Bundestagswahljahr bereits zwischen 60 und 80 Wahlprüfungsbeschwerden. Eine Rekordzahl von Einsprüchen wie im Jahr 2021 (2.115 Einsprüche) würde das Bundesverfassungsgericht jedoch außer Tritt bringen. In jedem Fall sollte das Verfahren vor dem Gericht analog zu § 81a bzw. §§ 93a-d BVerfGG ausgestaltet werden. In einer eigenen „Wahlprüfungskammer“ könnten Einsprüche dann ohne mündliche Verhandlung durch Berichterstatter*in im Wahlrecht und zwei weitere Bundesverfassungsrichter*innen hinsichtlich ihrer Zulässigkeit beschieden und ggf. abgelehnt werden. Eine Stattgabe hätte immer durch den Senat zu erfolgen. Auch unter diesen Voraussetzungen bedürfte es zusätzlich einer Aufstockung an Mitteln und Personal.
Mit der Ausschaltung des Bundestages wäre allerdings auch der Wegfall der „Tatsacheninstanz“ verbunden. Das Bundesverfassungsgericht ist grundsätzlich kein Tatsachengericht. Das ist ein nicht unerhebliches Problem, da das Gericht sich bei der Tatsachenermittlung meist auf interne Informationen stützt, die von wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen und nicht in der mündlichen Verhandlung erhoben werden. Eine Ausnahme bildet vor allem das besonders aufwendige und langwierige Parteiverbotsverfahren. Das Beweisantragsrecht und das Recht zur Stellungnahme der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung der Wahlprüfung (§ 6 Abs. 2 und 4 iVm § 7 WahlPrG) liegt daher quer zur Praxis des Bundesverfassungsgerichts. Bei alleiniger Wahlprüfung durch das Gericht müssten daher entweder die genannten Rechte der Beteiligten empfindlich eingeschränkt oder aber die Tatsachenermittlung organisatorisch verselbstständigt werden.
3. Selbstständiges Wahlprüfungsgericht
Schließlich ließe sich für die Wahlprüfung auch ein eigenständiges Wahlprüfungsgericht bilden, das – gleich ob mit oder ohne Beschwerdemöglichkeit zum Bundesverfassungsgericht – an die Stelle des Bundestages treten würde. Unter der Weimarer Reichsverfassung zeichnete ein solches selbstständiges Wahlprüfungsgericht für die Wahlprüfung verantwortlich (Art. 31 WRV). Dieses setzte sich aus drei Mitgliedern des Reichstages und zwei Richtern des Reichsgerichts zusammen. Neben dem ad-hoc-Gericht wurde auch ein Reichsbeauftragter ernannt, der das Verfahren außerhalb der Verhandlungen führte und ebenfalls Ermittlungen anstellen konnte. Mit Richter*innen des Bundesverwaltungs- oder Bundesverfassungsgerichts besetzt könnte ein Wahlprüfungsgericht das Problem der Selbstprüfung beseitigen und evtl. den Prüfungszeitraum verkürzen.
Als ad-hoc-Gericht besäße das organisatorisch selbstständige Gericht allerdings keinen eingespielten Verwaltungsunterbau und Mitarbeitendenstab. Die Arbeitsbelastung der nur für einen bestimmten Zeitraum abgestellten Mitglieder ist kaum abschätzbar. Ein etwaiger Rückgriff auf Ressourcen des Bundestages bedeutete erneut große Nähe zum Prüfungsobjekt. Insbesondere aber könnte die Tätigkeit eines verselbstständigten Wahlprüfungsgerichts zur Gefahr einer Spaltung der verfassungsrechtlichen Auslegung von Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG führen. Ein vergleichbares Problem ergibt sich auch bei der Einsetzung des Bundesverwaltungsgerichts als Wahlprüfungsgericht. Selbst bei einer Besetzung des Wahlprüfungsgerichts mit Verfassungsrichter*innen, die für das Wahlrecht zuständig sind, begründete die Herauslösung der individuellen Richter*innen aus dem Senat eine sonst unübliche Eigenzuständigkeit im Wahlrecht.
IV. Änderungsbedarf?
Das zweistufige System der Wahlprüfung ist getragen von politischen Erwägungen, die nicht mehr verfangen: Die Wahlprüfung gehört nicht notwendig zur Parlamentsautonomie, die Gefahr des politischen Missbrauchs der Wahlprüfung wird mittlerweile durch eine Parlamentsprüfung eher gesteigert und die Eigenschaft des Bundestages als „Hauptorgan des Staates“ (so der Abgeordnete des Parlamentarischen Rates Josef Schwalber) verlangt nicht zwangsweise auch die Übertragung der Wahlprüfung. Eine institutionelle Reform der Wahlprüfung scheint daher angezeigt. Eine vorzugswürdige Regelung drängt sich allerdings nicht auf. Die Reformvorschläge bringen eigene, teils schwerwiegende Probleme mit sich. Am vielversprechendsten scheint die Übertragung einer einstufigen Wahlprüfung auf das Bundesverfassungsgericht, die ergänzt werden könnte mit einer Tatsachenermittlung etwa durch beauftragte Richter, einen Bundesbeauftragten als Hilfsorgan oder den Bundeswahlleiter. Dennoch bliebe die einstufige Wahlprüfung durch das Bundesverfassungsgericht ein Systembruch. Auch ohne größere Reform und insbesondere ohne Verfassungsänderung könnte aber bereits jetzt die Arbeitslast der Wahlprüfung reduziert werden: Es bedarf einer Kammerzuständigkeit für das Verwerfen unzulässiger und offensichtlich unbegründeter Wahlprüfungsbeschwerden zur Entlastung des Bundesverfassungsgerichts.
Letztlich bleibt fraglich, ob selbst weitreichende institutionelle Reformen ein wirksames Mittel gegen systematisch gesäte Zweifel an der Rechtmäßigkeit von Wahlen darstellen. Als politische Strategie lässt sich die Behauptung von Wahlfälschung und Korruption bei der Wahlprüfung grundsätzlich gegen alle Institutionen erheben. In das Bundesverfassungsgericht wird zwar ein besonders hohes Vertrauen gesetzt (zuletzt 76% der Bevölkerung). Jüngere Vorfälle zeigen aber, wie sensibel dieses Vertrauen bereits für vermeintliche Anzeichen einer vorgeblichen Neutralitätsverletzung sind. Essentiell wären daher Maßnahmen, die der politischen Strategie der Delegitimierung als solcher wirksam begegnen. Dazu zählt auch ein effektives Vorgehen gegen wahlbezogene Falschnachrichten (siehe etwa hier).
In einer früheren Version dieses Artikels war ein Faktenfehler enthalten: als Beispiel für ein zweistufiges Wahlprüfungssystem wurde Luxemburg angeführt; es muss Liechtenstein heißen. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen.